Mein Zusammenleben mit der Angst habe ich bereits im ersten Artikel dieser Kolumne angerissen. Die dort beschriebene Panikattacke in Frankfurt war jedoch nicht die erste. Meine „Angst-Karriere“ hat schon früh begonnen: Im Auslandssemester in London. Nichtsahnend saß ich im Dezember 2008 in der Bibliothek der Queen Mary University, als „es“ mich überrollte – danach war nichts mehr so wie zuvor.
Pathologische Angst bis hin zur Angst- oder Panikstörung ist in Deutschland die häufigste psychologische Belastung, noch vor Depressionen und Alkohol- und Tablettensucht. Betroffen sind insgesamt rund 18 Millionen Menschen, unter anderem ich, Simone. Frauen erkranken übrigens fast doppelt so häufig wie Männer und gerade Krisen sorgen für einen Anstieg der Angst. Dabei meine ich nicht nur persönliche oder berufliche Krisen, sondern auch gesellschaftliche: Corona, Klimakrise oder Krieg gegen die Ukraine.
Es ist also kein Wunder, dass die Krankenkassen wieder einen Angst-Anstieg beobachten (2021: Anstieg bei den 12- bis 17-Jährigen um 82 Prozent, Krankenkasse KKH) und Therapeutinnen wie Klienten sich über lange Wartelisten beklagen.
Manchmal kommen mir diese Zahlen wie eine Parallelwelt vor, denn im Business spricht niemand so wirklich darüber. Mentale Diversität in der Arbeitswelt ist weiterhin tabuisiert. Es lauert die Angst: Angst vor Stigmatisierung, vor beruflichen Nachteilen oder Kündigung – das perfide ist nur: diese Angst vor Stigmatisierung verursacht selbst Stress bei den betroffenen Personen (nur 30 Prozent der Gruppe nutzt laut AOK medizinischen/therapeutischen Zugang!)
Ständig unter Stress
Menschen mit Angst – so wie auch ich – sind sowieso ständig diversen Stressoren ausgesetzt: Ein Anruf kommt (unangekündigt!) rein, ich muss Menschen treffen und dabei am besten kommunikativ wirken, mit dem Auto über die Autobahn zum Kundentermin fahren (mehr als eine Stunde Autobahn ist der Horror für mich!) und die Toilette (der einzige Rückzugsort) ist dann auch noch out of order. All das sind Szenarien, die Menschen mit Ängsten nur allzu gut kennen.
Von einer generalisierten Angststörung (GAS) wird gesprochen, wenn Personen eine erhöhte (diffuse) Angst empfinden, meist nicht vor einer konkreten Gefahr, sondern allumfassend. Die Angst ist psychisch belastend und verursacht auch verschiedene körperliche Symptome wie Benommenheit, Muskelverspannungen oder Herzrasen bis hin zu Panikattacken. Jede fünfte Person macht im Lauf ihres Lebens übrigens die Erfahrung einer Panikattacke.
Nachdem ich in London aus der Bibliothek ins Krankhaus gebracht wurde, vergingen über zwei Stunden diverser Untersuchungen, aber da sich mein Puls beruhigt hatte und ich auch nicht mehr mit den Zähnen klapperte, wurde ich mit ein paar Paracetamol entlassen. Diese Erfahrung wiederholte sich noch ein paar Male in England, danach auch in Deutschland, wo ich ein regelrechtes Klinik-Hopping betrieb. Alle möglichen Ursachen wurden ausgeschlossen und ich landete nach gut einem halben Jahr auf der Analyse-Couch. Traumatische Ereignisse, genetische Disposition, Helikopter-Eltern, Stoffwechselstörung im Gehirn – die Lehrbücher kannten viele Ursachen pathologischer Angst und so wechselten die Ansichten je nach therapierender Person und Fachrichtung.
