Die Rücksichtnahme auf den Urlaub des Arbeitnehmers hat sich für einen Arbeitgeber fatal ausgewirkt. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 12. Dezember 2024 (Az. 12 Sa 25/24) entschieden, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zu einem Verdacht einer schwerwiegenden Vertragsverletzung auch während seines Urlaubs anhören muss, um die Zwei-Wochen-Frist nach Paragraf 626 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) wahren zu können. Die Gelegenheit, den eigentlich unkündbaren Arbeitnehmer wegen sexueller Belästigung beziehungsweise eines entsprechenden Verdachts fristlos zu kündigen, konnte der Arbeitgeber also nicht nutzen. Er muss den Arbeitnehmer weiterbeschäftigen.
1. Der Fall: Arbeitgeber schiebt Anhörung zum Vorwurf der sexuellen Belästigung wegen Urlaub des Arbeitnehmers hinaus.
Der beklagte Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis eines Zugchefs außerordentlich, nachdem diesem eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorgeworfen wurde. Der Vorfall soll sich am 24. April 2023 ereignet haben; der Arbeitgeber erlangte davon am 27. April 2023 Kenntnis. Der Kläger befand sich jedoch ab dem 25.04.2023 bis zum einschließlich 21. Mai 2023 im Urlaub. Am 22. Mai 2023 unterrichtete der Arbeitgeber ihn über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und bot eine persönliche Anhörung am Folgetag an. Der Kläger bat um eine Fristverlängerung zur Stellungnahme bis zum 30. Mai 2023, und wies dann die Vorwürfe mit Schreiben vom 26. Mai 2023 inhaltlich zurück. Die Kündigung wurde am 6. Juni 2023 ausgesprochen.
Mit seiner Kündigungsschutzklage machte der Kläger unter anderem geltend, dass die Ausschlussfrist gemäß Paragraf 626 Absatz 2 Satz 1 BGB (zwei Wochen ab Kenntnis der für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen) versäumt worden sei, da die Anhörung nicht unverzüglich erfolgt
2. Das Urteil: Versäumnis der Zwei-Wochen-Frist
Das Landesarbeitsgericht entschied, dass die außerordentliche Kündigung unwirksam sei. Der ansonsten unkündbare Kläger ist somit weiterzubeschäftigen. Das Gericht folgte dem Kläger und stellte maßgeblich auf ein Versäumnis der Zwei-Wochen-Frist des Paragraf626 Absatz 2 BGB ab. Es betonte insbesondere Folgendes:
a) Beginn der Zwei-Wochen-Frist:
Die Frist, die sowohl für eine Tat- wie auch für eine Verdachtskündigung gilt, beginnt grundsätzlich mit dem Zeitpunkt, zu dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt. Zu diesen Tatsachen gehören auch die für den Arbeitnehmer sprechenden Umstände. Diese Kenntnis lag hier aber im Wesentlichen unstreitig schon am 27. April 2023 vor.
b) Pflicht zur unverzüglichen Anhörung:
Liegt ein schwerwiegender Verdacht gegen einen Arbeitnehmer vor, der eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen könnte, ist bekanntermaßen eine sogar fristlose Kündigung schon aufgrund des Verdachts zulässig, ohne dass eine Vertragspflichtverletzung konkret nachgewiesen sein müsste (dann Tatkündigung). Da bei einer Verdachtskündigung in besonderem Maße die Gefahr besteht, dass der Arbeitnehmer zu Unrecht beschuldigt wird, ist jedoch seine ordnungsgemäße Anhörung vor Erklärung der Kündigung zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung.
Diese Anhörung muss grundsätzlich innerhalb der Zwei-Wochen-Frist stattfinden. Das LAG Baden-Württemberg stellte klar, dass die Frist zur Kündigung nicht allein deshalb gehemmt wird, weil die Anhörung wegen der Abwesenheit des Arbeitnehmers, wie zum Beispiel im konkreten Fall wegen Urlaubs oder bei Krankheit, erschwert wird oder nicht durchführbar scheint. Dies gilt nicht nur für den Fall einer Anhörung für eine Verdachtskündigung, sondern auch für die Tatkündigung, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer freiwillig noch anhören möchte, um zu seinen Gunsten nach ihn entlastenden Umständen zu fragen.
Das LAG Baden-Württemberg bestätigte die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass der Arbeitgeber zur Wahrung der Kündigungserklärungsfrist nach Paragraf 626 Absatz2 BGB gehalten gewesen wäre, den Arbeitnehmer noch im laufenden Urlaub zu kontaktieren, um ihm Gelegenheit zu geben, hinreichend zeitnah zu den Vorwürfen der sexuellen Belästigung Stellung zu nehmen und aus seiner Sicht relevante Entlastungstatsachen vorzutragen. Keinesfalls durfte die Beklagte bis zur Urlaubsrückkehr des Klägers am 22. Mai 2023 warten, um ihn für den Folgetag zu einem Personalgespräch zu bitten.
