„Es ist alles total egal, außer leben“

Porträt

Ein kalter Novembertag in Berlin-Mitte. Münzstraße. Eine Boutique reiht sich an die nächste. Passantinnen und Touristen kämpfen um den letzten Platz in der Tram. Der Geruch von Kaffee und Regen liegt in der Luft. Nur wenige Meter von der belebten Straße wartet Rebecka Heinz in einem ruhigen Café im Innenhof eines Berliner Altbaus auf mich. Durch eine Glasfensterfront winkt sie und lächelt. Im Inneren des Cafés schmücken blaukarierte Fliesen die Wände. Meine Gesprächspartnerin bestellt sich einen Cappuccino mit Hafermilch und ein Müsli mit Bienenpollen und wundert sich. „Das höre ich auch zum ersten Mal“, sagt sie, lacht und beginnt zu erzählen.

Nie Stillstand

Anfang 2019 beendet Rebecka Heinz ihre Stelle als Geschäftsführerin des Deutschen Musikpreises beim Bundesverband Musikindustrie. Sie will sich selbstständig machen. Doch bevor es mit der Arbeit losgeht, zieht es sie hinaus in die Welt. Sie fliegt nach Marokko, bereist mit ihrem Hund und ihrem Auto Frankreich, Spanien und Italien. Dabei sucht sie sich immer Unterkünfte, die „so schön sind, dass man am liebsten sofort einziehen würde“.

Ihr Leben steht nie still. Heinz ist voller Energie. „Wenn etwas nicht funktioniert, finde ich eine Lösung“, so ihr Credo. Ihre freie Zeit verbringt sie gerne mit Freundinnen, Freunden und Familie. Sie wohnt in einer ruhigen Gegend in Berlin, die Mischung aus Stadt und Natur gibt ihr Energie. „Mir ist es wichtig, immer eine Balance zu haben. Gerade weil ich ein sehr sprudelnder Mensch bin, brauche ich meine Ruheräume.“

Auch anderen Menschen beschert Heinz gerne das Gefühl der Balance: „Ich habe ein sehr gutes Gespür für Menschen und eine große Offenheit und emotionale Stabilität in mir.“ Im Dezember 2019 gibt sie die Selbstständigkeit offiziell bekannt, im Januar 2020 nimmt sie die ersten Aufträge entgegen. Sie berät Unternehmen bei Veranstaltungsprojekten.

Noch im gleichen Jahr macht ihr die Coronapandemie, wie vielen anderen, einen Strich durch die Rechnung. Heinz ist schwanger und im Mutterschutz. Da Präsenzveranstaltungen wegfallen, wird auch ihr Geschäftsmodell vorerst auf Eis gelegt. Ihr steht wenig Geld zur Verfügung. Doch sie bleibt positiv. Zeit im Wald erdet sie, Laufen und Yoga helfen. Eigentlich fühlt sie sich trotz Schwangerschaft so fit und ausgeglichen wie lange nicht mehr.

Wenn sie heute Fotos aus der Zeit sieht, stellt sie sich oft die Frage, ob sie damals irgendwelche Zeichen übersehen hat – Veränderungen an ihrem Aussehen, die darauf hindeuten würden, dass sie zu dem Zeitpunkt eigentlich schon sehr krank war.

Mit dem Frühling kommt im Mai 2020 auch ihre Tochter auf die Welt. Ein neues Kapitel beginnt. Auch ihre Arbeit stimmt sie darauf ab – Heinz berät von nun an Unternehmen bei Kommunikationsprojekten. Um Kind und Karriere zu vereinbaren, arbeitet sie von zu Hause aus. Im August 2021 beginnt die Eingewöhnung bei der Tagesmutter. Stolz verkündet sie ihren Klientinnen und Klienten: „Ab jetzt kann ich zu normalen Zeiten arbeiten.“

Die Diagnose

Im Herbst 2021, beim Abstillen, bemerkt sie vermeintliche Milchreste, die einfach nicht verschwinden wollen. Drei Tage später findet sie sich bei der Frauenärztin wieder und sieht im Ultraschall zum ersten Mal den „großen schwarzen Fleck“ auf einem Monitor.

