„Because it’s iconic, and I love to do iconic shit.“ Während im Hintergrund die Stimme von Kim Kardashian erklingt, dreht sich ein Mitte-50-Jähriger in grauem Businessanzug auf seinem Bürostuhl und grinst in die Kamera. Zehn Sekunden kurz ist das Video. Und wenn er nicht gerade auf seinem Bürostuhl posiert, zeigt sich Rainer Grill auch gerne tanzend, tippend, im Takt wippend, selten seriös. Grill ist Pressesprecher des Ventilatorenherstellers Ziehl-Abegg – und für jeden Spaß zu haben. 110.000 Follower hat der Tiktok-Account des Mittelständlers mittlerweile. Ziehl-Abegg nutzt Tiktok, um über die Ventilatorenbranche hinaus bekannt zu werden und Fachkräfte zu rekrutieren.
Kein Algorithmus ist schneller
Laut dem Buzzbird Trendreport Influencer Marketing 2024 basiert die Ausspielung der Inhalte auf Tiktok auf individuellen Interessen. Unabhängig vom persönlichen Netzwerk, vorhandenen Followern oder der Performance bisheriger Inhalte ergibt sich die persönliche For-You-Seite. „Es gibt keinen Algorithmus, der so schnell herausfindet, wofür du dich interessierst“, sagt Aaron Brückner, Geschäftsführer der Social-Media-Agentur Social Attention. „Ich habe die Chance, viral zu gehen, auch wenn ich noch keine Follower habe“, erklärt Grill. Bei einem Video mit 4,4 Millionen Aufrufen konnte er in den Insights sehen, dass 91 Prozent der Menschen, die das Video gesehen haben, zum ersten Mal auf Ziehl-Abegg aufmerksam wurden: „Das ist so cool! Ich erreiche Millionen von Menschen, die ich nicht kenne.“ „Tiktok“, so Brückner, „ist kein One-Hit-Wonder. Es ist da, um zu bleiben.“ Die App profitiere von drei Megatrends der letzten Jahre: kompakte und „snackable“ Inhalte, Videoformat und der gestiegene mobile Konsum.
Formate für die Zielgruppe auf Tiktok
Im Juni 2020 stand Grill zum ersten Mal vor der Kamera. Damals herrschte bei dem Mittelständler Krawattenpflicht, um das Unternehmen nach außen zu repräsentieren. So entstand die Persona des selbstironischen Chefs. Im Vordergrund stehen Authentizität und Spaß, dennoch müssen die Regeln des Unternehmens eingehalten werden. „Auch die Berufsgenossenschaft schaut sich solche Videos an“, erklärt Grill. Und rät davon ab, vor laufender Kamera auf einen Gabelstapler zu klettern oder trotz Alkoholverbots Bier zu trinken. Bei den Videos stehen weder Produkt noch Rekrutierung im Vordergrund. „Wenn ich ehrlich bin, war das Ziel einfach, dass die Jugendlichen uns cool finden“, sagt Grill. Heute erreichen die Videos vor allem Menschen, die schon berufstätig sind.
Von Azubis produziert
Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) rekrutieren bei Tiktok auf zwei Wegen, erklärt Ursula Bazant, Geschäftsbereichsleiterin für Aus- und Weiterbildung. Zum einen durch geplante Werbevideos. Zum anderen mit organischen Inhalten. Das Besondere: Die Videos, die eher als Employer-Branding-Maßnahme dienen, produzieren die Auszubildenden selbst. Aus 2.000 Auszubildenden entstand vor drei Jahren die erste „Tiktok-Klasse“. Zehn Auszubildende bespielen den ÖBB-Account mit Inhalten rund um die Lehre. Um sie vorzubereiten, organisierten sie Workshops mit den Influencern „Satansbraten“ und Anna Strigl.
In der Umsetzung sind die Auszubildenden frei. „Es soll natürlich auch vorkommen, was es heißt, eine Lehre bei den ÖBB zu machen“, sagt Bazant, „aber die veröffentlichten Videos, hat vorher noch niemand gesehen.“ So entstehen Clips zu Tiktok-Trends, Rankings des Kantinenessens oder Arbeitsklatsch.
Auch das familiengeführte Dienstleistungsunternehmen Kinderhut entwickelte gemeinsam mit der Agentur Social Attention eine Tiktok-Strategie zum Azubi-Recruiting. Bei der Content-Entwicklung sei es hilfreich, Inhalte im jeweiligen Themenbereich zu analysieren und Best Practices und Ziele zu identifizieren. In vier Workshops wurden die Erkenntnisse mit den Mitarbeitenden geteilt. Das Resultat sind kurze Video-Interviews mit den Kindergartenkindern – über ihr Lieblingsessen oder den Traumberuf. Auch die konkreten Ausbildungsangeote in den Einrichtungen werden spielerisch vorgestellt. Am Ende wird aktiv zur Bewerbung aufgerufen.
