Frau Weißhoff, Ende September wollten Verdi und die GEW Berlin in einen Erzwingungsstreik für das Kitapersonal gehen. Damit hätte ein unbefristeter Streik mit Kitaschließungen gedroht. Dieses Vorhaben wurde gerichtlich gestoppt. Was hatte die Gewerkschaften zu ihrem Streikvorhaben bewogen?
Christiane Weißhoff: Hierbei ging es uns nicht um mehr Geld, sondern um gesunde Arbeitsbedingungen. Diese sollten in einem Tarifvertrag festgeschrieben werden. Dazu gehört zum Beispiel eine verbindliche Personalausstattung in den Kitas, die auch Ausfallzeiten des Personals berücksichtigt. Wir wollten mehr Sicherheit bei Personalengpässen durch Notfallpläne und Ausgleiche für belastende Arbeitssituationen, beispielsweise, wenn Gruppengrößen überschritten werden, erreichen.
Außerdem kämpfen wir darum, dass die berufsbegleitende Ausbildung unterstützt wird, insofern dass Kolleginnen und Kollegen in der Ausbildung nicht mehr auf den Personalschlüssel angerechnet werden. Ein Tarifvertrag könnte hier verbindliche Regelungen schaffen, die über die gesetzlichen Regelungen hinausgehen. Diese Verbindlichkeit wollen wir herstellen.
Warum sind die Rahmenbedingungen für die Branche insgesamt so schlecht?
Eine Kindertagesstätte wird heute als Bildungseinrichtung verstanden. Die Kindertagesbetreuung, die früher dazu diente, Eltern eine Berufstätigkeit zu ermöglichen, hat sich im Laufe der Jahre auch durch reformpädagogische Ansätze entwickelt und stellt Bildungsaspekte in den Vordergrund. Damit hat sich auch das Berufsbild der Erzieherin und das Tätigkeitsfeld stark gewandelt. Allerdings gibt es große Unterschiede in den Standards zwischen den Bundesländern, etwa bei der Gruppengröße und der Personalausstattung. Hier muss mehr Geld in das Bildungssystem fließen. Das Fehlen bundesweit einheitlicher Standards für Kindertagesstätten hat somit auch erhebliche Auswirkungen auf die Qualität der frühkindlichen Bildung.
Inwieweit hat sich mit den veränderten Ansprüchen die Arbeitsbelastung des Kita-Personals verändert?
Die fachlichen Anforderungen an das Personal sind gestiegen. Alle Bundesländer haben Bildungsprogramme eingeführt. Dies hat zu einem erhöhten Bedarf an Beobachtung und Dokumentation geführt. Teamarbeit, Zusammenarbeit mit Eltern und externen Partnern haben stark zugenommen. Außerdem ist der pädagogische Ansatz heute stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet. All dies erfordert deutlich mehr Zeit und Personalkapazitäten. Zu diesen pädagogischen Anforderungen kommt die zunehmende Vielfalt der Familien und der Lebensumstände der Kindergartenkinder.
Hinzu kommen die hohen gesundheitlichen Belastungen des Personals im Kita-Alltag, insbesondere durch Infektionsgefahren und körperlich anstrengende Tätigkeiten. Wir begegnen den Kindern auf Augenhöhe, darauf sind alle Bewegungsabläufe in der Kita ausgerichtet. Das Personal arbeitet in ungünstigen Körperhaltungen, in der Hocke, hebt Kinder hoch, sitzt auf der Erde und auf oftmals zu kleinen Stühlen. Dazu kommt eine erhebliche Lärmbelastung.
Ziehen viele Erzieher und Erzieherinnen die Konsequenzen, indem sie ihre Arbeitszeit reduzieren?
Genau. Und dadurch geht Potenzial an Personalstunden verloren: Lange Öffnungszeiten der Kitas müssen abgedeckt werden. Teilzeitbeschäftigte stehen dann nur einen Teil des Tages zur Verfügung. Vollzeitbeschäftigte übernehmen dann vermehrt die Gespräche quasi zwischen Tür- und Angel mit den Eltern, da die Arbeitszeit der Teilzeitkolleginnen und -kollegen noch nicht begonnen oder schon beendet ist. Viele Beschäftigte wünschen sich aber auch selbst mehr Zeit für die eigene Familie oder mehr Freizeit.
Unter welchen Umständen würde sich das ändern?
Es sollte flexiblere Arbeitszeitregelungen geben. Dies könnte zum Beispiel auch die Möglichkeit sein, einen Teil der Arbeitszeit im Homeoffice zu gestalten. Zum Beispiel für die Vor- und Nachbereitung der pädagogischen Arbeit oder die Entwicklungsdokumentation der Kinder. Das könnte dazu beitragen, dass mehr Menschen bereit sind, ihre Arbeitszeit zu erhöhen.