Ihre Frauenärztin schlägt Alarm. Verweist sie in die Radiologie. Heinz bekommt noch für den darauffolgenden Montag einen Termin. Eine Gewebeprobe wird entnommen. Bei der Untersuchung wird ihr versichert, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Es handele sich um ein Fibroadenom. Das sei nur eine gutartige Verklebung. Abends geht sie mit ihrer Familie Sushi essen. „Ich sehe uns da noch immer im Restaurant sitzen, wie wir uns alle dachten: Okay, noch mal Glück gehabt.“ Als das Ergebnis freitags noch nicht eingetroffen ist, ruft Heinz bei der Frauenärztin an, dann in der Radiologie – lässt sich sogar die Nummer vom Labor geben. „Im Labor meinten sie dann, es musste noch mal etwas immunhistologisch nachuntersucht werden. Da wusste ich: Das klingt nicht mehr ganz so cool.“

18. Oktober 2021. Heinz telefoniert die gleiche Reihenfolge ab – ihr lösungsbasierter Ansatz zieht sich durch ihr Leben wie ein roter Faden. Am Nachmittag kommt der Anruf ihrer Frauenärztin: „Frau Heinz, sitzen Sie?“ Sie erfährt zum ersten Mal von ihrer Brustkrebsdiagnose. Die Kurzschlussreaktion? Geheimhalten! Bloß niemand soll von dem Brustkrebs erfahren: Familie, Partner, Freundeskreis – sie alle sollen schweigen. „Ich dachte, wir können das jetzt einfach wegschneiden, das muss gar niemand mitkriegen.“ Doch bald wird ihr klar, das wird sie monatelang begleiten. Nach der Diagnose kommt die Staging-Phase. „In der wird festgestellt, ob du heilbar bist oder nicht.“ Auch wenn die Antwort darauf unklar ist, vereinbart Heinz alle Termine, die nötig wären, wenn eine Chemotherapie möglich ist.

Die guten Nachrichten erreichen sie: Der Krebs ist heilbar! Während der Chemotherapie gibt es für Heinz wenig Stillstand. „Mir ging es eigentlich relativ gut. Die Infusionen und die Tage danach waren unvorstellbar hart. Aber im zweiten Chemoblock war es besser. Ich musste ja auch funktionieren – ich habe eine Tochter.“ Nach der Chemo habe sie sich Burger und Pommes geholt, sich ins Bett gelegt, drei Stunden geschlafen, dann ihre Tochter bei der Kita abgeholt und ungefähr zwei Stunden mit ihr verbracht.

Ein Lebensmotto

„The only way is through“ – das Motto brachte Rebecka Heinz durch die Therapie. Neben Familie und Freundschaften habe es ihr geholfen, weiterzumachen, wo es möglich war. Entscheidungen zu treffen. Neue Strukturen und Routinen zu finden. Vor der ersten Chemotherapie malte ihre Ärztin ihr eine Timeline auf.

Darin war genau beschrieben, an welchem Tag sie mit welchen körperlichen Reaktionen zu rechnen hatte. Sogar den Tag, an dem sie ihre Haare verlieren würde. So entstand für Heinz ein Gefühl von Kontrolle. Ein fester Plan. Und vor allem: Trotz Krankheit ein gewisses Gefühl von Selbstbestimmtheit.

In der ersten Chemotherapie arbeitete Heinz weiterhin. In der zweiten wurde ihr Medikament umgestellt. Keiner konnte sagen, wie sie darauf reagieren würde und auch bei der anschließenden Mastektomie, der Amputation der Brüste, war unklar, wie lange sie brauchen würde, um sich davon zu erholen – so konnte sie unmöglich ihre Kundenprojekte weiter koordinieren.