Die Angst als Dauer-Mitbewohnerin
Gut therapeutisch eingestellt, schloss ich mein Linguistik-Studium in Heidelberg mit Auszeichnung ab und begann meine Promotion – die Angst wurde indes zur Dauer-Mitbewohnerin. Wir arrangierten uns. Mal musste ich auf irgendeinem Parkplatz abgeholt werden, weil ich es nicht weiter schaffte, aber ich kam schon klar.
2015 dann, nachdem ich einen Job als Kommunikationsleiterin angenommen hatte und nach Frankfurt gezogen war, brach sie richtig durch und ich mein Leben dort ab. Während einer meiner größten Panikattacken nachts in Frankfurt, fragte einer der Sanitäter, der mich in der Notaufnahme betreute, ob ich es schon mal mit einer psychosomatischen Klinik versucht hatte. Nein, natürlich nicht, sagte ich, ich sei doch nicht so krank. Aber seine Worte ließen mich nicht mehr los. Eine Woche später hatte ich einen Platz auf der Warteliste der Systelios-Klinik im Odenwald – drei Monate später startete ich dort in einer Therapiegruppe durch. An das Gruppentherapie-Setting mussten meine Angst und ich uns erst gewöhnten – aber wir lernten viel übereinander.
Meine Angst braucht durchschnittlich 23 Minuten, bis sie sich richtig aufgebaut hat. Dann helfen mir Tigerbalsam (ich spreche auf Gerüche an), manchmal auch ein Glas Wasser und Schokolade, um den Blutzucker wieder ein wenig hochzubekommen. Dieses Notfallprogramm skizzierten und spielten wir x-mal durch. Noch heute profitiere ich davon und nenne es Angst-Management. Dazu gehört auch, möglichst viel über meinen Angst-Kreislauf zu wissen (Psychoedukation): Wie entsteht Angst, welche Faktoren begünstigen sie, in welchen Situationen und so weiter. Bei Menschen mit Ängsten besteht die größte Herausforderung darin, angstbesetzte Situationen nicht zu vermeiden. Bei mir war und ist es das Autofahren. Manchmal muss ich mich sehr stark überreden, nicht den Zug zu nehmen. Das hat natürlich ökologische Vorteile (und ich liebe das DB-Bistro), aber dennoch gehören regelmäßige Expositionen dazu, um zu lernen, dass die Angst nachlässt, wenn ich Situationen aushalte.
Mit der Angst umgehen lernen
Nach gut 15 Jahren Zusammenleben mit der Angst ist vieles leichter als früher. Ohne sie hätte ich meine Firma nicht gegründet und mein Innenleben wäre weniger aufgeräumt, aber dennoch ist das Zusammenleben mit ihr zweitweise sehr anstrengend. Da ich immer wieder gefragt werde, was mir geholfen hat, abschließend meine Angst-Learnings:
- Eingestehen/radikale Akzeptanz der „Angst“ (dauerte bei mir etwa sieben Jahre)
- Begriff finden: „die Angst“ / „die Panik“ oder einen eigenen Namen/Persona/Figur für die Angst (in der Klinik hatte ich einen Papagei)
- Angst-Coming-out: Reden über Angst (mit Menschen im beruflichen Umfeld, möglicherweise auch in einem öffentlichen Kontext wie der Fuck-up-Night)
- Berufliche Situation erschaffen, die passen (ich wollte möglichst viel Autonomie, Authentizität und auf keinen Fall vor zehn Uhr morgens anfangen, also machte ich mich selbstständig)
- Stressoren kennen, Safe Spaces, Kontaktpersonen
- regelmäßiges Joggen/Wandern, Bewegung
- Katzen
- Einzel-/Gruppen-Therapien, mit denen sich die Angst auf ein erträgliches Maß verringern lässt, bisher am erfolgreichsten: Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
- Kognitive Umstrukturierung: Arbeiten mit Angsttagebüchern
- Fachkundige Online-Beratung (zum Beispiel therapie.de, selfapy.com, krisenchat.de)
- Weiterbildung Ersthilfe psychische Gesundheit (mhfa-ersthelfer.de)
- Innenleben validieren: Mehr Erfahrungen von Betroffenen lesen
Weitere Beiträge aus der Kolumne: