Bereits im Koalitionsvertrag hat die Ampel angekündigt, sich des Themas Fachkräfteeinwanderung anzunehmen. Jetzt werden die Pläne konkreter. Arbeitsminister Heil kündigte an, zusammen mit Innenministerin Faeser eine sogenannte Chancenkarte auf den Weg zu bringen. Die Hoffnung, die mit dem Begriff verbunden ist, besteht in einem transparenten Punktesystem nach kanadischem Vorbild, das Deutschland für ausländische Fachkräfte insbesondere dadurch attraktiver macht, dass die Möglichkeit einer Arbeitsmigration nach Deutschland berechenbarer wird.
Im Rahmen des geplanten Punktesystems soll es vier Kategorien geben, von denen drei für den Erwerb der Karte erfüllt sein müssen: Ausbildung, Berufserfahrung, Alter und Sprachkenntnisse. Ob das System so einfach und transparent wird, dass tatsächlich mehr ausländische Fachkräfte nach Deutschland zuwandern, bleibt abzuwarten und hängt vor allem von der Ausgestaltung der einzelnen Punkte ab.
Anerkennung von Bildungsnachweisen als Hürde
So wird sich hinter dem Punkt Ausbildung voraussichtlich das Erfordernis eines deutschen oder anerkannten ausländischen Hochschul- oder Berufsabschlusses verbergen – und damit ein Flaschenhals, der schon derzeit Unternehmen die Einstellung derjenigen Fachkräfte, die sie selbst für fähig halten, erschwert. Nur wenige ausländische Hochschulabschlüsse gelten per se als gleichwertig und sind in der sogenannten ANABIN-Liste (die Abkürzung steht für Anerkennung und Bewertung ausländischer Bildungsnachweise), einer Datenbank für Informationen zur Bewertung ausländischer Bildungsnachweise, aufgeführt und damit anerkannt. Für die meisten Abschlüsse muss hingegen eine individuelle Zeugnisbewertung durchgeführt werden, die oft mit formellen Hürden, wie dem Erfordernis beglaubigter Übersetzungen, verbunden ist. Derzeit dauert dies nach Vorliegen aller Dokumente im Schnitt immer noch drei Monate. Noch schwieriger wird es im Bereich ausländischer Berufsausbildungen, die sich am weltweit einmaligen deutschen dualen Ausbildungssystem messen lassen müssen.
Kandidaten und Kandidatinnen, die die Kriterien hinsichtlich der Ausbildung erfüllen, haben im bestehenden System bereits gute Chancen auf einen Aufenthaltstitel. So kann ihnen etwa gemäß des Aufenthaltsgesetzes für sechs Monate der Aufenthalt zur Arbeitsplatzsuche ermöglicht werden, wenn auch – voraussichtlich wie bei der Chancenkarte – mit dem Wermutstropfen, dass während der Arbeitsplatzsuche keine Beschäftigung zur Deckung des Lebensunterhalts erlaubt ist. Die Chancenkarte könnte daher vor allem für solche Personen interessant sein, die nur die übrigen drei Kriterien erfüllen. Beim Kriterium der Berufserfahrung ist von drei Jahren die Rede. Hinsichtlich des Alters soll die niedrige Grenze von 35 Jahren gelten.
Deutschkenntnisse sind nicht immer relevant
Schließlich werden Deutschkenntnisse vorausgesetzt. Dass Deutschkenntnisse die Integration auf dem deutschen Arbeitsmarkt erleichtern, ist unbestritten. Allerdings ist die deutsche Sprache umgekehrt oft ein Grund, aus dem ausländische Fachkräfte gerade nicht Deutschland als Ziel ins Visier nehmen. Außerhalb Deutschlands Deutsch zu lernen ist eine große Herausforderung. Nicht jede Person, die aufgrund ihrer fachlichen Qualifikationen in Deutschland, etwa als Handwerkerin, händeringend gesucht ist, ist gleichzeitig ein Sprachtalent. Hier wäre ein System, das parallel den Spracherwerb in Deutschland ermöglicht, sachgerechter. Andererseits gibt es international aufgestellte Unternehmen, die auf Englisch kommunizieren und deutsche Sprachkenntnisse bei Bewerbenden nicht voraussetzen. Schließlich gibt es einzelne Berufsgruppen, für die die Kommunikation nicht im Vordergrund steht oder, wie bei IT-Experten, aufgrund der hohen fachlichen Qualifikation in den Hintergrund tritt.
Idee der Chancenkarte ist, die Einreise zur Arbeitsplatzsuche unabhängig von einem konkreten Jobangebot zu machen. Bedarf für eine Vereinfachung besteht aus Sicht vieler Arbeitgeber jedoch auch in den Fällen, in denen eine drittstaatsangehörige Person sich aus dem Ausland beworben hat und eingestellt werden soll. Derzeit genügt es nicht, dass der Bewerber beziehungsweise die Bewerberin vom Unternehmen als entsprechend qualifiziert angesehen wird. Die formellen Voraussetzungen bezüglich Ausbildung und anderer Kriterien müssen zusätzlich erfüllt sein. Die unternehmerische Freiheit wird insoweit zulasten einer Regulierung der Einwanderung beschränkt. Nur Staatsangehörige weniger Staaten, darunter des Vereinigten Königreichs, der USA und Kanadas, genießen das Privileg, einen Aufenthaltstitel für jede Beschäftigung erwerben zu können, solange die Arbeitsbedingungen dem Üblichen entsprechen. Die in diesem Bereich noch angewandte Vorrangprüfung, die den Titel davon abhängig macht, dass keine Deutschen oder Personen mit EU-Staatsangehörigkeit für die Aufgabe zur Verfügung stehen, spielt praktisch keine große Rolle. Eine Ausweitung dieser Personengruppe würde eine echte Erleichterung darstellen. Abzuwarten bleibt schließlich, ob die Pflicht, vor der Einreise ein entsprechendes Visum einzuholen, mit der Chancenkarte bestehen bleibt. Auch diesbezüglich genießen lediglich die Staatsangehörigen der wenigen oben genannten und einiger weiterer Staaten den Vorteil, ohne Visum einreisen und einfach vor Ort jeden Aufenthaltstitel beantragen zu können.
Durch das Ermessen der Auslandsvertretungen im Rahmen des vorgeschalteten Visumverfahrens könnte die Berechenbarkeit des neuen Systems in der Praxis hingegen relativiert werden. Die teilweise sehr restriktive Praxis und lange Verfahrensdauer einiger deutscher Botschaften und Konsulate könnte Fachkräfte auch in Zukunft von einer Orientierung in Richtung Deutschland abhalten. Eine echte Berechenbarkeit setzt voraus, dass möglichst wenig dem Ermessen der unterschiedlichen zuständigen Behörden überlassen bleibt. Richtlinien für eine einheitliche Anwendung in den Auslandsvertretungen und Ausländerbehörden würden dazu beitragen, dass die Chancenkarte im Praxistest besteht.