Personaler suchen heute eher nach Mitarbeitern mit Entwicklungsmöglichkeiten, statt nach dem Kandidaten mit dem perfekten Kompetenzprofil.
Carolin Unger geht ihren Job mit geradezu detektivischem Eifer an. „Bei uns fällt so schnell kein Mitarbeiter durchs Raster. Uns entgeht kein Talent im Konzern“, stellt die Leiterin des Personalmarketings, der Rekrutierung und des Bewerbermanagements beim Elektronikkonzern Rohde & Schwarz klar. In den vergangenen Jahren hat Unger bei dem Münchener Mobilfunk- und Messtechnik-Spezialisten eine internationale Rasterfahndung nach Talenten auf die Beine gestellt. Dazu hat sie die gesamte Personalbeschaffungskette unter ihrer Leitung zusammengefasst, einen einheitlichen, transparenten Talentpool eingerichtet. Das Bewerbermanagement holte Unger von einem externen Dienstleister zurück ins Unternehmen.
Denn der Dienstleister hatte nur Bewerber geliefert, die auf die gerade aktuellen Stellenausschreibungen passten. Unger jedoch wollte sie alle. Auch die Bewerber, die für die aktuelle Stelle nicht geeignet waren. Wer weiß, vielleicht versteckte sich ja unter den Bewerbern, die der Dienstleister aussortierte, so mancher Kandidat mit Potenzial für andere Positionen im Unternehmen? „Ich war mit dem Outsourcing nie glücklich“, sagt Unger. Die Auswahl der richtigen Kandidaten, der Kontakt zu potenziell interessanten Bewerbern, der Aufbau eines Talentpools: Das seien strategisch entscheidende Kernkompetenzen des Personalmanagements. „Dieses Know-how wollen wir im Haus haben, weiter ausbauen. Und nicht anderen überlassen.“
Suche, Entwicklung, Bindung
Je spürbarer der Fachkräftemangel wird, desto intensiver betreiben Unternehmen ein gezieltes Talent Management. Talent Management, das ist zunächst einmal nicht weniger als der gesamte Prozess der Suche, Entwicklung und langfristigen Bindung qualifizierter Mitarbeiter. Kein Unternehmen ohne Talent Management also. Doch was genau Unternehmen und Personaler unter „qualifiziert“ verstehen, das hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Ein qualifizierter Mitarbeiter, das war vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein Bewerber, dessen Kompetenzprofil exakt zu den Anforderungen einer aktuell zu besetzenden Stelle passte. Fachwissen, Erfahrung, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz: Je mehr Haken der Recruiter hinter die gewünschten Kompetenzen machen konnte, desto näher rückte für den Bewerber die Zusage. Inzwischen jedoch verändern sich in vielen Branchen die Anforderungen der Märkte so schnell, und mit ihnen die Unternehmen, dass der gerade noch perfekt passende, kompetente Mitarbeiter plötzlich schon wieder der falsche Mann oder die falsche Frau am falschen Ort sein kann. Und so rücken inzwischen Talente und Entwicklungspotenziale der Mitarbeiter in den Fokus von Recruitern und Personalentwicklern. Die sind als Entscheidungskriterien allerdings deutlich schwieriger zu operationalisieren als klassische Kompetenzen eines Mitarbeiters.
Kompetenzmodelle immer wieder anpassen
„Welche Kompetenzen ein Bewerber mitbringt, das erahne ich schon am Lebenslauf“, sagt Rohde & Schwarz-Personalerin Unger. „Das bleibt auch weiterhin wichtig, auch wenn wir unsere Kompetenzmodelle immer wieder anpassen müssen.“ So sei es etwa derzeit für das international stark wachsende Familienunternehmen wichtig geworden, ob ein Mitarbeiter die Kompetenz „Veränderungsbereitschaft“ mitbringe. Strategisch sei es jedoch noch wichtiger, bei der Suche nach den richtigen Mitarbeitern über das gefragte Kompetenzprofil hinauszudenken. „Wenn ich im Vorstellungsgespräch zum Beispiel den Eindruck habe: Der Entwicklungsingenieur bringt auch das Führungspotenzial mit, dann ist es extrem wichtig, dass das in die Entscheidung mit einfließt.“ Auch wenn ein anderer Kandidat vielleicht mehr Erfahrung oder Fachkompetenz mitbringt, könnte der mit dem Führungspotenzial für das Unternehmen strategisch die richtige Wahl sein. Die Personalerin gibt ihre Einschätzung sofort an die jeweilige Führungskraft und die Personalentwicklung weiter. „Es ist dann unsere Aufgabe, das zarte Pflänzchen Potenzial, das wir entdeckt haben, von Anfang an anzufüttern und weiter zu pflegen.“ Förderpläne, Seminare, Coachings, Mentoren – das volle Programm. „Wir besetzen nahezu alle Führungsstellen intern“, sagt Unger. Bei weniger als einem Prozent Fluktuation und einer Belegschaft, die in den vergangenen fünf Jahren von 7.500 auf fast 10.000 Mitarbeiter angewachsen ist, sei aber der Zufluss immer neuer Potenzialträger weiter wichtig. „Wir können es uns schlicht nicht leisten, dass uns talentierte Bewerber entgehen. Oder dass Mitarbeiter vorhandenes Potenzial nicht voll entfalten“, sagt Unger.
