„Wir stehen erst am Anfang des Problems“

Fachkräftemangel

Frau Stippler, das KOFA spricht in einer seiner Veröffentlichungen von einem Rückgang des Fachkräftemangels, aber nicht von Entspannung. Wie ist die Lage derzeit und besonders die Entwicklung seit der Coronazeit?

Sibylle Stippler: Wir nutzen für unsere Berechnungen Zahlen der amtlichen Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Im Vergleich zu Meldungen von Verbänden, die den Bedarf an Fachkräften oft aufgrund von Mitgliederbefragungen erheben, ist die von uns berechnete Fachkräftelücke kleiner. Im Jahr 2022 konnten rechnerisch mehr als 630.000 offene Stellen für qualifizierte Fachkräfte nicht besetzt werden – rechnerisch deshalb, weil diese Zahl voraussetzt, dass jede Fachkraft bereit wäre, deutschlandweit jeden passenden Job anzunehmen. Im Jahr 2023 fehlten in der deutschen Wirtschaft 570.535 Fachkräfte. Für Unternehmen ist es also trotz eines Rückgangs des Fachkräftemangels weiterhin schwer, passend qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Wenn in einem kleinen Unternehmen zwei Personen fehlen, die Maschinen bedienen können oder eine andere Schlüsselqualifikation mitbringen, kann das schon Stillstand oder hohe Verluste bedeuten.

Welche Branchen und Berufe sind besonders vom Mangel betroffen?

Dies sind interessanterweise in erster Linie die geschlechtertypischen Berufe. Also Erzieherinnen, Physiotherapeutinnen, Bau- und Elektrik-Fachleute, Kraftfahrzeugtechniker, Lkw- und Busfahrer. Auch in der Sozialarbeit und in der Sozialpädagogik werden dringend Fachkräfte gesucht.

Das sind die Berufe, die gemeinhin wenig Anerkennung bekommen. Jahrzehntelang haben Gesellschaft und Politik eher Abitur und Studium für möglichst viele junge Menschen angestrebt. Rächt sich das jetzt?

Viele Jahre lang hat man gesagt, uns fehlen Akademiker, Ingenieure, ITler. Heute gibt es kaum eine Branche im Mittelstand, wo im Fachkräftebereich kein Mangel herrscht. Und es wird noch zunehmen, denn wir stehen erst am Anfang des Problems. Denn die geburtenstarken Jahrgänge – das sind auch diejenigen, die sehr stark als Fachkräfte in Ausbildungsberufen vertreten sind –, gehen jetzt in Rente.

Brauchen Ausbildungsberufe und Fachkarrieren allgemein ein neues, positives Image? Früher sagte man: Handwerk hat goldenen Boden.

Ich stimme zu, dass der Akademisierungstrend in den letzten Jahrzehnten überhandgenommen hat, und das verschafft uns eben jetzt das große Problem. In Fachkräfteberufen, also Ausbildungsberufen, ist der Mangel am größten. Es gibt zwar zahlreiche Kampagnen, wie die vom Zentralverband des Deutschen Handwerks, oder es gibt zum Beispiel den Sommer der Berufsausbildung, der von den Sozialpartnern, der Bundesagentur für Arbeit und mehreren Ministerien zusammen ausgerichtet wird. Solche Kampagnen sind gut, um öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen und um die wichtige Zielgruppe der Eltern zu erreichen. Ich glaube aber nicht, dass dies allein wirklich die jungen Menschen dazu bewegt, eine Ausbildung zu machen.

Woran liegt das?

Das ist eine Gesellschafts- und eine Kulturfrage, die kann sich jeder selbst stellen: Wenn ich als Akademikerin von meinem Kind höre: „Mama, ich möchte eine Ausbildung machen.“ Unterstütze ich diese Idee gleichermaßen, wie ich ein Studium fördern würde? Was wir brauchen, ist die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung. Das ist ein großes Thema.

Was könnte man tun, um Ausbildungsberufe aufzuwerten?

Wir haben 327 Ausbildungsberufe in Deutschland, davon sind die meisten überhaupt nicht bekannt. Vielleicht könnten wir als Fachleute 20 auf Anhieb nennen. Es gibt also eine große Vielfalt von Berufen, in die junge Menschen ihre Stärken einbringen könnten. Wir müssten dringend schon in der Schule aufzeigen, dass nicht jeder Jugendliche in einem Studium gut aufgehoben ist, ein Drittel Studienabbrecher sprechen für sich. Eine Berufsorientierung, die die Interessen und Potenziale der Jugendlichen in den Fokus stellt, kann meiner Meinung nach gar nicht früh genug anfangen.

