Arbeitgeber sind verpflichtet „dem Arbeitnehmer (…) eine Abrechnung in Textform zu erteilen“, so heißt es in Paragraf 108 Absatz 1 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO). In der Praxis werden Gehaltsabrechnungen immer öfter verschlüsselt in einem Onlineportal zum Abruf bereitgestellt, aus dem sich die Beschäftigen ihre Gehaltsabrechnung selbst abrufen und ausdrucken können. Nach einem schon etwas älteren Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Hamm (2 Sa 179/21) und jüngst des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (9 Sa 575/23) war mit dieser Praxis die Gehaltsabrechnung jedoch nicht im Sinne des Gesetzes „erteilt“. Das hat das Bundesarbeitsgericht jetzt anders entschieden.
Sachverhalt
Die Klägerin ist Verkäuferin in einem Einzelhandelsbetrieb. 2021 kam es zu einer Konzernbetriebsvereinbarung, die die Einführung eines digitalen Mitarbeiterpostfachs regelte. Danach sollten künftig über einen externen Anbieter alle Personaldokumente in einem digitalen Mitarbeiterpostfach mehrsprachig bereitgestellt werden. Jeder Arbeitnehmer erhielt von diesem externen Anbieter einen Login mit individuellen Zugangsdaten, sodass die Dokumente online abrufbar waren. Der Versand von Papierdokumenten wurde nach einer neunmonatigen Übergangsfrist vollständig eingestellt. Soweit einzelne Arbeitnehmer keine Möglichkeit eines Zugriffs auf dieses Mitarbeiterpostfach über ein privates Endgerät hatten, war der Arbeitgeber verpflichtet, Einsicht und Ausdruck dieser Unterlagen zu ermöglichen. Die Klägerin widersprach der Erteilung der Gehaltsabrechnung über das digitale Mitarbeiterpostfach und forderte – per E-Mail – von der beklagten Arbeitgeberin, ihr die Gehaltsabrechnungen auch nach Ablauf der Übergangsfrist weiter per Post zukommen zu lassen. Im digitalen Mitarbeiterpostfach seien ihr die Abrechnungen nicht erteilt worden, überdies seien die entsprechenden Regelungen in der Konzernbetriebsvereinbarung unwirksam und ungeeignet, ihr fehlendes Einverständnis zu ersetzen. Die Beklagte meinte, angesichts der Konzernbetriebsvereinbarung bedürfe es keines Einverständnisses der Klägerin. Die Gehaltsabrechnungen seien abrufbar; überdies könne die Klägerin sie in der Verkaufsfiliale während der Arbeitszeit über einen zur Verfügung stehenden PC abrufen.
Die Instanzen der Entscheidung
Das Arbeitsgericht Braunschweig hatte einen Anspruch der Klägerin auf Übersendung ihrer Entgeltabrechnungen in Papierform verneint. Nach Paragraf 108 Absatz 1 Satz 1 GewO sei die Abrechnung in Textform zu erteilen. Das Einstellen der Entgeltabrechnungen im digitalen Mitarbeiterpostfach wahre die in Paragraf 126b BGB geregelte Textform. Mittels ihrer Zugangsdaten, die einem Briefkastenschlüssel vergleichbar seien, könne die Klägerin vom Inhalt dieses Mitarbeiterpostfachs Kenntnis erlangen. Damit sei die jeweilige Gehaltsabrechnung erteilt. Indem die Klägerin mit der Beklagten per E-Mail kommuniziert hat, habe sie auch konkludent ihr Einverständnis mit dem Empfang elektronischer Erklärungen erteilt.
