Wenn der Chat explodiert

Buzzword Blues

Wir alle haben uns in einem Videocall schon mal zu Tode gelangweilt. Denn so wunderbar flexibles Arbeiten auch sein mag, so schränkt es doch die soziale Dimension von Arbeit ein wenig ein. Bis im Chat plötzlich der Kommentar einer Kollegin aufploppt, der so trocken und punktgenau ist, dass man sich auf die Lippe beißen muss, um nicht laut loszulachen. Während die Präsentation zu Q3-Zahlen weiterläuft, entfaltet sich oft eine zweite, extrem unterhaltsame Realität in der Chatfunktion. Augenzwinkernde Bemerkungen, Insider-Jokes, aber auch hilfreiche Links oder kurze Rückfragen. Die Chatfunktion ist in vielen Unternehmen einer der wenigen Orte, wo in der digitalen Arbeitswelt noch so etwas wie spontane Bürokultur entsteht.

Polarisierte Diskurse

Doch was, wenn diese digitalen Zwischenräume plötzlich zum Schauplatz ganz anderer Dynamiken werden? In einem großen Medizintechnik-Unternehmen geschah genau das: Was als ganz normaler Videocall zu einer Reorganisation begann, endete abrupt, als anonyme Likes und Kommentare im Chat zu beleidigenden, rassistischen Bemerkungen führten. Der Call musste abgebrochen werden.

Das mag nach einem extremen Beispiel klingen, aber solche oder ähnliche Vorfälle gibt es in vielen Unternehmen. In Zeiten multipler Krisen – von Pandemie über Klimawandel bis hin zu geopolitischen Konflikten – nehmen polarisierte Diskurse zu und fordern Unternehmen auf völlig neue Weise heraus.

Und auch, wenn es erstmal ein Schock sein mag, sich plötzlich mit polarisierten Diskursen befassen zu müssen: Unternehmen sind in gewisser Weise fast besser in der Lage, Diskurse zu lenken, als die Gesellschaft als Ganzes. Denn während Staat und Gesellschaft oft träge und schwer zu bewegen sind, können Organisationen vergleichsweise schnell neue Weichen stellen.

Der entscheidende Vorteil? Ganz einfach: Wer Teil einer Organisation sein möchte, akzeptiert die Spielregeln – sonst ist man eben nicht dabei. Diese schlichte Mechanik gibt Organisationen eine einzigartige Hebelwirkung für Veränderung.

Organisationen sind also mehr als bloß passive Empfänger gesellschaftlicher Dynamiken. Egal ob ein Unternehmen wie die Deutsche Bahn politische Rahmenbedingungen mit wirtschaftlichen Interessen koppelt oder ein Finanzdienstleister sich pro-demokratischen Initiativen anschließt: Sie wirken damit kraftvoll in die Gesellschaft hinein.

Wie eben am Beispiel des Videocalls deutlich wurde, macht der immer rauer werdende Ton in gesellschaftlichen Debatten aber auch vor Organisationen nicht halt. In unseren Interviews wurde von eskalierenden Diskussionen in Social Intranets berichtet, von Bedrohungen für queere Personen durch konservative Kollegen, von zerstrittenen Betriebsratsgremien oder gar Gewaltausbrüchen auf dem Firmenparkplatz.

Was Diskurse begünstigt

Aber wie kommt es dazu? Warum streiten sich die Menschen am Arbeitsplatz statt in der Kneipe, über den Gartenzaun oder am Abendbrottisch? Tatsächlich sind bestimmte Unternehmen anfälliger für überschwappende gesellschaftliche Konflikte als andere. So haben sich bei unserer Studie zu polarisierten Diskursen in Organisationen vier zentrale Faktoren herauskristallisiert, die solche Diskurse begünstigen:

