Im Wettbewerb um Fachkräfte in einer sich stetig wandelnden Arbeitswelt müssen Unternehmen sich zunehmend damit beschäftigen, wie attraktiv ihre Arbeitsbedingungen für unterschiedliche Zielgruppen (noch) sind. Hierbei lohnt ein Blick auf die große Gruppe der Menschen, die Familienverantwortung übernehmen. Der Ausbau der Kinderbetreuung und die Einführung des Elterngelds haben in den letzten 20 Jahren zu einer deutlichen Steigerung der Müttererwerbstätigkeit geführt. Gleichzeitig wollen sich heute immer mehr Väter gleichberechtigt an der Familienarbeit beteiligen. Hinzu kommt eine wachsende Zahl von Personen, die neben ihrer Erwerbstätigkeit ältere oder kranke Angehörige pflegen.
Das Potenzial familienfreundlicher Arbeitsbedingungen besteht darin, dass Menschen mit Familienverantwortung eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder ihre Arbeitszeit ausweiten können oder diese nicht (dauerhaft) reduzieren müssen. Doch was genau brauchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dafür? Dieser Frage ist eine aktuelle Studie der Prognos AG nachgegangen, die im Rahmen des Unternehmensprogramms „Erfolgsfaktor Familie“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellt wurde.
Die Befragung
Im August 2023 wurden 2.542 Erwerbstätige im Alter zwischen 15 und 64 Jahren, die Kinder unter 16 Jahren haben oder/und andere Personen im Umfang von mindestens zwei Stunden in der Woche pflegen, online befragt. Die Ergebnisse wurden so gewichtet, dass sie die Zielgruppe in der Gesamtbevölkerung im Hinblick auf die Merkmale Bildung, Bundesland, Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, Partnerschaft (bei pflegenden Angehörigen) und Erwerbsumfang sowie Anzahl der Kinder repräsentativ abbilden. Der Link zur Studie.
Die Ergebnisse lassen sich als Stufenmodell darstellen. Durch eine proaktive Vereinbarkeitsstrategie kann stufenweise die Arbeitgeberattraktivität erhöht werden. Dabei ist die erste Stufe ein Muss für ein Minimum an Familienfreundlichkeit. Erst
die Berücksichtigung von Gruppenpräferenzen (Stufe 2) und schließlich das Bewusstsein für die Vielfalt an Lebens- und Arbeitsumständen (Stufe 3) führen zu echter Arbeitgeberattraktivität.
Die erste Stufe und damit die Basis, um als Arbeitgeber für Eltern und pflegende Angehörige gute Arbeitsbedingungen zu bieten, ist eine familienfreundliche Unternehmenskultur. Diese zeichnet sich durch Rücksichtnahme auf die Vereinbarkeitsbelange der Beschäftigten aus. Konkret benötigen Beschäftigte mit Familienverantwortung vor allem Flexibilität – angesichts langer Schulferien bei der Urlaubsplanung, aber auch für geplante oder spontane Arbeitszeitunterbrechungen oder Änderung des Arbeitsortes, wenn beispielsweise ein Kind krank wird. Dabei ist ihnen besonders wichtig: Sie wollen aufgrund ihrer familiären Aufgaben nicht in ihren Karrieremöglichkeiten benachteiligt werden!
Die zweite Stufe erreichen Unternehmen, denen bewusst ist, dass Mütter, Väter und Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen unterschiedliche Bedürfnisse haben. So übernehmen Mütter immer noch den Großteil der Kinderbetreuung, was dazu führt, dass sie ihre Arbeitszeiten oftmals an externe Zeittaktgeber wie Kinderbetreuungseinrichtungen anpassen müssen. Häufiger als Väter benötigen sie daher von ihrem Arbeitgeber zum einen Rücksichtnahme auf Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen, zum anderen aber auch Möglichkeiten, ihr Arbeitspensum zu ändern.
Die Reduktion der Arbeitszeit bei Müttern wird oftmals als mangelnde Karriereambition interpretiert. Die Studie zeigt jedoch, dass es sich dabei um einen Fehlschluss handelt. Tatsächlich steht eine Arbeitszeitreduktion ohne Aufgabenveränderungen oder negative Folgen für ihre Entwicklungsmöglichkeiten bei Müttern weit oben auf der Liste attraktiver Arbeitgebermerkmale, genauso wie die Möglichkeit, als Führungskraft in Teilzeit zu arbeiten. Für die Mütter selbst schließen sich Elternschaft und das Verfolgen eigener Karriereziele nicht aus. Daher sollten Unternehmen hier keine Chancen verspielen, indem sie Mütter aufs Abstellgleis setzen.
