Viele der neuen Digitalexperten werden zu Heilsbringern auserkoren und stehen plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Doch nur, wenn auch die anderen Mitarbeiter für ihre Leistungen wertgeschätzt werden, kann der gemeinsame Wandel gelingen.
Manchmal geht es in Vorstandsetagen nicht anders zu als in einem Kinderzimmer: Ein neues, aufregendes Spielzeug lässt die übrigen in Vergessenheit geraten. Ein Phänomen, das aktuell in vielen Unternehmen seine Entsprechung im Chief Digital Officer (CDO) findet. Ihm wird die Planung und Umsetzung in Richtung digitales Unternehmen überantwortet.
In Phasen großen Erfolgs werden die Mitarbeitenden der Digital-Abteilung von der Führungsebene mit Bestätigung und Begeisterung überhäuft. Meist handelt es sich um Vorschusslorbeeren. Dem Rest der Mannschaft wird dadurch implizit oder sogar explizit vermittelt: Ihr gehört zum alten Eisen. Offene oder unausgesprochene Rivalitäten sind das Ergebnis. Die Motivation der Alteingesessenen sinkt bisweilen bis zu dem Tiefpunkt, an dem sie das neue digitale Geschäft blockieren. „Wir haben das auf subtile Weise gemerkt“, erinnert sich Peter Fregelius von dem Schweizer Telekommunikationsunternehmen Swisscom, der mit seinem Team ein digitales Blockbuster-Produkt entwickelt hat. „Meetings mit uns wurden verschoben. Einige Alteingesessene haben immer wieder ‚vergessen‘, wichtige Dokumente an uns zu senden.“
Auch Eric Hofmann, ehemaliger Marketing-Direktor des Online-Auftritts von Peek & Cloppenburg berichtet: „Manchmal kam es vor, dass die ‚alten‘ Mitarbeitenden von den ‚neuen Digitalen‘ abgewertet wurden, weil diese sich als besonders bedeutsam empfanden. Das hat schnell zu ausgesprochenen oder unausgesprochenen Spannungen geführt. Diese lösten sich erst auf, als die ‚neuen Digitalen‘ begannen, die anderen Mitarbeitenden wertzuschätzen und ihren Beitrag zu würdigen.“ Was passiert, wenn Mitarbeitende sich durch den Chef oder die digitalen Kollegen unfair behandelt fühlen, lässt sich neuronal messen. Stellen Sie sich vor, Sie wären Testperson in einem wissenschaftlichen Experiment und lägen in einem Hirnscanner. Ich lege 100 Münzen à zehn Cent auf den Tisch. Fünf dieser Münzen erhalten Sie. 95 der Münzen erhält ein Kollege von Ihnen. Während Sie realisieren, dass Sie gerade benachteiligt werden, wird Ihr Gehirn im Bereich der vorderen Inselrinde eine hohe Aktivität zeigen, in dem Empfindungen wie Schmerz, Stress, Hunger und Durst, aber auch Wut und Ekelgefühle ihren Ort entstehen.
Hätte ich die Münzen jedoch gerecht aufgeteilt, wären andere Bereiche Ihres Gehirns aktiv geworden: Ihr ventrales Striatum, der präfontale Cortex und ein Teil der Amygdala. Diese drei Strukturen gelten in ihrer gemeinsamen Funktion als Teil des Belohnungssystems. Das Gefühl, fair behandelt zu werden, ist also neuronal messbar.
Gemeinsam statt einsam
„Nur weil die digitale Transformation gerade ein Fokus-Thema ist, dürfen wir den anderen Mitarbeitenden für das, was sie bisher erreicht haben, nicht den Stolz nehmen“, sagt Karsten Ottenberg, CEO von Bosch-Siemens Hausgeräte. „Es ist eine wichtige Führungsaufgabe, immer wieder darauf zu achten, dass es kein ‚wir‘ und ‚die‘ gibt, dass keine neuen Silos aufgebaut werden“, so der Geschäftsführer.
Nina Hugendubel, Eigentümerin der gleichnamigen Buchhandelskette, hat genau das bei der Einführung des E-Readers Tolino beherzigt. Die Unternehmen Thalia und Hugendubel wollten mit dem E-Reader dem Amazon-Konkurrenzprodukt Kindle die Stirn bieten. Manche der Mitarbeitenden in den Buchläden aber sahen dem neuen Produkt anfangs mit gemischten Gefühlen entgegen: Schließlich kann jeder Tolino-Nutzer bequem von zu Hause aus seine E-Books bestellen. Schlimmstenfalls kommt er danach nicht mehr in das Ladengeschäft, und den Buchhandlungen geht Umsatz verloren.
Schmerzensgeld statt Würdigung
Nina Hugendubel nahm diese Sorgen ernst. Sie ist durch Deutschland gereist, um Mitarbeitende persönlich vor Ort zu treffen. „Wie es bei vielen großen Veränderungen der Fall ist, so erfordert auch dieses Thema einen längeren begleitenden Prozess“, sagt Hugendubel. Das persönliche Engagement hat sich gelohnt. Das Amazon-Pendant hat massiv Marktanteile verloren. Und auch im Unternehmen selbst hat die Haltung gewirkt: „Die Digitalisierung birgt für viele Unternehmen das Risiko der Friktion. Bei uns habe ich jedoch den Eindruck, dass wir bei Hugendubel heute enger und besser zusammenarbeiten als zuvor“, so die Eigentümerin.
Auch heute noch gilt das Motto „Nicht gemeckert ist gut gelobt“ bei manchen Chefs als Leitbild guter Führung. Wertschätzung und Würdigung gehören nicht zum aktiven Wortschatz dieser Führungskräfte. Einige Unternehmen mögen zwar ihren Mitarbeitenden ein gutes Schmerzensgeld als Kompensation für schlechte Vorgesetzte zahlen – doch die Potenziale ihrer Angestellten werden nicht ausgeschöpft: Das persönliche Engagement und die Ideen für das Unternehmen bleiben verborgen.
Gehalt oder Bonuszahlungen können für manche Menschen eine Form der Anerkennung sein. Jedoch löst eine persönliche Würdigung eine ganz andere Form der Dynamik bei Mitarbeitenden aus. Eine 2014 veröffentlichte Studie des Chip-Herstellers Intel belegt das eindrucksvoll: Zwar zeigten die Beschäftigten, die einen finanziellen Bonus statt einer persönlichen Danksagung durch den Chef erhielten, kurzfristig mehr Leistung. Doch bereits nach kurzer Zeit sank die Produktivität dieser Mitarbeiter rapide – sogar noch unter den Anfangswert. Die Mitarbeitenden hingegen, die eine persönliche Wertschätzung für das Erreichte erhalten hatten, waren langfristig motivierter und erbrachten bessere Leistungen.
Dass ein neues Spielzeug zu Beginn aufregend erscheint, ist menschlich. Dass die gesteigerte Aufmerksamkeit aber keinesfalls auf Kosten der übrigen Mitarbeitenden gehen sollte, ist sogar den meisten Mitgliedern der Digital-Abteilungen klar. „Karsten Ottenberg hat uns zu Beginn sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt“, erinnert sich Bosch-Siemens Hausgeräte-CDO Mario Pieper. „Inzwischen hat sich das relativiert. Es ist für alle Beteiligten besser, wenn wir nicht allzu sehr im Scheinwerferlicht stehen. Denn vieles, was wir tun, baut auf dem auf, was die 50.000 anderen Kollegen schon vor uns geleistet haben.“