  1. Heterogenität als Spiegelbild gesellschaftlicher Vielfalt: Große Organisationen mit vielfältigen Tätigkeiten und unterschiedlichen Bildungshintergründen kommen einem „Abbild der Gesellschaft“ am nächsten. Mit zunehmender Diversität entsteht ein „Integrationsparadox“ – die erfolgreiche Integration von bisher unterrepräsentierten Gruppen führt zunächst zu mehr Konflikten.
  2. Veränderungen erzeugen Unsicherheit: Wenn gewohnte Pfade verlassen werden, beispielsweise eine Reorganisation ansteht, entsteht Erwartungsunsicherheit und Zukunfts- und Verteilungsängste erzeugen Animositäten. In diesem Schwebezustand werden außerorganisationale Diskurse oft zur Projektionsfläche für die wahren Sorgen und Ängste angesichts der anstehenden Veränderung.
  3. Stark polarisierte Gesellschaften: Organisationen, die in Ländern ansässig sind, in denen bezüglich großer politischer und moralischer Fragen überwiegend Konsens besteht, haben deutlich weniger Probleme mit polarisierten Diskursen als jene in stärker polarisierten Gesellschaften wie den USA.
  4. Der ganze Mensch steht im Fokus: Viele Unternehmen haben die Arbeit zum Ort der Sinnstiftung erklärt. So erhöht sich zwar die emotionale Bindung an den Arbeitgeber und die eigene Tätigkeit, doch persönliche Konflikte finden unweigerlich Eingang in den Arbeitskontext.

Die erste Reaktion vieler Organisationen auf gesellschaftliche Spannungen ist oft nach außen gerichtet. Plötzlich prangen Regenbogenflaggen auf Firmenwebsites und Diversity-Kampagnen zieren ganze Plakatwände. Auch in den sozialen Medien positioniert man sich. Gegen Krieg, Vertreibung und Ausbeutung. Dabei aber stets abstrakt genug, um kein klares Bekenntnis für die eine oder die andere Seite abgeben zu müssen. Früher standen auf dieser sogenannten „Schauseite“ – also der öffentlich sichtbaren Fassade der Organisation – vor allem Werte wie Zuverlässigkeit, Traditionsbewusstsein, Qualität oder Innovation. Heute kommen Nachhaltigkeit, Diversität und Menschenrechte hinzu.

Natürlich steckt dahinter auch ein wirtschaftliches Kalkül: Wer zeitgemäß wirkt, gewinnt Kunden. Kritiker sprechen dann schnell von „Greenwashing“ oder „Rainbow-washing“. Und tatsächlich: Wenn die schöne Fassade nicht mit Substanz gefüllt wird, droht sie bei jedem kritischen Vorfall einzustürzen und das ist dann schlecht für Reputation und Glaubwürdigkeit.

Strukturen und Regeln

Eine wichtige Frage lautet daher: Welche formale Struktur, also welche konkreten Regeln gelten innerhalb der Organisation? Codes of Conduct und Dienstvereinbarungen geben vor, welche Verhaltensweisen akzeptiert werden und welche nicht. Sie definieren Sanktionen und Eskalationswege bei Verstößen.

Das Interessante: Schon das bloße Vorhandensein solcher formalen Programme wirkt verhaltensprägend. Mitarbeitende gehen davon aus, dass alle anderen sich an diese Regeln halten – und tun es deshalb oft selbst. So sind Sanktionen tatsächlich selten nötig. Entscheidend ist aber, dass diese Regeln konkret genug formuliert sind, um im Zweifel auf Worte auch Taten folgen lassen zu können.


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Doch selbst die besten formalen Regeln können die dritte, informelle Ebene der Organisation nicht vollständig durchdringen. Hier geht es um die Witzeleien an der Kaffeemaschine, die mögliche Benachteiligung einzelner Mitarbeiter oder Mitarbeitergruppen bei der Schichtplangestaltung oder den Umgangston in der Raucherecke.