Auch Väter wollen an der Kinderbetreuung teilhaben
Väter schränken ihre Arbeitszeit nach wie vor weitaus seltener zugunsten der Familie ein als Mütter, engagieren sich aber mehr als früher in der Kinderbetreuung und brauchen die entsprechenden betrieblichen Möglichkeiten. Dies zeigt sich darin, dass flexible Gestaltungsmöglichkeiten der wöchentlichen Arbeitszeit und des Arbeitsortes für sie von hoher Relevanz sind. Daneben wünschen sie sich von Unternehmen eine positive Haltung gegenüber der Elternzeit von Vätern. 45 Prozent der Väter finden es
sehr wichtig, dass auch Väter im Unternehmen ermutigt werden, Elternzeit zu nehmen.
Pflege von Angehörigen darf kein Tabu mehr sein
Die Pflege von Angehörigen kann ganz unterschiedlich aussehen, je nachdem, für wen und in welchem Umfang die
Beschäftigten Pflegeverantwortung übernehmen. Die Studie zeigt, dass für diese Gruppe die Möglichkeit, die Arbeitszeit bei Bedarf zu unterbrechen, von überdurchschnittlich großer Bedeutung ist. Daneben schätzen sie eine verlässliche und planbare Arbeitsbelastung. Dass Unternehmen das Thema Pflege ohne Tabus behandeln, ist für sie von größerer Relevanz als konkrete Unterstützungsangebote seitens der Arbeitgeber, wie beispielsweise die Bereitstellung von Pflegeplätzen in Pflegeheimen.
Vielfältige Lebensumstände und Bedürfnisse
Unternehmen, die Stufe drei der Arbeitgeberattraktivität erklimmen wollen, müssen sich eine Sache bewusst machen. Zwar gibt es Herausforderungen und damit Anforderungen an Arbeitgeber, die allgemein für Beschäftigte mit Familienverantwortung (Stufe 1) und in unterschiedlichem Maße für Mütter, Väter und Pflegende (Stufe 2) typisch sind. Darüber hinaus sind die Vereinbarkeitsbedürfnisse der Menschen jedoch so vielfältig wie deren Lebensumstände. Und natürlich bietet nicht jeder Arbeitsplatz jede Möglichkeit der Arbeitsanpassung. Da, wo keine Flexibilisierung von Arbeitszeit und / oder -ort möglich ist, können jedoch andere Lösungen gefunden werden. So zeigt sich beispielsweise, dass für Arbeiterinnen und Arbeiter neben einer verlässlichen und planbaren Arbeitsbelastung auch finanzielle Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder der Pflege sowie zusätzliche Kinderkrankentage, aber auch Notfallbetreuungsmöglichkeiten für Kinder attraktiver sind als im Durchschnitt.
Es muss also nicht immer Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit sein, um Beschäftigten mit Familienverantwortung entgegenzukommen. Zu der Vielfalt der familien- und arbeitsbezogenen Aspekte kommt hinzu: Nichts ist so beständig wie der Wandel. Kinderlose werden Eltern, die Aufgaben von Eltern ändern sich mit Alter und Zahl der Kinder und die eigenen Eltern benötigen zunehmend Unterstützung oder Pflege. Sind die Kinder größer, wollen viele Mütter ihren Arbeitsumfang (wieder) erhöhen.
Und so gilt es, mit den Mitarbeitenden im Gespräch zu bleiben. Womit wir beim Fazit der Studie angelangt wären: Eine proaktive Personalstrategie, die gezielt auf die Vereinbarkeitsanforderungen der Beschäftigten eingeht, bildet den
entscheidenden Vorteil im Wettbewerb um Arbeitskräfte. Grundlage sollten nicht allgemeine Trends sein, sondern die Zusammensetzung der eigenen Belegschaft, die Personalplanung und die Zielgruppen für die Personalakquise sowie die Anforderungen im eigenen Betrieb.
Zielgerichtet wettbewerbsfähig werden
Die Erfassung und kontinuierliche Überprüfung der Bedarfe sowohl der Beschäftigten als auch des Unternehmens mag auf den ersten Blick aufwendig erscheinen, schützt aber davor, dass Arbeitgeber in Angebote und Maßnahmen investieren, die am Bedarf vorbeigehen. Sie ist zudem nachhaltig in dem Sinne, dass die Mitarbeiterbindung gestärkt und Kündigungen vermieden werden können. Fehlende Rücksichtnahme auf familiäre Verantwortung ist ein Unternehmensrisiko. Die Studie zeigt: Wenn
Beschäftigten ein Aspekt sehr wichtig ist, sind sie oft auch bereit, dafür den Arbeitgeber zu wechseln. Von denjenigen, bei denen es zu den fünf wichtigsten Aspekten gehört, dass sie aufgrund von Kinderbetreuung oder Pflegeverantwortung keine Nachteile in den Karrieremöglichkeiten erfahren, geben beispielsweise 42 Prozent an, dass sie dafür (sehr) wahrscheinlich den Arbeitgeber wechseln würden.