Das zwang sie von Januar bis August 2022 auch beruflich zu einer Pause. Gleichzeitig war es die Zeit, in der ihre heutige Initiative Eine von acht ihren Ursprung nahm. Heinz begann, all die Quellen und Informationen zu bündeln, die sie nach der Diagnose selbst zusammensuchen musste. Wer online nach Krebs sucht, werde mit dem Tod konfrontiert. „Du liest die ganze Zeit nur, dass so viele Leute daran gestorben sind.“ Sie wusste, dass es einen anderen Weg geben musste, war voller Motivation, anderen Frauen künftig diesen Weg zu erleichtern.

So entstand Eine von acht in erster Linie als Informationsplattform – ehrenamtlich und sorgfältig kuratiert. Ihr ursprünglicher Wunsch, über den Krebs zu schweigen, wurde vom Gegenteil überwältigt. Laut werden, darüber sprechen, maximale Offenheit – das war die neue Devise. „Wenn jedes Jahr 70.000 Frauen das kriegen, kann es nicht sein, dass wir nicht über die Krankheit sprechen können.“

Karrierekiller Krebs

Nach einem Medienbericht über ihren Krankheitsweg wurde Heinz mit Nachrichten von anderen Betroffenen regelrecht überflutet. Für sie stand fest: Sie muss mit diesen Frauen sprechen. So begann sie noch während der Chemotherapie, über fünfzig Frauen mit dem gleichen Schicksal zu interviewen, auch zum Thema Arbeit. Heinz selbst traf bei ihren Kunden auf viel Verständnis. Andere Frauen dagegen berichteten ihr von einer Abmahnung des Arbeitgebers nach Einreichen der Krankmeldung oder von Zwangsversetzungen. Auch im Recruiting-Prozess werde fleißig ausgesiebt, wenn eine Krebsdiagnose vorliegt oder gar der Krebs erst vor kurzem diagnostiziert wurde, erfuhr Heinz. „Dann wird dein Krebs zum Karrierekiller. Eine unfaire, doppelte Bestrafung.“

Das Tabu brechen

Eine von acht muss gegensteuern, das war für Heinz klar. Betroffene sollten Unterstützung beim Wiedereinstieg in den Beruf erhalten. So wurde aus dem anfangs ehrenamtlichen Projekt die neue hauptberufliche Tätigkeit von Rebecka Heinz, aus der Infoplattform wurde eine GmbH. Schnell realisierte sie, dass es für eine berufliche Rehabilitation beide Seiten braucht und begann, neben den Betroffenen auch Führungskräfte, Mitarbeitende und HR-Verantwortliche mit einzubeziehen.

Mit Eine von acht will Heinz einen guten Umgang mit Krebs im Arbeitskontext schaffen. Weg von Diskriminierung und Stigmatisierung. Hin zu einem offenen Austausch auf Augenhöhe. Für Betroffene bietet sie Kurse zur Vorbereitung auf den Wiedereinstieg in den Job an. Für Arbeitgeber gibt es Trainings für Führungskräfte und Starterkits.

Gesehen werden

Rebecka Heinz sprudelt immer wieder vor neuen Ideen. Aktuell plant sie eine Fotoausstellung im Haus der Statistik, wo wir gemeinsam hinspazieren. Ausgestellt werden sollen Ganzkörperporträts von Frauen nach der Chemotherapie. Heinz’ Augen leuchten, als sie von der Ausstellung erzählt. „Das wäre so cool, wenn man von hier draußen schon die Frauen sieht“, spekuliert sie aufgeregt und zeigt dabei auf eine bodentiefe Fensterfront. Fotografiert werden sollen die Frauen mit der „Imago-Kamera“, einer Kamera, die es nur ein einziges Mal auf der Welt gibt, am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg. „Um ein Portrait zu schießen, betritt die Person eine Kammer und sieht sich selbst im Spiegel. Und zwar genau so, wie sie später auf dem Foto von anderen
gesehen wird“, erklärt Heinz.