Die Persönlichkeit muss stimmen
Eine genaue Wissenschaft ist das Aufspüren und Identifizieren von Potenzial nicht. Manchmal will das zarte Pflänzchen Potenzial auch bei bester Pflege und gutem Zureden einfach nicht gedeihen. „Mancher Entwicklungsingenieur kann sich zum Beispiel einfach nicht überwinden, die fachliche Arbeit zugunsten von Management-Meetings aufzugeben“, sagt Carolin Unger. „Da können wir noch so oft kommunizieren, dass wir dem Mitarbeiter das zutrauen, und noch so viele Förderangebote machen.“ Oder ein vielversprechender Kandidat, der im Bewerbungsgespräch scheinbar Potenzial und Ambitionen zu verantwortungsvolleren Positionen gezeigt hat, erweist sich dann doch als nicht interessiert an zusätzlichen Führungsaufgaben. „Kommt immer wieder mal vor“, sagt Unger. „Manchmal verfliegt das Potenzial, das man erahnt hat, einfach spurlos.“
Linda Becker, Gesellschafterin und Partnerin bei der Top Executive Beratung Labbé & Cie, hält Kompetenz und Potenzial aus eben solchen Erfahrungen heraus nicht für die entscheidenden Faktoren bei der Suche nach geeigneten Talenten. „Sowohl Kompetenz als auch Potenzial eines Kandidaten bringen nichts, wenn die Persönlichkeit nicht passt“, sagt Becker. Fehlende Kompetenzen könnten sich geeignete Kandidaten im Unternehmen noch aneignen. „Auch beim Potenzial sind die Unternehmen gefragt, sie müssen ihre Mitarbeiter begleiten, ihnen Mentoren an die Seite stellen, damit sie ihr Potenzial auch entwickeln können.“ Das alles sei aber sinnlos, wenn ein Mitarbeiter nicht auch die Persönlichkeit und die intrinsische Motivation mitbringt, diese Angebote zur Weiterentwicklung auch zu nutzen. „Wenn der Mitarbeiter von seiner Persönlichkeit her nicht zum Unternehmen und dessen Entwicklungszielen passt, ist er der falsche Kandidat“, sagt Becker. Egal, wie viele Kompetenzen und wie viel Potenzial er mitbringt. Wer etwa in einem stark wachsenden Unternehmen als Vertriebsgeschäftsführer überaus erfolgreich war, kann als Bewerber bei einem Unternehmen, das sich gerade in einem schwierigen Marktumfeld und Umstrukturierung befindet, völlig am falschen Platz sein. „Es sind mitunter einfach sehr unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale gefragt, um erfolgreich zu sein.“ Umgekehrt sei es auch nicht sinnvoll, einen tollen Kandidaten mit Persönlichkeit und Potenzial einzustellen, obwohl es aktuell keine freie Stelle für ihn gibt, mahnt Becker. „Wenn ich jemanden einstelle, für den erst in zwei Jahren im Unternehmen die passende Position entsteht, und ich ihn bis dahin nicht mit geeigneter und sinnvoller Arbeit fordern kann, sind Frust, Demotivation und Leistungsabfall des Potenzialträgers weitgehend vorprogrammiert.“
Die Vorstellung von frustrierten Mitarbeitern, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen können, wären auch Daniela Feuchtinger, Head of Global Talent Management der Rückversicherungssparte bei Munich Re, unerträglich. Allerdings bekommen die Mitarbeiter des Rückversicherers kaum eine Chance dazu, ihr Potenzial zu verstecken. „Wir erwarten von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass sie an ihrer Employability arbeiten“, sagt Feuchtinger. „In dieser Frage sind wir sehr anspruchsvoll.“ Mitarbeiter müssen bereit sein, sich innerhalb der 43.000 Mitarbeiter starken Versicherungsgruppe weiterzuentwickeln – auch international. Bisweilen werden Stellen gezielt vergeben, um das Potenzial einzelner Mitarbeiter zu entfalten: „Wir besetzen zum Beispiel eine Außenstellen-Leitung im Ausland gezielt mit einem Mitarbeiter, der eigentlich von seinen Kompetenzen her nicht der ‚best fit‘ für den Job ist, aber das Potenzial für höhere Führungspositionen mitbringt“, erklärt Feuchtinger. Ein Sprung ins kalte Wasser: Nach ein paar Jahren operativer Führungserfahrung im Ausland ist der Kandidat dann bereit für den Aufstieg und weitere Fördermaßnahmen in der Firmenzentrale. Oder eben auch nicht. „Es gibt keine Garantie. Wer sein Potenzial nicht abrufen kann, kommt nicht weiter“, sagt Feuchtinger.
