Arbeitgeber können Beweiswert ausländischer AU-Bescheinigungen erschüttern

Krankschreibung

Krank ist krank – dagegen können Arbeitgeber wenig ausrichten. Diese Einschätzung hielt sich lange Zeit. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bricht diese starre Sichtweise zunehmend auf. In einer aktuellen Entscheidung vom 15. Januar 2025  (5 AZR 284/24) hat das BAG über den Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entschieden. Mit dem Urteil bekräftigten die BAG-Richter die Einschätzung, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom Arbeitgeber nicht nur durch einzelne Tatsachen widerlegt werden kann. Vielmehr können auch mehrere – für sich genommen nicht ausreichende – Tatsachen gemeinsam in der Gesamtschau ernstliche Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen und so dem Arbeitgeber zum Erfolg verhelfen.

Arzt in Tunesien schrieb Arbeitnehmer krank

Ein als Lagermitarbeiter beschäftigter Arbeitnehmer verklagte seinen Arbeitgeber auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Dem ging ein Tunesienurlaub des Arbeitnehmers voraus. Zwei Tage vor Ende des beantragten Urlaubs meldete sich der Mitarbeiter aus dem Urlaub krank und legte seinem Arbeitgeber per E-Mail das Attest eines tunesischen Arztes – inklusive Reiseverbot – vor. Ausweislich der Bescheinigung wurde der Arbeitnehmer vom Arzt in Tunesien für 24 Tage krankgeschrieben. Eine Wiedervorstellung während dieser Zeit ordnete der Arzt nicht an. Bereits einen Tag nach Einholung des Attests buchte der Mitarbeiter sein Fährticket für die Rückreise. Deren Datum lag wiederum kurz vor Ende des Krankschreibungszeitraums.

Dem Arbeitgeber kamen Zweifel an der Krankschreibung und hat deshalb die Entgeltfortzahlung eingestellt. Nicht zuletzt deshalb, weil der Arbeitnehmer bereits in früheren Jahren im Zusammenhang mit Urlaub erkrankte. Nach verweigerter Entgeltfortzahlung für den vom Arzt in Tunesien attestierten Zeitraum erhob der Arbeitnehmer Zahlungsklage.

BAG hebt Urteil des LAG München auf

Das Landesarbeitsgericht (LAG) München hatte dem Arbeitnehmer Recht gegeben. Ausgehend vom grundsätzlich hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung prüfte das LAG sorgfältig jeden einzelnen Einwand des Arbeitgebers. Jeweils für sich genommen kam es dabei zu dem Ergebnis, dass die Bedenken des Arbeitgebers gegen die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht durchgreifen. So wäre eine Erkrankung am Ende des Urlaubs genauso plausibel wie am Anfang des Urlaubs. Auch die ungewöhnlich lange Dauer der Krankschreibung für sogleich 24 Kalendertage genügte dem LAG für eine Erschütterung des Beweiswerts der vom Kläger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht (9 Sa 538/23).

Gesamtbetrachtung aller Umstände

Das BAG teilte diese Auffassung nicht. Nach Ansicht der Erfurter Richter hatte sich das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft auf eine Prüfung der jeweils einzelnen Aspekte beschränkt. So wurden die 24-tägige Dauer im Attest, die unterbliebene Wiedervorstellung, die vorzeitige Buchung der Rückreise mit der Fähre und die bereits in drei früheren Jahren im Zusammenhang mit Urlaub eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom Landesarbeitsgericht lediglich isoliert geprüft. Das BAG stellte hingegen klar, dass eine Gesamtwürdigung rechtlich geboten sei. Auch wenn die einzelnen Gegebenheiten für sich genommen unverfänglich gewesen seien, hätte das Berufungsgericht in diesem Fall prüfen müssen, ob in einer Gesamtschau aller Einzeltatsachen der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert worden wäre. Die Richter am BAG nahmen diese Gesamtschau vor und kamen zu genau dieser Einschätzung.

Wegen der Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus Tunesien geht der Fall vermutlich schon bald in eine weitere Runde. Die Beweislast liegt dann erneut beim Arbeitnehmer. Jener hat in einer zweiten Verhandlung vor dem LAG München die Möglichkeit – aber auch die Pflicht – anderweitig seine Arbeitsunfähigkeit während des Urlaubs in Tunesien zu beweisen (zum Beispiel durch das Angebot des tunesischen Arztes als Zeuge). Gelingt ihm das nicht, wird die Zahlungsklage endgültig abgewiesen.

Beweislast liegt beim Arbeitnehmer

Gemäß Paragraf 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn der Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

Für die anspruchsbegründenden Tatsachen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung trägt der Arbeitnehmer nach allgemeinen prozessualen Regeln die Darlegungs- und Beweislast. Das heißt insbesondere, dass der Arbeitnehmer darlegen und im Zweifel beweisen muss, dass er

  • krank und
  • arbeitsunfähig war und dass
  • gerade die Krankheit zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat.

Der Beweislast kommt der Arbeitnehmer regelmäßig durch die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beziehungsweise durch ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nach, Paragraf 5 EFZG. Kommt es zum Streit der Arbeitsvertragsparteien über den Entgeltfortzahlungsanspruch und erhebt der Arbeitnehmer Zahlungsklage beim Arbeitsgericht, legt der Arbeitnehmer als Beweismittel die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (das ärztliche Attest) der Klage bei. Dem ärztlichen Attest kommt dabei im Ausgangspunkt ein hoher (Beweis-)Wert zu. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts ist die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit das wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit (5 AZR 29/24).