Gerade bei den Pflegeberufen stellt sich die Imagefrage stark, dies wurde in der Coronazeit deutlich. Wir brauchen wirklich eine Wertschätzung für die Leistungen, die in sozialen Berufen stattfinden. Und es bewegt sich auch etwas: Die durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen in Pflegeberufen sind in den letzten zehn Jahren um rund ein Drittel und damit stärker als in der Gesamtwirtschaft gestiegen. Durch die Energie- und Mobilitätswende sind auch andere Berufe wieder ins Blickfeld geraten wie Dachdecker oder Heizungsbauer, Zweiradmechaniker oder Bauelektriker. Für diese Berufe, die derzeit eine hohe gesellschaftliche Relevanz haben, steigt auch das Ausbildungsinteresse wieder.

Welche Vorzüge sollten KMU herausstellen, um Fachkräfte oder Nachwuchs zu finden, und was können sie tun, um sichtbarer zu werden?

KMU machen sich ihre Vorzüge als Arbeitgeber oft selbst nicht klar. Das wäre der erste Schritt. Der zweite Schritt wäre, im Vergleich mit den „Großen“ nicht zu kapitulieren, sondern selbstbewusst aufzutreten. Die Mitarbeitenden haben oft eine jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Bindung ans Unternehmen. KMU könnten diese Menschen für sich sprechen lassen, auf der Website oder in Social Media. Es gibt ja Gründe, warum die Menschen so lange dort sind. Vielleicht, weil die Hierarchien in KMU flacher sind und man eher eine Selbstwirksamkeit erleben kann. Es gibt kurze Entscheidungswege und oft auch eine regionale Einbindung des Unternehmens. Gerade Fachkräften ist die Nähe zum Wohnort wichtig. In kleinen Familienunternehmen ist es oft vertrauter und man muss nicht teils unverständlichen Zielen hinterherjagen, um die Aktionäre zufriedenzustellen. Man ist nicht nur so ein Rädchen im Getriebe, es ist familiärer, und viele kleinere Unternehmen sind zudem sogar international und sehr innovativ unterwegs. Es ist der Job von CEOs und Personalverantwortlichen in KMU, diese Stärken und Besonderheiten herauszustellen und nach draußen zu transportieren. Dabei sollte man auch Arbeitgeber-Bewertungsportale nicht unterschätzen und im Blick haben. Vielleicht kann man die eigenen Mitarbeitenden motivieren, hier das Unternehmen weiterzuempfehlen. Es fällt KMU besonders schwer, sich von alten Gewohnheiten zu verabschieden. Das beginnt beim Recruiting, wenn es beispielsweise darum geht, Stellen in Teilzeit auszuschreiben oder Anforderungsprofile nicht zu streng einzugrenzen, bis zum professionellen Austrittsmanagement, um Mitarbeitende vielleicht später zurückgewinnen zu können. Die Metall- und Elektroindustrie öffnet sich beispielsweise immer mehr für Quereinsteigende. Es ist ein großes Potenzial, ungelernte Menschen für die eigenen Bedürfnisse anzulernen und weiter zu qualifizieren. Obwohl wir derzeit in der Fläche noch keinen Arbeitskräftemangel haben. Das kann regional aber unterschiedlich sein.

Im Jahr 2021 waren laut KOFA 630.000 junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren ohne Schulabschluss, ohne Anstellung und ohne Weiterbildung. Sie werden auch NEETs genannt, für No Education, Employment, Training. Wie passt das mit dem Fachkräftemangel zusammen?

Diese Menschen sind schwer zu erreichen, aus Forschungsperspektive teilweise gar nicht. Weil sie zwar da sind, aber doch nirgendwo zu finden. Es gibt zwar Programme wie assistierte Ausbildung oder Einstiegsqualifizierung, die Unternehmen in Anspruch nehmen können, aber wo soll man die NEETs gezielt ansprechen? Unternehmen könnten auf jeden Fall bei eher unprofessionellen Bewerbungen aufmerksam werden und genau schauen, welcher Mensch dahintersteckt. Wir sind in Deutschland immer noch sehr abschlussorientiert. Praktika oder ein paar Tage Probearbeit bringen für beide Seiten viel Klarheit und sind oft der Einstieg in eine spätere Ausbildung. Die Möglichkeiten zum persönlichen Kennenlernen wurden durch das neue Berufsorientierungspraktikum ausgebaut, das ein sinnvoller Teil der jüngst beschlossenen Ausbildungsgarantie ist. Es richtet sich an junge Menschen ohne Abschluss, die hier auch Zuschüsse für Fahrtkosten oder eine Unterbringung vor Ort erhalten können.

