Arbeitnehmende müssen Dienst-SMS nicht in der Freizeit lesen

Urteil

Die Vielfalt der Kommunikationsmöglichkeiten hat manches modernisiert und vereinfacht, ebenso verkürzt und beschleunigt. Arbeitszeitgrenzen verschieben sich, wie zum Beispiel die Frage, ob das Lesen von E-Mails in der Freizeit Arbeitszeit ist. Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein hat das bejaht – nun auch für eine SMS (1 Sa 39 öD/22), mit der die Arbeitgeberin über den Beginn der Arbeitszeit informiert hatte. Das Urteil verneint jegliche Erreichbarkeit in der Freizeit und zeigt darüber hinaus Zustellprobleme bei neuen Medien auf.

Der Fall

Der Kläger ist als Notfallsanitäter vollzeitbeschäftigt. Im Betrieb gilt eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit, die detailliert die Dienstplangestaltung und Änderungen am Dienstplan regelt. Der Dienstplan war nicht über das Internet einsehbar. Bei eingeplanten sogenannten unkonkreten Springerdiensten, das heißt solchen, für die zunächst nur ein Zeitkorridor festgelegt war, war die beklagte Arbeitgeberin berechtigt, den genauen Beginn des Dienstes bis 20 Uhr des Vortags zu konkretisieren. Hiervon machte sie dem Kläger gegenüber Gebrauch und teilte ihm an arbeitsfreien Tagen einmal um 13:20 Uhr und einmal um 9:15 Uhr des Vortages als konkreten Dienstbeginn 6:00 Uhr bzw. 6:30 Uhr für den Folgetag mit. Da sie den Kläger indes nicht persönlich telefonisch erreichte, schrieb sie ihm in beiden Fällen eine SMS, im zweiten Fall auch eine E-Mail. Der Kläger nahm diese nicht zur Kenntnis, sondern meldete sich jeweils erst um 7:30 Uhr zum Dienst, was ohne die Konkretisierung in Ordnung gewesen wäre. Über die von der Beklagten deswegen ausgesprochene Ermahnung (im 2. Fall Abmahnung) und den Vorwurf unentschuldigten Fehlens sowie gebuchte Minusstunden auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers kam es zum Streit. Der Kläger begehrte Gutschrift der abgezogenen Minusstunden sowie Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte.

Entscheidung

Beim Arbeitsgericht Elmshorn unterlag der Kläger: Er müsse sich aufgrund einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht nach dem Beginn seines Dienstes erkundigen und könne sich nicht darauf berufen, von der Dienstplanänderung keine Kenntnis gehabt zu haben. Demgegenüber hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein eine solche Pflicht verneint und der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Die Beklagte habe nicht nachgewiesen, dass ihre Mitteilungen über die Änderung des Dienstplans dem Kläger zugegangen seien. Zwar seien Einrichtungen wie Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder Anrufbeantworter zur Entgegennahme von Erklärungen bereitgehaltene Einrichtungen. Der Zugang dort sei erfolgt, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten sei. Unstreitig habe die Beklagte den Kläger telefonisch nicht erreicht. Zum Zugang der E-Mail ist dem Urteil nichts zu entnehmen. Für zugegangen hielt das Landesarbeitsgericht die SMS; es gehe davon aus, dass diese auf dem Handy des Klägers eingegangen seien, andernfalls hätte die Beklagte einen Hinweis auf die fehlende Zustellbarkeit erhalten. Der Kläger habe eingeräumt, dass bestimmte SMS bei ihm von vornherein in einen Ordner sortiert werden, den er dann gelegentlich lösche; möglicherweise sei dies auch bei den SMS der Beklagten so gewesen.

