Herr Professor Esser, die Auszubildenden sind die Fachkräfte von morgen, die die Wirtschaft händeringend braucht. Laut aktuellem BIBB-Datenreport konnten im Ausbildungsjahr 2022/2023 allerdings von 562.600 Ausbildungsplätzen nur 489.200 besetzt werden. Welche Faktoren spielen hier eine Rolle?
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser: Zwei wesentliche Faktoren spielen hier die entscheidende Rolle: die demografische Entwicklung und der Bildungstrend. Es kommen weniger junge Menschen nach bei gleichzeitigem Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt. Daraus ergibt sich schon rein quantitativ ein Problem. Das ist aber nicht alles. Wir stellen auch eine qualitative Veränderung fest. Zwischen den Jahren 2000 bis 2020 hat sich die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge erheblich reduziert. Wir hatten 1,7 Millionen Auszubildende im Jahr 2000, im Jahr 2020 waren es 400.000 weniger. Dieser Rückgang ist allerdings nicht nur demografisch begründet, sondern hat auch etwas mit dem Bildungstrend zu tun. Denn im gleichen Zeitraum ist die Zahl der gemeldeten Erstsemester an den Hochschulen erheblich gestiegen. Im Ausbildungsjahr 2015/2016 hatten wir den Höchststand bei der Studienanfängerquote von über 50 Prozent, die sich jetzt auf um die 46 Prozent eines Schulabgangsjahrs einpendelt. Das ist eine Entwicklung, die für bestimmte Branchen und Berufe erhebliche Konsequenzen hat und viel mit ihrem Image als Ausbildungs- und Arbeitsbereich zu tun hat. Die Lebensmittelbranche, Hotellerie, Handwerksbetriebe und Baugewerbe beispielsweise brauchen dringend Nachwuchs und haben große Probleme, ihre Stellen zu besetzen. In den Berufen der Kommunikations- und IT-Branche sieht es nicht so problematisch aus. Auch die kaufmännischen Berufe sind bei jungen Leuten nachgefragt. Von einer mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung kann hier nicht gesprochen werden, wenn es auch hier Besetzungsprobleme gibt. Beispielsweise deshalb, weil Unternehmen in ihrem regionalen Umfeld die für sie passenden Auszubildenden nicht finden. Wir gehen davon aus, dass wir in den kommenden zehn Jahren nicht in der Lage sein werden, den Fachkräftebedarf nur über das inländische Potenzial zu sichern. Deshalb müssen wir auf jeden Fall auch auf qualifizierte Zuwanderung setzen.
Gibt es eine Tendenz, dass zunehmend geflüchtete Jugendliche in der Ausbildung ankommen?
Wichtig ist, dass die Wirtschaft die Signale sendet, dass dies gewollt ist. Das sehen wir auch. Aber die Zahlen sprechen in diesem Bereich immer noch eine andere Sprache. Das heißt, viele Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund haben keinen oder einen schlechten Schulabschluss und damit nur eine geringe Chance auf einen Ausbildungsplatz. Hinzu kommen sprachliche Barrieren, auch für zugewanderte Menschen, die ausbildungswillig und -fähig sind. In vielen Berufen spielt Sprache eine große Rolle – aber eben nicht in allen. Wir sollten deshalb überlegen, ob man nicht zum Beispiel bei Berufen mit hohen praktischen, jedoch eher weniger Sprachanteilen das geforderte sprachliche Niveau senken sollte.
Sie haben gerade die gesellschaftliche Anerkennung angesprochen. Die duale Berufsausbildung ist ein Vorzeigemodell Deutschlands, in vielen anderen Ländern gibt es das nicht. Warum fehlt es gerade im eigenen Land an Anerkennung für diesen Qualifizierungsweg?
