Wer Mitglied des Betriebsrats ist, genießt nach Paragraf 15 Absatz 1 Kündigungsschutzgesetz besonderen Kündigungsschutz. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Betriebsratsmitglied unkündbar ist, wie ein Urteil vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen am 6. Mai 2024 (4 Sa 446/23) zeigt. Vielmehr ist die Kündigung an besondere Voraussetzungen geknüpft. So müssen Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und es muss die Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung des Betriebsratsmitglieds nach Paragraf 103 Absatz 1 Betriebsverfassungsgesetz vorliegen.
Verstoß gegen das Suchtmittelverbot: Beobachtungen am Arbeitsplatz
Der Kläger war seit 1. Juni 2002 bei der Beklagten, einem Logistikunternehmen, als Kommissionierer beschäftigt. Zudem war er seit 2018 freigestelltes Betriebsratsmitglied. Bei der Beklagten besteht eine Gesamtbetriebsratsvereinbarung über ein Suchtmittelverbot. Diese sieht Folgendes vor:
„Innerhalb der Betriebe und an anderen Dienstorten ist jeglicher Konsum von Suchtmitteln wegen der davon ausgehenden Gefahr für Sicherheit und Gesundheit untersagt. Diese Regelung gilt von Arbeitsbeginn bis Arbeitsende einschließlich der Pausen.“
Der Vorwurf: Kokainkonsum während der Arbeitszeit
Am 17. August 2022 wurde der Kläger von einem anderen Betriebsratsmitglied durch eine Fensterscheibe dabei beobachtet, wie er an seinem Schreibtisch ein weißes Pulver mit einer Karte zu einer Linie zusammenschob und anschließend mit einem Röhrchen durch die Nase einnahm. Noch am selben Tag wurde der Kläger von dem beobachtenden Betriebsratsmitglied darauf angesprochen. Der Kläger äußerte, dass es keinen Grund zur Besorgnis gebe, da es sich nicht um Drogen handele.
Das beobachtende Betriebsratsmitglied meldete diesen Vorfall der Betriebsleitung. Daraufhin wurde der Kläger am 6. September 2022 zu den Beobachtungen angehört. Dabei gab der Kläger an, dass es sich um Schnupftabak mit Traubenzucker gehandelt habe. In der Folge legte der Kläger auch eine kleine Flasche mit der Aufschrift „Schneeberg“ vor, die er aus seinem Büro geholt hatte. Der Betriebsleiter nahm einen Zitronenduft wahr. Die Beklagte hatte dem Kläger angeboten, einen Drogentest zu machen und die Kosten hierfür zu übernehmen. Doch darauf hatte der Kläger schließlich nicht mehr reagiert.
Am 12. September 2022 stimmte der Betriebsrat der Kündigung des Klägers zu. Am darauffolgenden Tag erhielt der Kläger die außerordentliche Kündigung. Hiergegen erhob er Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Oldenburg.
Die Entscheidung: Verdachtskündigung bestätigt
Das erstinstanzliche Gericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Auch die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen folgte der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts und begründete die Entscheidung damit, dass die Kündigung als Verdachtskündigung wirksam sei. Es bestehe der dringende Verdacht, dass der Kläger während der Arbeitszeit Kokain konsumiert habe. Dafür spreche die Art des Konsums des weißen Pulvers durch die Nase. Zudem habe der Kläger die Möglichkeit eines Drogentests nicht wahrgenommen, und auch die kleine Flasche mit der Aufschrift „Schneeberg“ erhärte den Verdacht.
Da der Besitz von Kokain strafbar sei, liege ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vor. Auch im Rahmen der Interessenabwägung sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zumutbar. Zwar sei der Kläger seit 20 Jahren bei der Beklagten beschäftigt und habe ein Kind, jedoch wiege der dringende Verdacht einer schweren Straftat so schwer, dass das Vertrauen des Arbeitgebers irreparabel zerstört sei. Der Kläger habe die Möglichkeit gehabt, den Verdacht zu entkräften, habe dies aber nicht getan.
Praxistipp: Voraussetzungen für eine Verdachtskündigung
Diese Entscheidung zeigt, dass sowohl eine Verdachtskündigung als auch die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds durchaus möglich sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann eine Verdachtskündigung gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen stützen, die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.
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