Die Beklagte habe aber nicht vor 7:30 Uhr des jeweiligen Folgetages mit der Kenntnisnahme der SMS durch den Kläger rechnen dürfen. Dieser sei nicht verpflichtet, während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen. Das Lesen einer SMS, mit der der Arbeitgeber sein Direktionsrecht im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung konkretisiere, sei Arbeitszeit. Ein Arbeitnehmer erbringe damit eine Arbeitsleistung im Sinne von § 611a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch. Darunter fielen auch solche Tätigkeiten, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihre Erbringung unmittelbar zusammenhängen. Die Arbeitsleistung setze in dem Moment ein, in dem der Arbeitnehmende eigene Bemühungen anstellen müsse (hier: Aufrufen der SMS und Lesen des Inhalts/Einblick in den Dienstplan im Internet).

In seiner Freizeit stehe dem Kläger ein Recht auf Unerreichbarkeit zu. Dieses Recht auf Nichterreichbarkeit diene neben der Sicherung des Gesundheitsschutzes durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten auch dem Persönlichkeitsschutz der Arbeitnehmenden. Es gehöre zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, für sich zu entscheiden, für wen man in der Freizeit erreichbar sein wolle oder für wen nicht. Der minimale Zeitaufwand, der mit dem Aufrufen und Lesen eine SMS verbunden ist, stehe dem nicht entgegen. Der Kläger sei erst um 7:30 Uhr verpflichtet gewesen, seiner Arbeit nachzugehen, wozu auch die in seiner Freizeit bei ihm eingegangenen dienstlichen Nachrichten des Arbeitgebers gehörten.

Praxisfolgen

Arbeitgebende müssen sich bewusst sein, dass für ein Arbeitsverhältnis rechtlich relevante Erklärungen wie hier die Ausübung des Weisungsrechts zur Konkretisierung des Arbeitszeitbeginns erst dann zugegangen sind, wenn den Arbeitnehmenden die Kenntnisnahme möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist.

Das ist als solches nicht neu. Indes reduziert dieses Urteil die Erwartung praktisch auf null, indem es schon die Kenntnisnahme geringster dienstlicher Weisungen als Teil der Arbeitsleistung selbst wertet. Der daraus gezogene Schluss, vor Beginn der Arbeitszeit nichts das Arbeitsverhältnis Betreffendes zur Kenntnis nehmen zu müssen, erscheint dann zwar folgerichtig. Überzeugend ist das trotzdem nicht. Schon von der Begrifflichkeit her erscheint eine Kenntnisnahme als etwas anderes als das Leisten von Arbeit. Überdies hängt dann die tatsächliche Kenntnisnahme von dem Zufall ab, ob und wann Arbeitnehmende Informationen des Arbeitgebenden zur Kenntnis nehmen (wollen). Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesarbeitsgericht sich der Würdigung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein anschließt; gegen das Kieler Urteil ist dort Revision eingelegt.

Dennoch wird sich die Praxis jedenfalls fürs erste auf diese streng wirkende Entscheidung einstellen und bei allen Planungen genug Zeit einkalkulieren müssen, um eine tatsächliche Kenntnisnahme durch Arbeitnehmende abzusichern – und obendrein im Streitfall auch beweisen zu können. Trotz aller neuen Kommunikationsmöglichkeiten ist hier das persönliche Gespräch weiterhin am besten und sichersten. Leider ist selbst das nicht mehr sicher; das Landesarbeitsgericht hält es zumindest für denkbar, dass schon die bloße Entgegennahme eines Telefonats oder einer mündlichen Weisung gegen das Recht auf Unerreichbarkeit verstoßen könne, auf das sich auch das Landesarbeitsgericht Thüringen (6 Sa 442/17) zur Begründung seiner Entscheidung gestützt hat, wonach Arbeitgebende keinen Anspruch auf Mitteilung der privaten Mobiltelefonnummer ihrer Arbeitnehmenden haben.

Weitere Beiträge zum Thema:

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Axel J Klasen, Foto: Privat

Axel J. Klasen

Axel J. Klasen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei GvW Graf von Westphalen.

Weitere Artikel