Bei Continental arbeiten annähernd hunderttausend Menschen bereits heute miteinander vernetzt – und das weltweit. Einer, der hier viel Pionierarbeit geleistet hat, ist Harald Schirmer. Für ihn ist das Digitale auch eine Art Lebenseinstellung. Ein Porträt.
Einen Harald Schirmer, den man sonst auf zahlreichen Tagungen mit Enthusiasmus über Digitalisierung, Wandel und Transformation referieren hören kann, erwartet man eigentlich in einer Filiale der allgegenwärtigen Kaffeehauskette aus den USA oder in den durchgestylten Bürowelten eines New-Work-Accelerators.
Tatsächlich aber findet man ihn an diesem trüben Novembertag zu Hause – in Ingolstadt. Die Begegnung ist rein virtuell, die Schaltung zwischen Berlin und der Stadt an der Donau über die Zentrale der Continental organisiert. „In den letzten neun Wochen war ich vier Mal in Hannover“, sagt er. Gut 600 Kilometer liegen zwischen beiden Städten. In den letzten Jahren hat Harald Schirmer diese Strecke regelmäßig in Kauf genommen. Dienstag kurz vor sechs Uhr in das mobile, bahngestützte Büro. „Donnerstag um Mitternacht war ich dann meist wieder zu Hause. Das war eigentlich die Zeit, in der man am intensivsten arbeiten konnte, da ist in den Zügen nicht sehr viel los.“ Heute gehört das regelmäßige Pendeln für den Vater einer sechsjährigen Tochter erst einmal der Vergangenheit an. „Jetzt bin ich dann vor Ort, wenn ich persönlich einen Unterschied machen kann.“
Schirmer bewegt sich schon seit einigen Jahren in der virtuellen Welt von Continental – in der sogenannten transparenten und intransparenten, wie er es nennt. Letztere setzt sich in erster Linie aus E-Mails zusammen, mit denen auch Harald Schirmer arbeitet. Doch, so sagt er, seien sie heute viel gehaltvoller, als noch vor einigen Jahren – weil vieles Unpersönliche bereits online beantwortet ist. Entscheidender ist jedoch das Transparente. Und das sind die Netzwerke, in denen Harald Schirmer sich bewegt, über die er an diesem Morgen zum Beispiel mit seinem Team Organisatorisches geplant hat. Ein Team, das ebenso virtuell unterwegs ist wie er. „Als wir begonnen haben, zusammenzuarbeiten, brauchte es allein zwei Monate, um einen Termin zu finden, an dem wir uns mal physisch sehen konnten. Wir kommen alle aus so unterschiedlichen Bereichen und jeder ist in seinem Job sehr stark involviert, was aber nicht heißt, dass wir uns nicht regelmäßig austauschen“, erläutert er. Der Blick in die Netzwerke ist ein regelmäßiges Element für den 42-Jährigen, mit dem er auch in den Tag startet. „Man könnte aber auch sagen, dass ich mehrmals am Tag in den Tag starte“, sagt er und lacht. „Nach jeder Unterbrechung, nach jedem Termin schaue ich, was es Neues gibt, wo sich gerade etwas bewegt.“
Dass ihm diese Art des Arbeitens möglich ist, liegt auch daran, dass sein Arbeitgeber, die Continental AG, ihn endlich einholt, was das digitale und vernetzte Arbeiten angeht. Und Harald Schirmer, der seit über 15 Jahren papierlos arbeitet und statt Dokumente lieber auf Wikis und Blogs setzt, hat selbst so einigen Anteil daran. Seit 25 Jahren Teil der Continental-Familie, hat er Anfang des Jahres die im HR-Bereich angesiedelte Verantwortung für Digitale Transformation, Veränderungsmanagement und Kulturentwicklung übernommen. Die Implementierung eines Social-Business-Networks gehört seit gut vier Jahren zu seinen Aufgaben.
Erst die Kultur entwickeln
Dieser Dreiklang aus Digital, Change und Kultur – gelegentlich schleicht sich während des Gespräches auch das Wort „Social“ mit ein – scheint wie eine treffende Umschreibung für das, was es braucht, um aus der Digitalisierung mehr zu machen als nur einen weiteren Kanal für ein und dieselbe Dokumentenflut. „Wenn die Menschen es nicht gewohnt sind, transparent zu arbeiten, Feedback zu geben und die Freiheit zu haben, ihr Wissen zu teilen, ohne dass es sofort der Abteilung oder der eigenen Führungskraft etwas bringt, dann können sie das nicht umsetzen, weil es noch nicht der Kultur entspricht, wie diese Leute miteinander umgehen. Sie müssen diese Kultur erst entwickeln.“ Und hier käme dann üblicherweise das Change Management ins Spiel, sagt Schirmer. Doch auch das greift in einer immer dynamischer werdenden Welt oft schon zu kurz. „Es entspricht dem üblichen Vorgehen, Change Manager auszubilden, die dann den Change in das Unternehmen tragen – sie wollen von Stabilität über den Change wieder in Stabilität – das passt nicht mehr zu 100 Prozent in unsere agile Umgebung“, erläutert er.
Den richtigen Weg dazu sieht Harald Schirmer in einer möglichst großen Beteiligung im Unternehmen. „Früher war das höchste Maß an Beteiligung eine Umfrage. Heute können wir über soziale Systeme Personen auch ganz individuell einbinden. Im Netzwerk werden die Ergebnisse in Echtzeit verarbeitet und konsolidiert und so können wir effizient, mit maximaler Beteiligung damit umgehen.“ Was es braucht, ist also tatsächlich ein Umdenken. Das Digitale als Treiber und auch Vehikel dieser Entwicklung, die letztendlich aus jedem Mitarbeiter einen Change Agent macht. „Die Technik“, sagt Schirmer, der gerne auch Mal Peter F. Drucker als Hörbuch empfiehlt, „ist der Enabler.“
Transparentes Wissen
Die weltweit sichtbarste Ausprägung des digitalen Denkens ist bei der Continental ihr Enterprise Social Network ConNext, an ebendessen Implementierung Harald Schirmer seit 2011 eine der treibenden Kräfte gewesen ist. Am ehesten lässt es sich tatsächlich mit einem sozialen Netzwerk aus dem privaten Kontext vergleichen. Mitarbeiter können hier Profile anlegen, Freundschaften knüpfen und miteinander kommunizieren. Die über die Welt verstreuten Continental-Mitarbeiter sind sich dadurch nahe – zumindest virtuell. Für das Unternehmen noch interessanter ist aber, dass sich über das Netzwerk auch Projekte organisieren und Arbeitsgruppen bilden lassen. Zudem kann Wissen geteilt werden und es ist transparent und auffindbar.
Einen Vorläufer hatte ConNext in einem sozialen Netzwerk, das Harald Schirmer schon vor einigen Jahren in der Automotive-Division zusammen mit einem Kollegen aufgebaut und mit dem schon damals gut 6.000 Kollegen regelmäßig gearbeitet hatten. Als dann eine Besetzung im Projekt für die Einführung eines konzernweiten Social Business Network gesucht wurde, ist er mit seinen Erfahrungen in der Hinterhand „ganz frech aufgeschlagen“, berichtet er, ohne auf dem Papier zu haben, was die Ausschreibung eigentlich vorausgesetzt hatte. Den Vertrauensvorschuss bekam er. Heute sind es 96.000, die dieses Netzwerk regelmäßig nutzen.
Es geht um Sichtbarkeit
Persönlich versucht Harald Schirmer diese Arbeitsweise möglichst intensiv vorzuleben, ist in vielen Blogs und Communities unterwegs. „Wenn ich das erzähle, hört sich das nach so vielen Themen an“, sagt er auf die Frage, wie er all das in einen einzigen Arbeitstag bekommt. „Aber es geht eigentlich darum, seine Arbeit anders zu machen. Das ist kein Mehraufwand, weil die Leute miteinander arbeiten. Wir reden von Teams mit Menschen, die nicht in einer Richtung nebeneinander her, sondern wirklich gemeinsam an einem Gedankenstrang arbeiten. Wenn Sie das vom ersten Aufwecken des Computers bis zum Ende durchhalten, dann verwischen Grenzen.“ Und so, ergänzt er, könnte man Aufgaben auch optimal verteilen. Da ist sein Team, das diese Themen treibt. Außerdem gibt es rund 400 Guides, die verteilt auf die mehr als 50 Länder, in denen Continental aktiv ist, diese Art des vernetzten Arbeitens in das Unternehmen tragen.