So sollen die Frauen selbstermächtigt entscheiden, wie Besucher der Ausstellung sie wahrnehmen. „Wir müssen mit dem Klischee brechen, dass bei Krebs immer alle sofort an Glatzenbilder in pastelligem Rosarot denken. Die Glatze ist nur eine kurze Phase in der Therapie. Wir sind mehr als das.“ Die Zielgruppe soll neben Betroffenen und Interessierten vor allem aus Arbeitgebern bestehen. Heinz und Anna Papadopoulos, Partnerin von Eine von acht, wollen den Ausstellungsort zum Kommunikationsanlass machen: eine Spielwiese für Workshops, Trainings und Aufklärungsarbeiten. Noch ist unklar, ob und wie die Ausstellung finanziert werden kann – eine Hürde stellt das für Heinz allerdings nicht dar: „Wenn es nicht in diesem Jahr stattfindet, dann eben im nächsten!“

 

© Mo Wüstenhagen

Ein neues Leben

Der Blick auf Frauen nach der Chemotherapie, auf den Heinz in der geplanten Ausstellung so viel Wert legt, scheint von ihrem eigenen Lebensweg inspiriert zu sein. Während der Chemotherapie habe sie sich oft gefragt, wie die Version ihrer selbst danach wohl sein würde. In Kurzfassung sagt sie heute: „Es ist alles total egal, außer leben.“ Wer Brustkrebs hat, wird mit Fünf- oder Zehnjahresprognosen konfrontiert. Auch wenn die Überlebenschancen bei Brustkrebs heute sehr gut seien, rege das an, das Leben neu zu priorisieren – eine radikale Inventur vorzunehmen.

Seitdem fragt sich Heinz regelmäßig: Was will ich in meinem Leben haben und was nicht? Auch ihre Perspektiven auf Leistung und Arbeit haben sich verändert. Als Angestellte arbeitete Heinz rund um die Uhr. „Ich bin morgens durch den Tiergarten geradelt, als so gut wie niemand auf den Straßen war und abends zurück, als alle schon zu Hause waren.“ Heute genießt sie die Freiheit, die mit der Selbstständigkeit einhergeht. Arbeit fühlt sich weniger wie eine Verpflichtung, sondern vielmehr wie eine freiwillige Entscheidung an. Mehr Zeit mit ihrer Tochter macht sie glücklich.

Keine Low Performer

„Einer der größten Fehler, die wir machen können, ist es, Menschen, die an Krebs erkrankt sind oder waren, als Low Performer abzustempeln“, sagt Heinz. „Wir können nicht die ganze Zeit über den Fachkräftemangel jammern und dann Leute, die fit sind, aber eine Krankheit hatten, ausschließen.“ Denn selbst wenn die Krankheit durchaus den Berufsalltag beeinflussen kann, sollte die Entscheidung, ob und in welchem Umfang eine Person arbeitsfähig ist oder nicht – so Heinz – immer bei der Person selbst liegen.

„Ich wünsche mir, dass wir noch mehr ins Gespräch mit den Unternehmen kommen, dass wir mehr Unsicherheiten abbauen, ein Miteinander im Sinne aller Beteiligten schaffen und die Weichen für einen neuen Umgang mit Krebs finden“, sagt Rebecka Heinz und macht sich auf den Heimweg.


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Über Rebecka Heinz:

Rebecka Heinz ist Managerin, Strategieberaterin, Kommunikationsexpertin, zertifizierte Businesscoachin und Mediatorin mit Zusatzausbildungen in Karriereberatung, Potenzialanalyse, Personality Profiling und hypnotherapeutischer Kommunikation. Sie war in leitender Position in der Musikindustrie tätig und betreute für den BVMI die Verleihung und TV-Produktion des Deutschen Musikpreises. Im Jahr 2021 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert und sie begann sich mit dem Thema Krebs im beruflichen Kontext auseinanderzusetzen. 2022 gründete sie ehrenamtlich das Projekt Eine von acht, seit 2024 widmet sie sich auch hauptberuflich dem Thema „Arbeiten mit und nach Krebs“.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Performance. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Salome Häbe

Salome Häbe ist Junior-Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager. Dort absolvierte sie zuvor ihr Volontariat. Sie hat einen Bachelorabschluss in Internationaler Kommunikation und arbeitete neben dem Studium freiberuflich im Bereich der Nachhaltigkeit für mehrere Online-Magazine.

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