Und: Beschäftigte mit Familienverantwortung sind keine Randerscheinung! Mütter und Väter stellen mit rund 11,6 Millionen Personen ein Viertel aller Erwerbstätigen in Deutschland. Darüber hinaus pflegen 2,5 Millionen Erwerbstätige Angehörige, wobei die Tendenz aufgrund des demografischen Wandels und von Engpässen in der Pflege steigend ist. In der Befragung gibt mehr als die Hälfte der Beschäftigten mit Familienverantwortung an, dass sie ihre aktuelle Lebenssituation im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als herausfordernd empfindet. Zwar sind die Befragten mehrheitlich zufrieden mit ihrem Arbeitgeber im Hinblick auf ihre aktuelle Vereinbarkeit, jedoch zeigt sich: Besonders geforderte Beschäftigte sind häufiger unzufrieden. Mit besseren Vereinbarkeitsbedingungen können Arbeitgeber nicht nur für diese Gruppen attraktiver werden. Das Potenzial für die Fachkräftesicherung liegt zum einen darin, dass die bereits Erwerbstätigen mit Familienverantwortung ihre Arbeitszeit ausweiten können. Zum anderen können darüber hinaus Personen für den Arbeitsmarkt gewonnen werden, die aktuell aufgrund ihrer Verpflichtungen nicht erwerbstätig sind. Personen, die aktuell noch keine Familienverantwortung übernehmen, aber beispielsweise eine Familiengründung planen, können ebenfalls im Unternehmen gehalten oder neu für das Unternehmen gewonnen werden.
Die Vereinbarkeit in der Personalstrategie zu verankern, eröffnet somit den Weg zur Arbeitgeberattraktivität, wobei ein vorausschauendes und zielgruppengenaues Vorgehen einen effizienten Ressourceneinsatz sicherstellt.
Was ist wirklich relevant, was nur „nice to have“?
Um diese Frage zu beantworten, haben sich die Studienautorinnen und -autoren ein dreistufiges Verfahren überlegt, anhand dessen die Befragten die Vereinbarkeitsmerkmale und Maßnahmen bewerten mussten:
1. Im ersten Schritt sollte jedes Merkmal auf einer Skala von 1 bis 100 dahingehend bewertet werden, wie passend bzw. wichtig es für ihre aktuelle Vereinbarkeitssituation ist.
2. Im zweiten Schritt wurden ihnen die zehn Merkmale und Maßnahmen, die sie am höchsten bewertet hatten, erneut vorgelegt mit der Aufforderung, daraus die fünf wichtigsten auszuwählen und diese in eine Rangfolge zu bringen.
3. Im dritten Schritt wurden sie gebeten, für die fünf Merkmale und Maßnahmen, die sie am höchsten bewertet hatten, einzuschätzen, wie wahrscheinlich sie zugunsten eines bestimmten Merkmals beziehungsweise einer Maßnahme den Arbeitgeber wechseln würden, wenn sich diesbezüglich keine Besserung einstellen würde, und wie wahrscheinlich sie bereit wären, für dieses Merkmal auf Gehalt zu verzichten (zum Beispiel im Bewerbungsprozess).
Der Relevanzindex
Die Schritte eins und zwei, also die Bewertung der Wichtigkeit sowie die Rangfolge der wichtigsten Arbeitgebermerkmale, wurden miteinander zu einem Index kombiniert, der die Relevanz des jeweiligen Merkmals für die Vereinbarkeitsherausforderungen der Beschäftigten anzeigt.
Die Abbildung zeigt die vier Arbeitgebermerkmale, die die höchsten Werte auf diesem Relevanzindex erreicht haben. Das Interessante: Diese Merkmale bilden in jeder der drei betrachteten Gruppen – also Mütter, Väter und pflegende Angehörige – die Top 4. Hinzu kommt, dass bei rund 80 Prozent der Befragten mindestens eines dieser Arbeitgebermerkmale unter den Top 5 gelandet ist. Diese bilden damit die grundlegenden Erwartungen von Beschäftigten mit Familienverantwortung an ihre Arbeitgeber (Stufe 1 im Modell). Was für Unterschiede es darüber hinaus gibt, wurde anhand der weiteren Scores auf dem Relevanzindex sowie der Einschätzungen zu Wechselbereitschaft und Gehaltsverzicht analysiert (Stufe 2 und 3 im Modell)
„Erfolgsfaktor Familie“
Im zugehörigen Unternehmensnetzwerk mit über 8.800 Mitgliedern können sich Unternehmen zum Thema familienfreundliche Personalpolitik austauschen und vernetzen. Die Mitgliedschaft ist kostenfrei.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Weltweit. Das Heft können Sie hier bestellen.