Von dem Arbeitgeber sei zu fordern, dass er den Arbeitnehmer auch im Urlaub unverzüglich schriftlich oder telefonisch kontaktiert, ihn mit den Vorwürfen beziehungsweise dem Verdacht konfrontiert und anfragt, ob er auch während des Urlaubs für eine schriftliche Stellungnahme oder für eine Anhörung in einem Personalgespräch zur Verfügung stehe. Im vorliegenden Fall, so das LAG Baden-Württemberg, hätte also die Beklagte ein Anhörungsschreiben schon am 28. April 2023 mit einer Stellungnahmefrist von einer Woche in den Briefkasten einlegen können.
c) Kein Hinausschieben der Frist durch verspätete Anhörung:
Ein Abwarten bis zur Rückkehr des Arbeitnehmers aus dem Urlaub kann also die Frist nicht verlängern, wenn der Arbeitgeber gänzlich untätig bleibt. Die Verzögerung der Anhörung war vorliegend nicht gerechtfertigt. Soll der Arbeitnehmer angehört werden, muss dies laut BAG-Urteil vom 2. März 2006 (Az. 2 AZR 46/05) grundsätzlich innerhalb einer kurzen Frist von einer Woche erfolgen, wobei diese Befragung des Arbeitnehmers grundsätzlich innerhalb der 2-Wochen-Frist abgeschlossen sein muss. Sie darf nur bei Vorliegen besonderer Umstände überschritten, was dann ausnahmsweise auch eine Überschreitung der 2-Wochen-Frist rechtfertigen kann. Solche besonderen Umstände konnte das LAG Baden-Württemberg aber nicht schon darin erkennen, dass der Arbeitnehmer sich im Urlaub befand.
Das LAG Baden-Württemberg zieht eine Parallele zu dem Urteil des LAG Düsseldorf vom 18. Juni 2019 (3 Sa 1077/18), das die gleichen Grundsätze für den Fall einer Erkrankung aufgestellt hat: Der Arbeitgeber ist auch bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers gehalten, den Anhörungsprozess umgehend durch Einladung zum Personalgespräch oder schriftliche Anhörung einzuleiten beziehungsweise fortzuführen und damit zumindest zu klären, ob und welche Hindernisse arbeitnehmerseitig bestehen beziehungsweise mitgeteilt werden. Unternimmt ein Arbeitgeber während einer zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeitsphase des Mitarbeiters nicht einmal den Versuch einer Kontaktaufnahme zur Einleitung einer Anhörung, ist eine nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit und erst dann erfolgter Anhörung ausgesprochene außerordentliche Verdachts- und Tatkündigung verfristet und damit unwirksam.
Das LAG Baden-Württemberg ließ den Einwand der Beklagten nicht gelten, dass gegen eine Verpflichtung des Arbeitgebers, eine Anhörung auch während des Urlaubs des Arbeitnehmers wenigstens versuchen zu müssen, der besondere Erholungszweck des Urlaubs und damit das arbeitsvertragliche Rücksichtnahmegebot spreche.
Das LAG Baden-Württemberg nimmt nämlich an, dass der Arbeitnehmer, der von einem schwerwiegenden Vorwurf betroffen ist, ein erhöhtes Aufklärungsinteresse mit dem Ziel seiner Entlastung haben könnte. Eine schnelle eigene Stellungnahme sei gerade mit Blick auf die dann noch frische Erinnerung des Arbeitnehmers, aber auch die Erinnerung von Entlastungszeugen an die Vorkommnisse in seinem Interesse. Der Arbeitnehmer soll entscheiden können, ob er diese Gelegenheit sofort nutzt. Der Arbeitgeber jedenfalls dürfe sich diese Entscheidung nicht selbst anmaßen.
3. Empfehlung:
Die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg ist noch nicht rechtskräftig, Revision wurde unter dem Aktenzeichen2 AZR 55/25 beim BAG eingelegt. Diese Entscheidung sollten HR-Verantwortliche aber kennen und sicherheitshalber beherzigen, wenn ein schwerwiegender Kündigungssachverhalt kurz vor oder während des Urlaubs eines Mitarbeiters bekannt wird. Es gilt auch dann, schnell zu handeln, um die Möglichkeit für eine fristlose Kündigung nicht zu versäumen. Eine Rücksichtnahme auf den Urlaubsgenuss des Mitarbeiters ist nicht anzuraten. Dies ist von entscheidender Bedeutung insbesondere für die Verdachtskündigung, bei der eine ordnungsgemäße und zügige Anhörung Wirksamkeitsvoraussetzung ist. Aber auch das häufig anzutreffende bewusste Hinauszögern des Laufes der Zwei-Wochen-Frist bei Tatkündigungen durch eine angeblich noch erforderliche Anhörung des zu Kündigenden, kann in einer solchen Konstellation misslingen.