Das Anerkennungsproblem, das wir in der Berufungsausbildung haben, ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Insbesondere in den 1960er Jahren entwickelte sich eine Bewegung in Deutschland mit dem Schlagwort: Aufstieg durch Bildung. Dieses Versprechen hat seinerzeit eine Bildungsexpansion ausgelöst. Da hat etwa der Opa noch unter Tage im Bergbau gearbeitet, sein Sohn hat eine kaufmännische Ausbildung gemacht, war also aus dem Bergbau raus, und seine Enkel studieren heute. Dies skizziert eine Erfolgsgeschichte über Generationen hinweg, wie sie für Nordrhein-Westfalen typisch ist. Abitur zu machen und ein Studium zu beginnen, gilt immer noch als Königsweg. Viele akademische Berufe sind in der Folge bis heute hochanerkannt, nicht wenige Ausbildungsberufe im Vergleich weniger – obwohl ja auch der Akademiker nicht auf seinen Installateur und Bäcker verzichten möchte.
Wir machen leider in der Berufsorientierung die Erfahrung, dass nicht wenige junge Leute, die Interesse an einem Handwerksberuf haben, damit in ihrem sozialen Umfeld nicht auf Anerkennung stoßen – vor allem auch bei den Eltern nicht, die hier einen großen Einfluss auf ihre Kinder haben. Um dieses über Jahrzehnte sich entwickelnde Selbstverständnis ein Stück weit umzukehren, müssen wir wieder deutlicher machen, dass zum Beispiel auch in den Handwerksberufen sehr viel Bildung steckt. In diesem Sinne setzt sich das BIBB dafür ein, dass der deutsche Qualifikationsrahmen verrechtlicht wird, um deutlich zu machen, dass die Ergebnisse der beruflichen und der akademischen Bildung gleichwertig sind. Dies gesetzlich zu manifestieren, wäre ein wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein.
Manche Branchen sind auch nicht sehr attraktiv, was Gehalt oder Arbeitszeiten angeht. Da gehen viele Azubis schnell wieder. Welchen Einfluss hat das BIBB auf die Ausbildungsverantwortlichen in den Betrieben?
Das BIBB ist an der Erstellung der Ausbildungsordnungen beteiligt und kann so auch inhaltlichen Einfluss auf das Ausbildungsgeschehen nehmen. Außerdem unterstützen wir die Arbeit des Ausbildungspersonals vollumfänglich unter Nutzung digitaler Möglichkeiten, zum Beispiel mit unserem Portal Leando. Und natürlich kann der Markt die Situation in den Betrieben verbessern, da der Fachkräftemangel die Betriebe zunehmend anhält, Strategien zur Personalbindung umzusetzen. Ich bin mir sicher, dass der Markteffekt einen Beitrag zum achtsameren Umgang mit Azubis leisten wird.
2,89 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren haben dem BIBB-Datenreport zufolge keine formale Qualifikation, sind also ohne Berufsabschluss. Wie sind diese Zahlen zu erklären?
Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an dieser Gruppe ist hoch. Das hat mit den Problemen zu tun, die wir an dieser Zielgruppe vorrangig festmachen, wie die schlechte schulische Vorbildung und die Sprachprobleme. Unter diesen 2,89 Millionen Menschen verorten wir aber auch noch 600.000 sogenannte Neets, also junge Menschen, die gar nichts machen – „Neet“ steht für „Not in Education, Employment or Training“. Doch den Hauptteil von diesen 2,89 Millionen Menschen machen jene aus, die – warum auch immer – den Übergang von der Schule in die Ausbildung nicht hinbekommen. Und diese Menschen müssen wir verstärkt in den Blick nehmen; denn ich bin davon überzeugt, dass hier noch viel Potenzial für den Arbeitsmarkt vorhanden ist und auch diese Menschen mehr Chancen für Teilhabe verdienen.
Welche Weichen müssen jetzt sofort von politischen und wirtschaftlichen Akteuren gestellt werden, damit die Zahlen nicht weiter steigen?
Wir müssen weg von Stigmatisierungen und uns auf das Potenzial der Menschen fokussieren. Wir müssen weg von dem Gedanken, die Menschen müssten ins Bildungssystem passen. Vielmehr muss sich das System mehr an den Lernvoraussetzungen und Interessen der Menschen ausrichten. Das heißt, wir müssen mit unseren Angeboten individueller werden. Wichtige Beiträge dazu können ordnungstechnisch entwickelte Ausbildungsbausteine und Teilqualifikationen sein.