Während hierarchische Strukturen in Krisenzeiten häufig strapaziert werden, braucht es in dieser direkten Interaktion vor allem eines: Führung. Es braucht Personen, die in konkreten Situationen spontan moderierend eingreifen können und wollen. Damit dies gelingen kann, müssen sie jedoch mit den richtigen Sanktionsmitteln und Kompetenzen ausgestattet sein. Kurz gesagt: Menschen, die so in Führung gehen, brauchen Rückendeckung durch die formale Organisation. Die Kunst liegt hier im Ausbalancieren zwischen festgelegten Verantwortlichkeiten und der Erwartung, dass situativ jede gefordert ist. Weder reine Stabsstellen noch unstrukturierte Selbstorganisation führen zum Ziel.

Umgang mit Debatten bewältigen

Wie also konkret umgehen mit der neuen Realität polarisierter Debatten im Arbeitsalltag? Drei Strategien erweisen sich als besonders praxistauglich: Erstens, Diskurse nicht im Verborgenen brodeln lassen, sondern aktiv ins Gespräch bringen. Konkret bedeutet das: Problematische Kommentare im Intranet nicht stillschweigend löschen, sondern das Gespräch mit der Belegschaft suchen. Das mag banal klingen, wird aber selten gemacht – dabei ist eine ehrliche Bestandsaufnahme der erste Schritt zu einer produktiven Lösung.

Zweitens, Diskurse gezielt kanalisieren: Statt bei Leitbildern auf wolkige Formulierungen zu setzen, lohnt es sich, darin auch Spannungsfelder direkt anzusprechen und geeignete Diskursformate anzubieten.

Und drittens – das organisationale Handwerk: Wer interne Kommunikationswege, Programme und Personalentwicklung präzise gestaltet, schafft einen stabilen Rahmen, in dem auch hitzige Debatten nicht gleich den Betrieb lahmlegen.

Auch wenn die „Rettung der Welt“ nicht die primäre Aufgabe von Organisationen ist – sie verfügen über das Rüstzeug, einen nicht unerheblichen Teil des Lebens ihrer Mitglieder mitzugestalten. Und oftmals bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, da die Produktivitätseinbußen durch schwelende Konflikte und politische Auseinandersetzungen durchaus real sind.

Anders gesagt: Durch gute Organisationsgestaltung lässt sich das Gute mit dem Nützlichen verbinden. Denn wer dafür sorgt, dass für alle Mitglieder gute Arbeit in guten Verhältnissen möglich ist, der schafft nicht nur gute Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg, sondern leistet auch einen positiven Beitrag zum gesellschaftlichen Klima.

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Judith Muster, Metaplan

Dr. Judith Muster

Judith Muster ist Beraterin, Wissenschaftlerin und Publizistin. Als Partnerin bei Metaplan berät sie Unternehmen und Verwaltungen bei Reorganisationen, Strategieentwicklung und Kulturwandel – schwerpunktmäßig in großen Konzernen. Als Wissenschaftlerin forscht, lehrt und publiziert sie an der Universität Potsdam zu organisatorischen Implikationen der Digitalisierung, postbürokratischen Organisationsmodellen und den Möglichkeiten und Grenzen von Führung. Sie ist (Co-)Autorin der Bücher Die Humanisierung der Organisation (Vahlen, 2022) und Postbürokratisches Organisieren (Vahlen, 2021) und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet, zuletzt vom Personalmagazin als einer von 40 führenden HR-Köpfen.

Lars Gaede

Lars Gaede ist Soziologe und diplomierter Journalist. Nach einer journalistischen Karriere unter anderem bei Die Zeit, Wired und Deutsche Welle hat er “Work Awesome” gegründet, eine Konferenzreihe zur Zukunft der Arbeit in New York und Berlin. Seit 2019 berät er bei der soziologisch arbeitenden Organisationsberatung Metaplan zu Themen wie Kulturgestaltung, Führung, Innovation und organisationalen Veränderungen. Außerdem konzipiert und kuratiert er digitale und analoge Lern- und Diskursformate und entwickelt Kommunikationsstrategien für deutsche und internationale Kunden.

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