Ungenutztes Potenzial liegt sicher auch in den vielen zugewanderten Menschen. Hat der Job-Turbo der Bundesregierung gewirkt?

Ich höre sehr unterschiedliche Stimmen. Ich denke schon, dass wir dadurch Menschen schneller in Beschäftigung bringen. Aber zu dem Preis, dass Menschen, die eine sehr gute Ausbildung haben, erstmal einen Job annehmen, für den sie deutlich überqualifiziert sind. Als Einstieg und auch angesichts der politischen aufgeheizten Debatte hier in Deutschland hat das sicher seine Berechtigung. Dennoch ist das vorrangige Ziel, Menschen in einen Job zu bringen, der ihrer Qualifikation entspricht. Die Novellierung des Fachkräfte-Einwanderungsgesetzes hat in Richtung Bürokratieabbau schon geholfen. Aber wir haben trotzdem noch große Probleme, gerade bei der Vergabe von Visa, ein Prozess, der oft ewig dauert.

Wie wirken sich die drei „D“ – Digitalisierung, Demografie und Dekarbonisierung – auf die Fachkräftesituation aus?

Es war die Hoffnung, dass die Digitalisierung uns kurzfristig helfen wird – doch das tut sie nicht, wie wir sehen. Aktuell brauchen wir eher mehr Fachkräfte, vor allem solche, die Kompetenzen in IT mitbringen. Insofern führt Digitalisierung derzeit sogar zu einem höheren Fachkräftebedarf, auch wenn sie mittel- und langfristig großes Potenzial birgt. Der demografische Wandel führt auch zu einem Anstieg des Fachkräftebedarfs. Es gibt Regionen in Deutschland, wo die Dekarbonisierung dafür sorgt, dass viele Menschen arbeitslos werden, so dass wir diese im Rahmen der Transformation weiter- oder umqualifizieren müssen. Es braucht hier auch mehr Flexibilität, räumlich wie auch in der beruflichen Passung. Viele Menschen werden in ländlichen Regionen arbeitslos, weil sie einen Arbeitsplatz in Wohnortnähe bevorzugen.

Wird die Lage der KMU jetzt in Zeiten von Krisen und Transformation von der Politik ausreichend gehört und verstanden?

Durch meine Verbindung zum Bundeswirtschaftsministerium weiß ich, dass dort viele Gespräche mit Mittelständlern stattfinden. Es gibt auch viele Werkzeuge, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, sei es zur Integration von Geflüchteten, sei es zum Thema Weiterbildung, sei es zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das Qualifizierungschancengesetz ist wirklich eine Chance. Gerade diese Förderung wird leider noch nicht in dem Umfang abgerufen, wie es möglich wäre. Die Konditionen und das Prozedere müssten vereinfacht werden.

Es ist aber nicht nur eine Frage von politischen Angeboten. Unternehmen und Gesellschaft sind in einer Transformation, in der es auch darum geht, mutig zu sein und die Ärmel hochzukrempeln. Auch wenn ich wirklich weiß, was die Unternehmen alles zu schultern haben, immer nur nach dem nächsten Verband oder der Politik zu rufen, wird nicht funktionieren. Wie schon gesagt: Die KMU könnten selbst mehr tun, um für Mitarbeitende attraktiv zu bleiben oder zu werden. Sie sollten selbstbewusst kommunizieren, wer sie sind, welchen Beitrag sie für unser Land leisten und warum sie so interessante Arbeitsplätze bieten.

Über die Gesprächspartnerin:

Sibylle Stippler ist Diplom-Kauffrau (FH) und Communications Master of Science (MSc). Sie leitet das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) sowie den Themencluster Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte. Das KOFA unterstützt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in ihrer Personalarbeit. Angesiedelt ist das 2011 gegründete KOFA am Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Branding. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sabine Schritt ist leitende Redakteurin beim Human Resources Manager.

Sabine Schritt

Sabine Schritt ist leitende Redakteurin des Magazins Human Resources Manager. Sie war zuvor 25 Jahre als freie Journalistin tätig. Nach verschiedenen Stationen im Tagesjournalismus und bei Ratgeber- und Lifestyle-Publikationen, beschäftigt sie sich seit über 15 Jahren intensiv mit Themen rund um die Arbeitswelt, HR und Führung. Die gebürtige Kölnerin war zudem bis 2012 stellvertretende Chefredakteurin des Schweizer Fachmagazins HR Today in Zürich. Anschließend war sie zehn Jahre als freie Redakteurin für das Fachmagazin Personalführung tätig. Sabines besonderes Interesse gilt den Aspekten:  Zusammenarbeit, Kommunikation, digitale Transformation, Kulturwandel in Unternehmen, Rollenverständnis von HR, Persönlichkeitsentwicklung.

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