Kaum eine Fähigkeit wird so sehr unterschätzt wie Selbstkritik. Dabei profitieren Unternehmen von selbstkritischen Mitarbeitern und Führungskräften. Denn wer bereit ist, sich infrage zu stellen und Fehler anzuerkennen, lernt schneller und verbessert seine Leistung.
Selbstkritik gilt vielleicht als ganz sympathisch, aber sollten Spitzenkräfte nicht gerade darauf verzichten? Schwächt der innere Kritiker nicht das Selbstbewusstsein, lässt am eigenen Erfolg zweifeln und hindert einen daran, die Dinge beherzt anzugehen? Ein strahlender Erfolgsmensch lässt sich schließlich nicht von Bedenken bremsen und macht immer alles richtig. Vor allem in seiner eigenen Wahrnehmung. Eine solche Vorstellung ist nicht nur irreführend, sie ist verheerend. Großmäuligkeit und Selbstüberschätzung fördern keineswegs die Kompetenz, vielmehr stehen sie ihr im Weg.
Tatsächlich verfügen Spitzenkräfte über ein sehr hohes Maß an Selbstkritik, auch wenn sie das nicht immer offen zeigen. Es kann auch gar nicht anders sein, denn Kompetenz muss sich erst bilden. Und da spielt Selbstkritik eine entscheidende Rolle. Wir müssen in der Lage sein, unser Verhalten, unsere Leistung zutreffend zu beurteilen. Genau das meint Selbstkritik. Sie besteht eben nicht darin, die eigenen Leistungen kleinzureden oder gar schlechtzumachen. Im Gegenteil, Selbstkritik meint es immer gut mit uns. Sie will uns helfen, unsere Ziele zu erreichen.
Das erfordert, dass wir ehrlich mit uns umgehen, Fehler nicht kleinreden, Schwächen nicht ignorieren, aber eben auch nicht dramatisieren. Und es bedeutet natürlich auch: das anzuerkennen, was gut gelaufen ist und wo unsere Stärken liegen. Selbstkritik ist weit wirksamer als alle Mut-mach-Rezepte und Anleitungen zum sozialverträglichen Größenwahn. Tatsächlich zeichnen sich diejenigen, die über einen längeren Zeitraum Ungewöhnliches leisten, dadurch aus, dass sie eher streng mit sich umgehen. Wohlmeinend, selbstbewusst, aber streng. Der Weg zur Meisterschaft führt immer über die Selbstkritik.
Allerdings ist Selbstkritik eine Fähigkeit, die man selbst erst einmal entwickeln und kultivieren muss. Mit bloßer Mäkelei und dem Zugeben von Fehlern ist es nicht getan. Deshalb folgen hier in aller Kürze die sieben wichtigsten Regeln der Selbstkritik. Sie gelten für jeden Einzelnen, aber haben auch Bedeutung für das Unternehmen, in dem man arbeitet. Denn eine Organisation wird durch Selbstkritik nicht nur lernfähiger, sondern auch vertrauenswürdiger.
1. Gewinnen Sie erst an Höhe
Selbstkritik darf nicht zu früh einsetzen. Zunächst einmal sollten Sie unbeschwert loslegen können, Dinge ausprobieren, Fehler machen, Erfahrungen sammeln. Ihre Fähigkeiten müssen sich erst einmal entwickeln. So wie bei einem Obstbaum, der auch erst einmal wachsen und an Höhe gewinnen muss, ehe der Baumschnitt beginnt. Vielleicht müssen Sie in einem geschützten Raum beginnen. Oder auch in einem Randbereich, der wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Entscheidend ist, dass Sie erst einmal unbehelligt bleiben.
2. Selbstkritik erfordert Distanz
Solange wir handeln, sind wir nicht in der Lage, uns selbst zutreffend zu beurteilen. Wir brauchen Abstand. Zeitlich, emotional, aber auch perspektivisch. Wir täuschen uns weit weniger über uns selbst, wenn wir versuchen, unser Handeln aus Sicht der anderen zu bewerten: Wie empfinden sie das? Was bedeutet das für sie? Wie nehmen uns diejenigen wahr, die uns nicht mögen?
Auch kann es helfen, die anderen nach ihrem Eindruck zu fragen. Am besten diejenigen, die nicht selbst direkt beteiligt sind. Allerdings brauchen sie ausreichend Sachverstand, um uns zu beurteilen. Dann kann ihre Einschätzung wichtige Anhaltspunkte liefern. Doch urteilen müssen Sie am Ende selbst.