Beim LAG Niedersachsen war die Berufung der Klägerin erfolgreich: Mit dem Einstellen von Gehaltsabrechnungen im digitalen Mitarbeiterpostfach seien diese nicht erteilt. Gehaltsabrechnungen sollen Arbeitnehmer in die Lage versetzen, Berechnung und Bezahlung ihres Entgelts nachvollziehen zu können. Daher reiche ein Einstellen der Gehaltsabrechnung nicht, diese müsse dem Arbeitnehmer auch zugehen. Zugang sei nach Paragraf 130 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegeben, wenn die Gehaltsabrechnung so in den Machtbereich des Arbeitnehmers gelangt ist, dass dieser die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat – auf tatsächliche Kenntnisnahme komme es nicht an. Das digitale Mitarbeiterpostfach sei nur dann eine geeignete Empfangsvorrichtung, wenn der Arbeitnehmer sie für den Empfang von Willenserklärungen im Rechts- und Geschäftsverkehr bestimmt habe. Ansonsten müsse der Arbeitnehmer nicht damit rechnen, dass ihm Gehaltsabrechnungen digital übermittelt werden. Auch wenn die Zugangsdaten mit einem Briefkastenschlüssel für einen vom Empfänger zur Verfügung gestellten Briefkasten vergleichbar sein können, ersetze dies nicht das Einverständnis des Arbeitnehmers mit der Empfangsvorrichtung „digitales Mitarbeiterpostfach“.
Die dagegen gerichtete Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) war erfolgreich. Das Einstellen einer Gehaltsabrechnung in ein digitales Mitarbeiterpostfach wahrt nicht nur die in Paragraf 108 Absatz 1 Satz 1 GewO vorgeschriebene Textform, sondern sei auch für das „erteilen“ im Sinne der Vorschrift ausreichend. Arbeitgeber sind nicht für den Zugang der Abrechnung beim Arbeitnehmer verantwortlich, weil es sich bei der Gehaltsabrechnung um eine Holschuld des Arbeitnehmers handelt. Berechtigten Interessen von Beschäftigten, die privat über keine Möglichkeit eines Online-Zugriffs verfügen, hätten Arbeitgeber allerdings Rechnung zu tragen. Die verfahrensgegenständliche Konzernbetriebsvereinbarung greife im Rahmen des Paragrafen 87 Absatz 1 Nr. 6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) nicht unverhältnismäßig in die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer ein. Ob im konkreten Fall der Konzernbetriebsrat für den Abschluss dieser Betriebsvereinbarung zuständig war, konnte das BAG auf Basis des Sachstands nicht beurteilen, deshalb hat es nicht selbst abschließend entschieden, sondern den Rechtsstreit an das LAG Niedersachsen zurückverwiesen, das diesen Aspekt des Falles noch klären muss.
Praxisfolgen
Bislang liegt dieses BAG-Urteil nur als Pressemitteilung vor. Im Ergebnis ist es auf jeden Fall positiv, stellt es doch klar, dass Arbeitgeber den Anspruch ihrer Belegschaften auf Erteilung einer Abrechnung nach Paragraf 108 Absatz 1 Satz 1 GewO deutlich effizienter und ressourcensparender erfüllen können, indem sie die Abrechnung digital über ein Online-Portal in einer Cloud zum Abruf zur Verfügung stellen. In der gesetzlichen Pflicht des Erteilens einer Gehaltsabrechnung eine Holschuld zu sehen, überrascht auf den ersten Blick. Denn soweit ersichtlich war dies in der bisherigen Gerichtspraxis kein Thema. Die dort und auch überwiegend in der Literatur vertretene Ansicht, die Abrechnung müsse dem Arbeitnehmer zugegangen sein, ist damit nicht mehr haltbar.
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Tatsächlich ist es plausibel, eine Holschuld zu bejahen. Es entspricht jahrelanger gefestigter Rechtsprechung des BAG, wonach gemäß Paragraf 269 Absatz 1 BGB bei Arbeitsverhältnissen der Ort der Arbeitsstätte grundsätzlich der Ort ist, an dem die wechselseitigen Leistungen zu erfüllen sind, solange nichts Anderes vereinbart ist oder sich aus den Umständen ergibt. Insbesondere hat das BAG bereits 1995 mit einem Urteil für den Zugang von Arbeitszeugnissen entschieden, dass der Arbeitnehmer sich diese wie auch sonstige Arbeitspapiere beim Arbeitgeber abholen muss, soweit sich im Einzelfall aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) nichts anderes ergibt (5 AZR 848/93).
Arbeitnehmer sollten sich online zur Verfügung gestellte Gehaltsabrechnungen alsbald ansehen. In der Konsequenz der Entscheidung des BAG liegt es nämlich auch, dass etwa geltende Ausschlussfristen für Einwände gegen eine erteilte Gehaltsabrechnung mit dem Einstellen in der Cloud zu laufen beginnen.