Wenn in so manchen HR-Abteilungen auf die Liste vakanter Stellen im Unternehmen geschaut wird, insbesondere die Lücken auf Management-Positionen, stellt sie sich nicht selten die Frage: Warum um Himmels Willen will denn niemand mehr Verantwortung übernehmen?
Bei der Suche nach Antworten landet man dann schnell bei generalisierenden Generationenbeschreibungen über die sogenannten jungen Leute von heute. Die beschäftigen zwar eine ganze Industrie aus Personalmarketeers, Generationenbücher-Schreiberinnen und -Schreibern, Keynote-Speakern, zum tatsächlichen Erkenntnisgewinn tragen sie wenig bei. Stattdessen lohnt es sich, etwas präziser nach realen Mustern zu suchen. Dann fällt auf: Es haben sich gar nicht so sehr die Erwartungen von werdenden Führungskräften verändert. Sondern die Erwartung an diese.
Einen Hinweis darauf gibt die im HR-Mainstream-Diskurs weit verbreitete Orientierung auf die Führungskräfte als ganze Menschen, als Führungs-Persönlichkeiten. Nur wer sich über den eigentlichen Job hinaus mit seinem ganzen und bestenfalls charismatischen Wesen einbringt, sich und andere bei den persönlichen Sorgen und Interessen packt und bei deren ureigenen Bedürfnissen ansetzt, kann sich und andere hinreichend begeistern und damit für den Arbeitgeber sein volles Potenzial entfalten. So die Idee.
Eine solche Person zu sein, für sich, für Andere, für ganze Teams und Abteilungen, ist heute häufig die Erwartung an Führungskräfte. Mal sind es implizite Erwartungen, die zwischen den Zeilen kommuniziert werden. Mal wird explizit Führungsarbeit mit diesen Ansprüchen aufgeladen: Oft geschieht das mit Verweis auf das Konzept der transformationalen Führung, das das Zeitalter der transaktionalen Führung für beendet erklärt. Stattdessen brauche es „nur“ die gewinnende Persönlichkeit einer transformationalen Führungskraft, die Motivation lebt, authentisch ist, und sich und andere entfacht. Wenn das gelingt, wird sie sich selbst und die Mitarbeitenden auf die nächste Stufe der Leistungsfähigkeit heben können. Wenn das nicht gelingt, dann muss sie eben an sich arbeiten. Gelingt es dann immer noch nicht, ist sie vielleicht leider nicht die richtige Führungskraft.
Erwartungen an Führungskräfte abrüsten
Dieser Blick ist nicht nur übergriffig gegenüber Führungskräften oder denen, die es noch werden sollen – und damit für viele nicht zu Unrecht abschreckend -, sondern auch grundsätzlich eine schlechte Idee für Organisationen. Denn damit würde gutes Führen zu einer Fähigkeit verkürzt, die vorrangig von den persönlichen Eigenschaften der Führungskraft abhinge und also weder erlernbar noch skalierbar wäre (was nicht zutrifft) und womit man sich als Organisation maximal personenabhängig machte. Dabei streben Organisationen doch eigentlich nach Personenunabhängigkeit, weil erst die Unabhängigkeit von den Einzelnen sie als soziale Systeme stabil und schlagkräftig macht.
Nicht nur, wenn man neue Führungskräfte gewinnen und bestehende halten will, ist es also sinnvoll, die Erwartung an die Persönlichkeit der Führenden abzurüsten – und sich weniger darauf zu fokussieren, wie jemand ist und stärker darauf zu fokussieren, was jemand kann. Zum Können gehört bei Führungskräften natürlich viel, zunächst aber einmal der genaue Blick darauf, was Führung eigentlich ist – und was nicht. Und wo es vielleicht auf etwas ganz anderes ankommt.
Wann Führung stattfindet
Hier bietet die Organisationssoziologie eine Perspektive, die auch in der Praxis sehr hilfreich ist, weil sie den diffusen Begriff von Führung erst einmal kleindenkt und damit scharf stellt: Diesem Verständnis folgend, passiert Führung nicht ständig und überall oder ist einfach die Summe dessen, was Führungskräfte eben so machen. Stattdessen findet Führung immer dann statt, wenn Unsicherheit herrscht – weil man auf Regelungslücken stößt. Auf Unvorhergesehenes. Auf Themen, die man strukturell bisher nicht abgebildet hat und an sich also anschaut und fragt: Was nun? Wenn sich dann jemand mit einem Lösungsvorschlag durchsetzt, ist das Führung gewesen. Kurz gesagt: Führung ist erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten.
In diese Idee noch einmal kurz reingezoomt: Kritische Momente sind Situationen, in denen die Strukturen, Regeln und Routinen der Organisationen nicht helfen können bei der Frage: Was nun? Immer dann, wenn also Widersprüche offenbar werden, Routinen nicht greifen, oder etwas Unvorhergesehenes geschieht, worauf es bisher keine Strukturantwort gibt, gibt es die Notwendigkeit (und Gelegenheit) dafür, dass jemand in Führung gehen.