3. Je besser Sie werden, desto härter dürfen Sie sich kritisieren
Solange Sie noch am Anfang stehen, seien Sie nachsichtig, wohlwollend und geduldig. Mit steigendem Niveau dürfen Sie strenger mit sich werden. Ihre Leistungen steigen, wenn Sie mehr von sich erwarten. Haben Sie die entsprechende Höhe erreicht, urteilen Sie härter über sich als jeder andere. Es gibt immer etwas zu verbessern. Nur nicht zu viel auf einmal.
Und selbstverständlich geht es nicht darum, die eigenen Erfolge schlechtzumachen. Vielmehr gilt es, sie zu würdigen und zu genießen. Aber Sie wollen sich natürlich weiterentwickeln und stoßen irgendwann an eine Grenze. Oder Sie stellen fest, dass Ihre Leistungen in bestimmten Feldern nachlassen. Auch das gehört zur Selbstkritik: dass Sie das anerkennen und wohlwollend damit umgehen. Darin zeigt sich Ihre Reife.
4. Selbstkritik ist keine Selbstoptimierung
Das Streben nach dem „besten Ich“, die Selbstoptimierung, steht derzeit hoch im Kurs. Doch Selbstkritik ist etwas völlig anderes. Sie ist sehr viel grundsätzlicher und persönlicher. Selbstoptimierung gibt das Ziel vor, womöglich auch den Weg dorthin. Selbstkritik tut das nicht. Sie verlangt, Ziele zu prüfen und zu verändern. Selbstoptimierung treibt uns ständig an, etwas zu tun und unsere Zeit zu nutzen. Selbstkritik bedeutet, innezuhalten und Distanz zu gewinnen. Selbstoptimierung arbeitet mit positiven Illusionen, Selbstkritik will gerade diese Illusionen entlarven. Es geht um den ehrlichen Umgang mit sich selbst. Selbstoptimierung bedeutet Normierung, Selbstkritik ermutigt, den eigenen Weg zu finden.
5. Fehler zuzugeben, stärkt Ihre Position
Wer Fehler leugnet oder vertuscht, wirkt defensiv, wenig selbstbewusst und unverlässlich. Wenn Sie von sich aus Fehler eingestehen, zeugt das von Stärke und Souveränität. Und es erleichtert die Zusammenarbeit mit Ihnen. Wird diese Haltung bestärkt, übernehmen sie auch andere. Man kann gefahrlos Fehler zugeben und bekommt sogar noch Anerkennung. Auch Hinweise auf die Fehler anderer fallen in so einem Rahmen wesentlich leichter.
Zugleich geht es darum, das rechte Maß zu finden. Auch darf das Fehlerzugeben nicht zum bloßen Ritual verkommen, mit dem die eigene Position abgesichert wird.
Für Führungskräfte gilt: Es ist ein außerordentlich starkes Signal, für die Fehler der Mitarbeiter einzustehen, auch wenn man sich nichts vorzuwerfen hat. Intern geht es um präzise Fehleranalyse. Doch nach außen hin stellen Sie sich vor Ihre Leute. Das schafft Loyalität.
6. Selbstkritik kann Brücken bauen
Unsere Mitmenschen haben einen scharfen Blick für unsere Schwächen, Irrtümer und Fehlleistungen. Wer erkennen lässt, dass er die eigenen Defizite im Blick hat, erleichtert die Verständigung mit anderen. Vor allem mit denen, die eine Gegenposition vertreten. Selbstkritik kann Brücken bauen, Rechthaberei kann das nicht.
Doch bei aller Selbstkritik dürfen Sie sich nicht selbst demontieren. Das gilt insbesondere für Führungskräfte. Für die kann es ein außerordentlich starkes Signal sein, selbstkritische Töne anzuschlagen. Doch müssen Sie gerade in so einer kritischen Situation für neue Orientierung sorgen. Was ist jetzt zu tun? Welche Ziele, welche Maßstäbe sollen gelten? Auch müssen Sie als Führungskraft darauf achten, dass Sie bei Ihrer Selbstkritik nicht Ihre Leute beschädigen, die Sie bis hierhin unterstützt haben.
7. Nach Erfolgen erdet uns die Selbstkritik
Erfolg macht oft selbstzufrieden, arrogant und führt fast zwangsläufig zur Selbstüberschätzung, der gefährlichsten Form der Selbsttäuschung. Ein bewährtes Gegenmittel ist Selbstkritik. Sie sorgt für Bodenhaftung und Bescheidenheit. Gerade wenn es gut läuft, müssen wir aufmerksam bleiben für Fehler und Schwächen, um das Erreichte nicht zu gefährden.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Neuro. Das Heft können Sie hier bestellen.