Für Harald Schirmer ist dieses Auflösen des Trennenden ein sehr wichtiges Element. Die Kulturarbeit, erläutert er, mache er ganz bewusst in diesen sozialen Netzen. Es geht um Sichtbarkeit und Transparenz. Manchmal ist es notwendig etwas sehr deutlich vorzuleben. „Working Out Loud“, sagt er dazu. Nur so lasse sich zeigen, dass dieser digitale Wandel kein losgelöstes Thema von all den anderen Dingen ist, die für ein Unternehmen wie Continental wichtig sind. Aber auch für ihn ist das ein wichtiger Lernprozess. „Wo wir früher vielleicht aktionistischer gewesen wären, besteht heute ein großer Teil aus Lernen und Zuhören. In der Situation, in der ich jetzt bin, erlaube ich mir zudem oft, Fragen zu stellen“, sagt Harald Schirmer, der sich bei aller Begeisterung, die seiner Stimme deutlich anzuhören ist, nicht als Digital-Priester verstanden wissen will, sondern eher als Überzeugungstäter.
Harald Schirmer mit Guides aus Indien, die für das vernetzte Arbeiten bei Continental werben.
Foto: Harald Schirmer
„Mir ist Nachhaltigkeit sehr wichtig“, sagt er. „Menschen Respekt entgegen zu bringen und zuzuhören ist dabei eine Grundvoraussetzung. Es geht immer darum, dass wir lernen, miteinander umzugehen.“
Geboren ist er in München, hat aber die meiste Zeit in Ingolstadt gelebt, selten jedoch lange an einem Ort. Dieses Unstete, erzählt er, ziehe sich ein wenig durch sein Leben, und spricht von einer Halbwertszeit von drei bis vier Jahren, bevor sich wieder etwas Grundlegendes ändere. „Als überzeugter Change Agent wäre es auch verwunderlich, wenn es mich nach dieser Zeit nicht in den Finger jucken würde.“ Er lacht. Er ist schon seit 25 Jahren bei Continental. „Mir war es wichtig, in alle Bereiche hineinzuschauen und auch Umwege zu nehmen und zu erleben. Das lässt mich so manche Dinge in einem anderen Zusammenhang sehen“, sagt er. Eingestiegen ist Harald Schirmer in der Elektrotechnik. Den Hang, ein Problem streng logisch zu betrachten und erst einmal an eine technische Lösung zu denken, geht wohl auf seinen Vater zurück, der als Ingenieur in der Automobilentwicklung ebenfalls bei Continental gearbeitet hatte.
Digitaler Erweckungsmoment
Ein wenig anders wurde das erst, als Harald Schirmer in Berührung mit einer kollaborativen Arbeitsweise kam – während eines dreijährigen USA-Aufenthaltes, wo er von 1996 an das Qualitäts-Labor der Continental geleitet und eine Wissensdatenbank aufgebaut hat. Bedingung war, dass jede Frage nur einmal beantwortet, aber entsprechend dokumentiert wurde. In acht Monaten sei ein Wiki mit gut 600 Seiten zusammengekommen, berichtet er. „Ich habe dabei gemerkt, dass es gar nicht so wichtig war, dass am Ende dieses Tool stand, sondern dass hier Menschen, die ganz eng zusammenarbeiten, sehr viel mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen zu erzählen und beizutragen haben.“
Sein wirklicher digitaler Erweckungsmoment ist jedoch einem schon fast in Vergessenheit geratenen Messenger-Dienst geschuldet – ICQ. Damals, so um 1996 oder 1997, als man noch nicht jeder unbekannten Kontaktanfrage argwöhnen musste, gab es dort schon eine Funktion, mit der man sich mit einer zufällig ausgewählten Person irgendwo in der Welt verbinden lassen konnte. „Ich habe dadurch schnell viel über Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern gelernt, was ich vorher nie gedacht hätte. Einerseits ein Reichtum an Vielfalt – mit aber andererseits sehr ähnlichen Grundbedürfnissen. Das war ein so tolles Erlebnis, dass ich mir gesagt habe, wenn ich diese Transparenz irgendwie fördern und Menschen zusammenbringen kann, entsteht etwas Neues“, erinnert er sich. „Das ist einer der großen Treiber, der mich dazu gebracht hat, diese Themen über die ganzen Jahre weiterzuführen.“
Er sei dabei aber immer pragmatisch geblieben, ergänzt er. „Wenn ich irgendwo Potenzial sehe, dann probiere ich es aus – entweder im Selbstversuch oder in kleinen Piloten. Wenn es ankommt, dann ist es gut, wenn nicht, kann ich mich immer noch entschuldigen.“ Also frei nach dem Motto: Weniger fragen, lieber dafür entschuldigen, wenn etwas nicht funktioniert. „Dafür habe ich dann aber belastbare Erkenntnisse.“
ConNext: 96.000 User nutzen das Netzwerk. Mehr als 30.000 sind pro Woche durchschnittlich online. Dabei umfasst ConNext mehr als 14.000 Blogs, fast 4.000 Wikis und rund 11.500 unterschiedliche Foren.