Maximal fünf Klicks
„Wenn wir über Social Media rekrutieren wollen, müssen wir auch die Content-Spielregeln auf Social Media berücksichtigen“, sagt Aaron Brückner. Niedrige Bewerbungshürden seien besonders wichtig. Bei Kinderhut erfolgt die Bewerbung in weniger als fünf Klicks. Ein externer Softwareanbieter erfasst, wie viele Personen über Tiktok auf die Bewerbungsseite gekommen sind. In der Expressbewerbung wird sofort abgefragt, für welche Stellen sich die Bewerber interessieren. Ein gefilmter Kita-Rundgang in der Kita Pfiffikus in Essen ging viral. Allein nach diesem Video gingen 162 qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber-Leads von ausgebildeten pädagogischen Fachkräften ein.
Bei Ziehl-Abegg machte Grill die Erfahrung, dass manche nicht zugeben wollen, dass sie über Tiktok auf den Arbeitgeber aufmerksam geworden sind. „Es ist einfach ein Zeitvertreib, der bei manchen ein schlechtes Image hat“, vermutet er.
Der Erfolg wird beim Mittelständler über das Tool Linktree gemessen. Von einem Link in der Account-Beschreibung gelangen Interessierte zu einer Auflistung aller freien Stellen. Bei den ÖBB erreichten dagegen nur wenige Bewerbungen die Personalabteilung direkt über Tiktok. Dort ließe sich der Erfolg vor allem durch Interaktionen und Kommentare messen. So fragen viele Jugendliche nach dem weiteren Bewerbungsprozess. Hier unterstützen die ÖBB in den Kommentaren mit den nächsten Schritten und verweisen auf die Karriereseite.
Cringe oder clever?
Die Unternehmenskultur habe sich weder bei den ÖBB noch bei Ziehl-Abegg umfassend verändert. Dafür sei ein zu kleiner Teil der Belegschaft betroffen. Kritische Stimmen von Mitarbeitenden gebe es jedoch. Wer Tiktok nicht kennt, könne schwer nachvollziehen, warum diese Plattform so relevant sei, meint Bazant. Sie plädiert für Vertrauen in die jungen Mitarbeitenden: „Es gibt auch Dinge, die ich nicht verstehe, aber ich schaffe es, zu reflektieren und zu sagen: Das muss ich vielleicht auch nicht.“
Für Grill reichte die Kritik bis ins Fernsehen, wo sich Oliver Welke in der satirischen heute-show über seinen Auftritt echauffierte: „Da möchte man sich direkt bewerben, nur damit er aufhört zu tanzen.“ Grill nahm den Vorfall gelassen. „Der Witz hätte auch von mir sein können“, sagte er. Statt Angst vor negativen Kommentaren, sollten Unternehmen risikobereit sein, sagt Aaron Brückner. Auch wenn Nutzer beispielsweise den minimalistischen Look der Kita-Einrichtungen kritisieren: Das sehe eher nach Arztpraxis aus. Solche Kommentare lassen sich in Kernbotschaften umwandeln oder als Quelle für neue Inhalte nutzen. Der Cringe-Faktor sei letztlich Geschmacksache.
Die Tiktok-Präsenz gut abwägen
„Im Prinzip kann Tiktok für jedes Unternehmen relevant sein“, sagt Brückner. Es komme immer auf das Ziel an. Wer den Fokus auf Recruiting legt, sollte sich vor allem mit der Frage beschäftigen: Wen suchen wir eigentlich? „Sobald es um Auszubildende oder junge Fachkräfte geht, kommt man an Tiktok eigentlich nicht mehr vorbei“, sagt Brückner. Auch ohne Vorkenntnisse lohne sich der Einstieg in die Plattform, meint Grill. „Früher hat man ein Banner am Fußballplatz im Dorf aufgehängt. Nicht weil man Fußball mochte, sondern weil dort die Leute waren, die man erreichen wollte. Es macht also Sinn, auf Tiktok zu sein, wenn die Zielgruppe dort ist“, sagt Grill. „Ich muss die Plattform nicht mögen, um sie zu nutzen.“
Der Content sollte authentisch bleiben, rät Ursula Bazant. „Auf Tiktok kann man viel erzählen, aber wenn es nicht der Realität im Unternehmen entspricht, war alles umsonst.“ Inhaltlich sollte laut Brückner das Thema des Unternehmens mit einer klaren Botschaft im Mittelpunkt stehen. Außerdem empfiehlt er, einen langfristigen Rahmen zu schaffen: Content, der immer wieder neu bespielt wird. Inhalte, die bleiben. Wer davon ausgehe, Fachkräfte hätten ein angeborenes Interesse am Unternehmen, riskiere sogenannten Content-Narzissmus. „Unternehmen müssen die Demut haben, dass sich niemand für sie interessiert“, sagt Brückner. Er rät daher zu Bescheidenheit und einer ganzheitlichen Strategie.
Auch der rechtliche Status der App steht immer wieder zur Debatte. Zudem gab es Vorwürfe zu diskriminierenden Moderationsregelungen, wie netzpolitik.org recherchierte. Auch Datensicherheit und Jugendschutz werden kritisiert. Laut Brückner lohne es sich im Endeffekt, „nicht nur in Tiktok“ zu denken. Vertikaler Video-Content sei aktuell der Wichtigste. So können mit einem Video vier bis fünf Plattformen bespielt werden. Am Ende sei Social Media eben keine Raketenwissenschaft, sondern ein Mix aus Informieren, Bewegen und Unterhalten.
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