Man hört immer wieder, dass junge Menschen für einen Ausbildungsstart nachgeschult werden müssen. Woran liegt das?
Klar ist, dass es zur Lernvoraussetzung für eine Ausbildung bestimmte Grundlagen braucht – und diese sind in der Schule herzustellen. Es ist nur die Frage, wie man den jungen Leuten die Inhalte näherbringt. Eine Möglichkeit besteht darin, die theoretischen Inhalte praxisnah zu unterrichten. Dafür müssten sich die Schulen in den Regionen stärker mit Betrieben vernetzen, um zwischen den Lerninhalten und dem, wie diese in den Berufen angewendet werden, einen Bezug herstellen zu können. Auch Entrepreneurship Education muss viel stärker in die schulische Bildung.
Welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind in Unternehmen künftig am dringendsten gesucht und wie müssen sich die Lerninhalte darauf ausrichten?
Die Wirtschaft braucht Menschen, die lern- und veränderungsbereit sind. Wir reden hier von sogenannten Transformationskompetenzen. Das macht sich genau an diesen beiden Schlüsselqualifikationen fest. Unsere Forschungen zeigen, dass viele Berufe sich zu Querschnittsberufen verändern. Hier kommt es nicht mehr nur auf die berufstypischen Fachkompetenzen an, sondern immer mehr auch auf digitale Kompetenzen – egal in welchem Beruf. Junge Menschen müssen zudem verstärkt lernen, in Strukturen und Prozessen zu denken, sollten teamorientiert aufgestellt sowie vielseitig interessiert sein. Und schließlich: Lebensbegleitendes Lernen muss eine Selbstverständlichkeit sein.
Die Stellenportale verzeichnen derzeit weniger Stellenangebote. Ist das der Beginn eines Gegentrends zum Fachkräftemangel? Und wie realistisch ist es, für den nächsten Datenreport bessere Zahlen zu erwarten?
Bei den Ausbildungsverträgen werden wir im Vergleich zum Jahr 2019 auch im nächsten Jahr weiter zurückliegen. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage werden wir weniger angebotene Ausbildungsstellen haben als vergangenes Jahr. Dadurch wird die Zahl der unbesetzten Stellen etwas zurückgehen. Die Reduzierung von Ausbildungsangeboten ist auch ein Effekt des Arbeitsplatzabbaus, den wir verzeichnen.
An der Fachkräftesicherung entscheidet sich auch die künftige Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wo ist Ihrer Meinung nach der dringlichste Handlungsbedarf in diesem Zusammenhang und was ist Ihr Appell?
Die berufliche Bildung muss in der Gesellschaft wieder mehr Anerkennung finden. Mit Blick auf die Herausforderungen der beschleunigten Transformation muss sie mit ihrem Angebot für Menschen und Betriebe flexibler, inklusiver und exzellenter werden. Um das zu erreichen, müssen wir vor allem die Bürokratie im Berufsbildungssystem reduzieren, die Curricula in Aus- und Weiterbildung entschlacken und wieder mehr dem Handeln der Akteure vor Ort vertrauen.
Über den Gesprächspartner:
Professor Dr. Friedrich Hubert Esser ist seit 2011 Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und seit 2005 Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. 2004 übernahm er die Leitung der Abteilung „Berufliche Bildung“ beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) in Berlin, wo er bis zur Übernahme des Amtes als BIBB-Präsident tätig war. Esser absolvierte eine Ausbildung im Bäckerhandwerk und erlangte sein Abitur über den „zweiten Bildungsweg“. Er studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften, später Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik und promovierte an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.
Weitere Infos zum Thema:
- KOFA-Leiterin Sibylle Stippler über den Fachkräfte: „Wir stehen erst am Anfang des Problems“
- Teufelskreis Kita-Notstand: Familien, Fachkräfte und Unternehmen am Limit
- Migration und Integration im deutschen Arbeitsmarkt
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Skills. Das Heft können Sie hier bestellen.