Gibt es noch andere Gründe als die schlechten Rahmenbedingungen, warum der Personalmangel im Betreuungsbereich so groß ist?
Die fehlenden Fachkräfte und die fehlenden Kita-Plätze hängen eng zusammen. Obwohl der Kita-Ausbau mit dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz vorangetrieben wurde, fehlt es oft an Fachkräften, um diese Plätze auch tatsächlich wohnortnah anbieten zu können. Dies ist vor allem in strukturarmen Regionen ein Problem. Die Arbeitsbelastungen der pädagogischen Fachkräfte sind hoch, sie sind ausgebrannt und steigen aus dem Beruf aus. Insbesondere die Beschäftigten in der berufsbegleitenden Ausbildung zur Erzieherin erleben die Doppelbelastung, gerade wenn diese bereits eine Familie haben und dann das Fachschulstudium und die Arbeit in der Kita unter einen Hut bringen müssen. Durch bessere Arbeitsbedingungen und Gesundheitsmaßnahmen könnten auch Fachkräfte zurückgewonnen werden, die den Beruf erlernt, ihn aber aufgrund der Belastungen verlassen haben.
Die fehlende Kinderbetreuung führt zu erheblichen Problemen in den Betrieben, wenn Eltern ihre Arbeitszeit verkürzen müssen oder kurzfristig ausfallen. Wäre ein Schulterschluss zwischen Unternehmen und Kitas nicht sinnvoll?
Natürlich brauchen Unternehmen flexible Fachkräfte, deshalb wollen sie auch eine gesicherte Kinderbetreuung. Aber es geht nicht nur darum, die Arbeitswelt zu entlasten. Kinder haben Rechte, und eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist auch nicht im Sinne der Kinder. Wichtig sind gute Rahmenbedingungen, damit berufstätige Eltern ihre Kinder gut betreut wissen. Und: Die Kinder sind schließlich die Fachkräfte von morgen, daher ist es wichtig, dass wir ihnen durch gute Bedingungen die bestmögliche Bildung und Förderung bieten, einschließlich passender Öffnungszeiten.
Eine Kooperation zwischen Unternehmen, Jugendämtern und Kindertagesstätten wäre sinnvoll, um alternative Betreuungsformen zu schaffen. Zum Beispiel, wenn Eltern in Tätigkeitsfeldern arbeiten, in denen die Arbeitszeiten mit der herkömmlichen Betreuung nicht abgedeckt werden können. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Kinder stabile und sichere Orte brauchen und nicht ständig von einem Betreuungsangebot zum nächsten wechseln sollten. Diskutiert wird auch, inwieweit Betriebskindergärten sinnvoll sind. Viele Eltern bevorzugen wohnortnahe Kindertagesstätten. Das ist natürlich sinnvoll, damit die Kinder Freundschaften knüpfen können, die sie außerhalb der Kita am Nachmittag oder Wochenende nutzen und sie vielleicht in der Schule fortsetzen können. Generell wird das Interesse der Wirtschaft eher durch die Eltern geäußert, die die Belastung schildern, wenn die Betreuung im Kindergarten beispielsweise wegen eines Streiks ausfällt.
Wie nehmen Sie allgemein die Reaktionen aus Wirtschaft und Gesellschaft für ein Streikvorhaben in Kitas wahr?
Oft ist der Aufschrei groß, wenn soziale Bereiche wie Kindertagesstätten für bessere Bedingungen streiken. Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Investitionen in die frühkindliche Bildung ist erwiesen. Studien zeigen, dass sich solche Investitionen langfristig auszahlen. Gerade Kinder mit Migrationshintergrund profitieren stark, wenn sie frühzeitig integriert und gefördert werden. Dafür brauchen wir aber kleinere Gruppen, um individueller auf die Kinder eingehen zu können. Viele Chancen und Sprachanlässe, wie zum Beispiel das Gespräch beim gemeinsamen Essen, werden aufgrund von Überlastungen nicht genutzt. Das sind verschenkte Chancen und die Wirtschaft spürt dies, wenn junge Menschen mit unzureichenden Voraussetzungen auf den Arbeitsmarkt kommen.
Über die Gesprächspartnerin:
Christiane Weißhoff leitet den Vorstandsbereich Kinder-, Jugendhilfe, Sozialarbeit bei der GEW Berlin und ist Personalrätin bei Kindergärten City.
Das Interview gehört zu dem Fokusthema Teufelskreis Kita-Notstand: Familien, Fachkräfte und Unternehmen am Limit.
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