Hinsichtlich des Beweiswerts ist jedoch – zumindest punktuell – zwischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen inländischer Ärzte, von Ärzten aus dem EU-Ausland und Ärzten aus dem Nicht-EU-Ausland zu unterscheiden:

1. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen inländischer Ärzte

Legt der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die von einem Arzt mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland ordnungsgemäß ausgestellt wurde, vor, kann sich der Arbeitgeber dagegen verteidigen. Hierzu genügt es jedoch nicht, wenn der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit „mit Nichtwissen“ nach Paragraf 138 Absatz 4 Zivilprozessordnung (ZPO) bestreitet. Der Arbeitgeber muss den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vielmehr „erschüttern“. Erschüttern bedeutet zwar nicht, dass der Arbeitgeber das Gegenteil vollständig beweisen muss. Er hat jedoch tatsächliche Umstände darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt (5 AZR 149/21).

Bei den sogenannten Erschütterungstatsachen ist Kreativität gefragt. HR-Verantwortliche dürfen sich durchaus auf ihr Bauchgefühl verlassen und vorbringen, was ihnen merkwürdig vorkommt. Der Gesetzgeber hat sogar selbst – im Zusammenhang mit der Begutachtung von Versicherten durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen bei Zweifeln am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit – Umstände festgelegt, die von Arbeitgebern zur Erschütterung angeführt werden können. Gemäß Paragraf 275 Absatz 1a Sozialgesetzbuch (SGB) V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit anzunehmen, wenn

  • Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder
  • der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder
  • die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.

Nach der Rechtsprechung und arbeitsrechtlichen Literatur können sich Arbeitgeber zum Beispiel auch auf folgende Erschütterungstatsachen berufen:

  • Krankschreibung nach Auseinandersetzung über Urlaubsgewährung beziehungsweise Urlaubsverweigerung;
  • widersprüchliche Angaben des Arbeitnehmers zur Erkrankung (zum Beispiel bei einem Unfall);
  • genesungswidriges Verhalten des Arbeitnehmers (zum Beispiel Rauchen bei Lungenerkrankung);
  • Rückdatierung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.

2. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von Ärzten aus dem EU-Ausland

Besonderheiten gelten für den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem EU-Ausland. Diesen Attesten kommt ein besonders hoher Beweiswert zu. Aus Arbeitgebersicht ist der Maßstab strenger, Arbeitnehmer haben es mit diesen Bescheinigungen etwas leichter.

Hintergrund ist die europarechtliche Regelung in Artikel 27 Absatz 1 bis Absatz 3 Verordnung (EG) Nr. 987/2009. Diese Bestimmung hat zur Folge, dass es nicht ausreicht, wenn der Arbeitgeber den Beweiswert der vom Arzt im EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur erschüttert. Vielmehr muss der Arbeitgeber den Nachweis, das heißt den Vollbeweis dafür führen, dass der Arbeitnehmer rechtsmissbräuchlich beziehungsweise betrügerisch gehandelt hat.


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3. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von Ärzten aus dem Nicht-EU-Ausland

Für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus dem Nicht-EU-Ausland gelten wiederum die oben dargestellten Grundsätze, die zu inländischen Attesten entwickelt wurden. Der im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt also der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zu. Einzige – zusätzliche – Voraussetzung ist, dass der Arzt im Ausland zwischen der bloßen Erkrankung einerseits und der mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit andererseits unterschieden hat. Diese Differenzierung zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit muss laut BAG-Urteil vom BAG vom 19. Februrar 1997 ((5 AZR 83/96) aus der Bescheinigung erkennbar sein

Der Arbeitgeber kann – wie im aktuellen Fall – den Beweiswert erschüttern. Dies gelingt ihm nicht nur dann, wenn er eine einzelne, besonders schwerwiegende „Erschütterungstatsache“ vorträgt, die den Beweiswert widerlegt. Vielmehr muss das Arbeitsgericht bei mehreren Tatsachen neben einer Einzelbewertung auch eine Gesamtbetrachtung vornehmen.

Zweifelstatsachen nachgehen

Die jüngsten Entscheidungen aus Erfurt zu Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sollten Arbeitgebern Mut machen, nicht jede Bescheinigung beanstandungsfrei zu akzeptieren. Nachfragen lohnt sich. Dies gilt auch bei Bescheinigungen aus dem Ausland.

Personalverantwortliche sollten sich bei Störgefühlen nicht davon abhalten lassen, die Umstände des Falles genauer zu beleuchten. Das neueste Urteil des BAG belohnt die Fleißigen. Wer viele Anhaltspunkte für Zweifel am Bestehen der Krankheit aufklärt und diese Tatsachen dem Arbeitnehmer entgegenhält, hat realistische Chancen auf einen Erfolg bei Gericht. Auch wenn aus Arbeitgebersicht weiterhin besonders drastische Anhaltspunkte für ein Nichtvorliegen der Arbeitsunfähigkeit den Erfolg im Zahlungsprozess besonders wahrscheinlich machen, sollte auch kleineren – für sich genommen weniger erheblichen – Zweifelstatsachen nachgegangen werden. Durch die vom BAG geforderte Gesamtabwägung können am Ende auch viele kleinere Zweifel den Beweiswert der (im Ausland) ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern.

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Michael Riedel

Michael Riedel ist Partner, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei ADVANT Beiten in Berlin. Er berät auf Arbeitgeberseite umfassend im Individual- und Kollektivarbeitsrecht mit besonderem Augenmerk auf Einrichtungen des Gesundheitswesens.

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