Hirnforschung ist angesagt. Kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin weckt so viele Hoffnungen und gilt gleichzeitig als so geheimnisvoll. Die vielen Rätsel provozieren jedoch allerlei Mythen. Anna von Hopffgarten, Leiterin des Ressorts Hirnforschung beim Magazin Gehirn & Geist, räumt mit fünf gängigen Irrtümern über unser Gehirn auf.
Beinahe täglich erfahren wir in den Medien von neuen Durchbrüchen in den Neurowissenschaften: „Forscher können Gedanken lesen“, heißt es da etwa oder: „Der freie Wille ist eine Illusion!“. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren viel getan. Mussten Neurologen noch vor hundert Jahren ihren Patienten in einer schmerzhaften Prozedur das Nervenwasser aus dem Schädel ziehen, um das Denkorgan im Röntgenlicht abzubilden, sind die heutigen Bildgebungsmethoden bequem und präzise zugleich. Moderne Kernspintomografen vermögen die Schwankungen der Hirnaktivität inzwischen punktgenau aufzuzeichnen und erlauben es, mit einer speziellen Technik den Verlauf von Nervenfaserbündeln detailliert nachzuverfolgen.
Die vielen Rätsel und die wachsende Popularität der neurowissenschaftlichen Forschung bieten jedoch einen optimalen Nährboden für allerlei Halbwahrheiten. Auch Coaches und Jobtrainer nutzen die Hirnforschung zunehmend für Heilsversprechen verschiedenster Art. So soll sie helfen, Angst und Panik zu besiegen, und uns einen stressfreien Job bescheren. Viele dieser Behauptungen fußen nur auf vermeintlichen Erkenntnissen und entbehren jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. Es ist an der Zeit, mit den größten Irrtümern über das Gehirn aufzuräumen.
1. Wenn wir nichts tun, ruht das Gehirn
Kennen Sie das? Sie liegen abends im Bett und grübeln, was Sie am nächsten Tag alles erledigen müssen. Wie schön es in einer solchen Situation doch wäre, das Gehirn für eine gewisse Zeit auf Stand-by zu stellen. Doch so sehr Sie sich auch bemühen, an nichts zu denken – es wird Ihnen nicht gelingen. Denn das Gehirn ruht nie. Auch beim Nichtstun feuert ein großer Verband von Nervenzellen, das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk.
Das kann lästig sein, hat aber auch gewisse Vorteile. Denn ihm verdanken wir so manchen kreativen Einfall. Wie Forscher herausfanden, lässt sich die Kreativität von Probanden steigern, wenn diese nur genügend Zeit zum Tagträumen haben.
Selbst im Schlaf kommt das Gehirn nicht zur Ruhe. Es verarbeitet die Eindrücke, die wir am Tag zuvor erlebt haben und baut sie ins Langzeitgedächtnis ein. Wäre eine Hirnregion tatsächlich ungenutzt, etwa weil sie von einem Sinnesorgan nicht mehr versorgt wird, würde sie rasch andere Aufgaben übernehmen. So verarbeitet beispielsweise die Sehrinde von blinden Menschen häufig Tast- oder Hörsignale.
2. Intelligenz kann man trainieren
Wer regelmäßig an Kreuzworträtseln, Sudokus oder Hirnjogging-Aufgaben tüftelt, soll angeblich in Intelligenztests besser abschneiden. Doch die Knobelfans werden enttäuscht sein: Den IQ langfristig zu steigern, ist im Erwachsenenalter kaum noch möglich.
Mit etwa 20 Jahren haben wir unser individuelles Intelligenzpotenzial in der Regel ausgeschöpft, zumindest was die sogenannte fluide Intelligenz angeht. Darunter verstehen Psychologen, wie gut wir Gelerntes auf neue Situationen übertragen können.
Erwachsene können sich zwar durch Übung in bestimmten Aufgaben verbessern, etwa im Umgang mit neuen Computerprogrammen. Doch der für die fluide Intelligenz so wichtige Transfer auf andere Denkbereiche lässt sich meistens nicht weiter optimieren. Haben wir uns beispielsweise in die neue Datenbanksoftware eingearbeitet, heißt das noch lange nicht, dass wir nun das Programm für die Steuererklärung mit links bedienen können.
Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Eine zweite Intelligenzkomponente, die kristalline Intelligenz, lässt sich im Lauf des Lebens weiter steigern. Dabei handelt es sich laut Psychologen um den Erwerb von Wissen und neuen Kompetenzen. Daher lohnt es sich auch im hohen Alter noch, eine neue Sprache, ein Instrument oder eben den Umgang mit einer Software zu erlernen – auch wenn es mühsamer ist als in jungen Jahren.
3. Linkshänder sind kreativer
Es gibt Anekdoten, nach denen Künstler und Musiker besonders häufig Linkshänder sind. Als Begründung dient oft die stark vereinfachte Vorstellung, dass die rechte Hirnhälfte, welche bekanntlich die linke Hand steuert, der Sitz der Kreativität sei. Doch dieses Argument entbehrt jeder Grundlage. Denn Kreativität lässt sich nicht so klar im Gehirn verorten. Es handelt sich um eine vielschichtige Eigenschaft, die auf einer ganzen Reihe von Hirnfunktionen und der Aktivität riesiger neuronaler Netzwerke beruht. Und diese erstrecken sich über beide Hirnhälften.
Zudem haben Forscher nie beweisen können, dass Linkshänder im Schnitt tatsächlich kreativer sind als Rechtshänder. Auch einen Zusammenhang zur Persönlichkeit oder zur Intelligenz konnten sie nicht feststellen.
Ein möglicher Grund, warum sich dieser Mythos so hartnäckig hält, ist ein Phänomen, das Psychologen Bestätigungsfehler nennen: Wir neigen dazu, Informationen so auszuwählen, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. Wir glauben, Linkshänder seien besonders kreativ, und finden plötzlich etliche Beispiele dafür. Und diese bleiben besser im Gedächtnis haften als die unzähligen Gegenbeispiele von verkopften Linkshändern und künstlerisch begabten Rechtshändern.
4. Vergessen ist eine Fehlleistung des Gehirns
Wie hieß noch einmal die neue Praktikantin in der IT-Abteilung?Und wo hat sich schon wieder der Lieblingsstift versteckt? Vergessen kann lästig sein, und es genießt allgemein keinen guten Ruf. Nicht ganz zu Unrecht, ist es doch das Hauptsymptom von Demenzerkrankungen wie Alzheimer.
Dennoch gibt es Formen des Vergessens, die überaus wichtig sind. Ständig lernen wir neue Dinge dazu, oft ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Damit uns das möglich ist, müssen wir permanent umlernen und vergessen. Bereits gestärkte neuronale Verknüpfungen werden gelockert, andere hingegen gestärkt. Auch die Flut von Sinnesreizen, die täglich auf uns einströmt, vergisst unser Gehirn zum Großteil wieder – zum Glück! Denn nur so können wir Wichtiges von Unwichtigem trennen und gezielt sowie strukturiert lernen.
Was passiert, wenn das Gehirn nicht vergessen kann, sieht man eindrücklich an Menschen mit traumatischer Hypermnesie: Bei den Betroffenen sind bestimmte Gedächtnisspuren nach einem schlimmen Erlebnis quasi schreibgeschützt. Sie lassen sich damit kaum noch verändern oder gar löschen und werden immer wieder reaktiviert.
5. Das Gehirn kann sich im Alter nicht mehr verändern
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, heißt es oft. Aber ist unser Gehirn im Alter wirklich so starr und unflexibel, wie häufig angenommen? Neurowissenschaftler sind da anderer Meinung. Im Jahr 2011 bat ein Forscherteam Londoner Taxifahrer in den Hirnscanner. Das erstaunliche Ergebnis: Das Areal im Gehirn, das das Ortsgedächtnis beherbergt, war bei den Probanden auffällig vergrößert. Ähnliches geschieht bei Musikern. Die linke Hand ist im Motorkortex professioneller Geigenspieler außergewöhnlich stark repräsentiert.
Erfahrung formt also das Gehirn; Forscher sprechen auch von neuronaler Plastizität. Sie ist die Voraussetzung für jede Art von Lernen und ist bei Kindern besonders ausgeprägt. Doch auch im Alter kann sich das Gehirn noch verändern. Bei entsprechendem Training bilden sich etwa neue Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen oder bereits vorhandene werden in ihrer Funktion gestärkt. Wie neuere Studien zeigen, kann man diese Fähigkeit aktiv unterstützen und zwar durch körperliche Bewegung. Sie macht geistig flexibel. Eine regelmäßige Jogging- oder Walkingrunde kann manchmal Wunder bewirken.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Neuro. Das Heft können Sie hier bestellen.