Jobrotation als Normalität
Wer sich bei dem Versicherungskonzern bewirbt, weiß von vorneherein, dass keine ruhige Stelle auf Lebenszeit winkt. „Wir kommunizieren schon im Vorstellungsgespräch klar, dass wir nicht für eine bestimmte Stelle einstellen, sondern für das Unternehmen“, sagt die Personalmanagerin. Jobrotation ist Normalität, Agilität wird eingefordert. „Ob ein Bewerber die nötige Veränderungsbereitschaft mitbringt, zeigt sich meist schon im Vorstellungsgespräch.“ Wer die Agilität des Konzerns als Chance für eine persönliche Weiterentwicklung erkennt, kommt weiter. Wem das zu anstrengend ist, der fällt schnell auf oder steigt von selbst aus dem Bewerbungsprozess aus.
Im Konzern ist eine sogenannte „Karrierepartnerschaft“ als Teil der Talent-Management-Strategie transparent kommuniziert. „Jeder Mitarbeiter kennt die Spielregeln. Wir haben klar formuliert, welche Entwicklungschancen Führungskräfte anbieten müssen, und was Mitarbeiter im Gegenzug zu leisten bereit sein müssen.“ Jede Führungskraft wisse, dass ein talentierter Mitarbeiter nicht einer einzelnen Abteilung gehöre. „Sobald jemand als Talent identifiziert und nominiert ist, greift unsere Talentstrategie. Die Potenzialträger werden bereichsübergreifend weiterentwickelt.“ In einigen Tochtergesellschaften kann die Versicherungsgruppe so schon rund 90 Prozent der Führungsstellen intern besetzen. „Ein klassischer ‚best-fit‘-Ansatz, der nur auf Kompetenzen schaut und den idealen Kandidaten für eine Stelle finden will, passt nicht zu uns“, fasst die Talent-Management-Leiterin zusammen. „Dafür schreiten die Entwicklungen im Unternehmen zu schnell voran.“ Außerdem gebe es die fertig „vorgebackenen“ Kandidaten für den Versicherungskonzern schlicht nicht auf dem Markt. „Man kann nicht Rückversicherung an der Universität studieren. Und wir brauchen zum Beispiel auch viele Quereinsteiger wie etwa erfahrene Ingenieure, die sich versicherungsspezifische Kompetenzen erst noch aneignen müssen.“ Potenzial zu erkennen, wird so zum Kerngeschäft der Munich Re Recruiter. „Potenzial erkennen wir daran, dass Mitarbeiter bereit sind, sich immer wieder neue Kompetenzen anzueignen. Wir sehen, dass Bewerber unsere Entwicklungsangebote reizvoll finden, zum Beispiel in den anderthalbjährigen Trainee- oder Ingenieursprogrammen.“
Den Blick schärfen für Potenziale
Um Potenzial frühzeitig zu erkennen, ist es wichtig, dass nicht die Fach- und Führungskräfte allein den Auswahlprozess von Mitarbeitern steuern, erklärt Feuchtinger. „Die Fachleiter suchen immer nach dem ‚best fit‘ für die jeweilige Stelle und schauen zuerst auf die Kompetenzen. Das liegt in der Natur der Sache“, konstatiert die Personalmanagerin. Deshalb ist es Aufgabe der Experten aus dem Talent Management und der Personalentwicklung, die Kriterien Potenzial und Entwicklungsbereitschaft in den Auswahlprozess einzubringen. Und bei Führungskräften den Blick für die zarten Potenzial-Pflänzchen zu schärfen.