Einflussnahme ist der Versuch, andere für den eigenen Lösungsvorschlag zu gewinnen, zum Beispiel, indem man dafürsprechende Informationen teilt, mit guten Argumenten reüssiert oder ein attraktives Tauschangebot macht: Wenn ihr mir hier folgt, unterstütze ich euch da.
Und ob Führung wirklich Führung gewesen ist oder lediglich als Impuls verpufft, entscheidet sich dann erst daran, ob der Vorschlag tatsächlich angenommen wird. Führung ist abhängig davon, dass es einem gelingt, für die eigene Idee Gefolgschaft zu sichern.
Dieses Konzept einmal anprobiert, was bedeutet das für Führungskräfte?
In Führung gehen können alle
Es bedeutet vor allem erst einmal: Führung ist nicht gleich Hierarchie. Denn die Ausführung von Hierarchie ist klar geregelt, zum Beispiel über vorab definierte Kommunikationswege, über Prozesse, über Weisungsbefugnisse und Grenzen dessen, was man als Führungskraft verlangen darf. Was dagegen Führung genau beinhaltet, kann nicht im Vorhinein bestimmt werden. Es kann nicht vorab festgelegt werden, wer im Meeting die kluge Idee hat, wer mit seinen Argumenten überzeugt oder wem der Kunde vertraut. Führung, so könnte man sagen, füllt also situativ Lücken der Berechenbarkeit. Sie ist, wenn man so will, die Hierarchie der Situation.
Hierarchie ist jederzeit verfügbar. Führung findet nur in kritischen Momenten statt in denen die Organisationsstrukturen keine Orientierung bieten, wodurch Unsicherheit erzeugt wird. Die Ausführung von Hierarchie soll unabhängig von Personen möglich sein. Führung dagegen wird persönlich zugerechnet, sie ist eine zusätzliche Leistung des Systems.
Hierarchie nutzt formale Befugnisse, um die bereits entschiedene Ordnung zu stützen. Führung nutzt formale und informale Mittel, um Entscheidungen durchzusetzen.
Was sieht man nun neu oder anders, wenn man Führung auf diese Weise versteht?
- Führung ist keine kontinuierliche Daueraufgabe. Das heißt für Führungskräfte: Die Entlastung von der Erwartung, jederzeit führen zu müssen. In gewisser Weise versteckt sich in dieser Erkenntnis eine Abkehr vom heroischen Bild des Führenden, der immer in seinem Saft steht, stets sagen muss, wo vorne ist und ohne den gar nichts geht. Auch wenn sich manche ja ganz gerne so sehen. Die gute Nachricht ist: Es reicht, die eigenen Führungsaufgaben auf kritische Momente zu konzentrieren. Ich kann mich entscheiden, wann ich diese setzen und nutzen will.
- Vorgesetzte sind nicht automatisch immer Führende. Sondern derjenige führt, der erfolgreich Einfluss nimmt mit Hilfe formaler und informaler Einflussmittel. Das kann eine Kränkung sein für Führungskräfte, bei denen Führung ja schon im Namen steckt – aber auch eine Entlastung. Weil man eben durchaus auch entscheiden kann, auch mal andere in Führung gehen zu lassen. Vielleicht sogar eine sehr gute Idee.
Und zuletzt: Geführt wird in ebendiesen kritischen Momenten.
Darin steckt noch eine gute Nachricht: Kritische Momente könnten bewusst erzeugt werden. Oder sie können durch gute Planung reduziert werden. Und sie führen einen oft auf die richtige Spur, wenn es darum geht, bisherige Strukturen anzupassen.
Strukturieren, führen, oder unterwachen lassen?
Wenn es immer wieder in ähnlicher Weise zu kritischen Momenten kommt, in denen man sich fragend anschaut und ad hoc nach Antworten suchen muss, kann man zielgenau untersuchen: Wo versagt die bisherige Struktur? Wann und wo genau entstehen also diese kritischen Momente? Wie funktional ist das oder wie dysfunktional in diesem spezifischen Kontext? Wie kann und sollte man die Strukturen anpassen, sodass weniger Führung von dir oder anderen nötig ist? Wo können andere oder neue Regeln, Rollen, Routinen und Prozesse diese offenen, kritischen Situationen weniger wahrscheinlich machen?
Wenn man mit diesen Brillen auf das eigene Tun und die eigene Organisation schaut, kommen am Ende die richtigen Themen in den Fokus: Widerspruchsvolle, komplexe Fragestellungen, die verhandelt werden müssen. Sich um diese Themen organisationsklug zu kümmern, indem man kritischen Momenten nachspürt, in den richtigen Momenten in Führung geht, andere in Führung bringt oder auch notwendige Strukturanpassungen angeht – das gehört zu dem, was eine gute Führungskraft ausmacht. Wenn man dabei obendrein auch noch eine charismatische, umarmende und motivierende Person ist, ist das ein zusätzlicher Gewinn. Aber mehr eben auch nicht.