Gehirn 4.0 – Unser analoges Hirn in digitalen Zeiten

Future of Work

Es ist noch nicht so lange her, als in den Unternehmen die neu eingestellten Mitarbeiter per ausgedrucktem Foto am schwarzen Brett angekündigt wurden? Röhrenbildschirme nahmen die Hälfte des Schreibtisches ein – in der Tiefe, nicht in der Breite. Tatsächlich hat sich seither eine Menge getan, obwohl das alles noch gar nicht so lange her ist. 1991 gilt als Geburtsstunde des Internets, 1996 war der Markteintritt von Google und 2002 begann das digitale Zeitalter. Das bedeutete, dass in diesem Jahr weltweit geschätzt mehr Informationen in digitaler als in analoger Form vorlagen.

„Digital“ bedeutet zuerst einmal die Umwandlung von analogen Formaten wie einem Mitarbeiterfoto in Nullen und Einsen. Mit Beginn des digitalen Zeitalters hatten damit Fotonegative und Diapositive, Tonbandaufnahme und Schallplatte ausgedient. Whatsapp ist erst elf Jahre alt und aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Autonom fahrende Autos legen erste ernstzunehmende Strecken zurück und mit Alexa war 2017 erst einmal der Höhepunkt des digitalen Zeitalters erreicht. Dachten wir.

Doch die unfreiwillige digitale Disruption des Jahres 2020 hat uns im digitalen Zeitalter ein ganzes Stück weitergebracht. Die Umstellung erfolgte in einer Geschwindigkeit, die keiner für möglich gehalten hätte. Plötzlich ist Homeoffice der Standard. Und Mitarbeiter werden komplett digital ausgewählt. Wochenlang waren persönliche Vorstellungsgespräche nicht möglich – eigentlich ein zentraler Bestandteil des Rekrutierungsprozesses. Und die Personalverantwortlichen sind unsicher ob der weiteren Auswirkungen und Entwicklungen.

Anpassungsfähiges Gehirn

Kommt bei dieser Geschwindigkeit unser analoges Gehirn überhaupt noch mit? Ein Gehirn, das es in einer ganz einfachen Vorgängerversion bereits seit 2 Millionen Jahren gibt. Im Verhältnis zu dieser Zeitspanne hat es sich eher langsam verändert und an unser wandelndes Leben angepasst. Kann es in unserer digitalen Zeit überhaupt noch von Nutzen sein?

Klare Antwort: Ja. Denn unser Gehirn ist extrem anpassungsfähig. Wichtige Basis ist eine gute Grundversorgung mit ausreichend Getränken und gehirngerechter Ernährung, zu der neben Obst, Gemüse und Ballaststoffen auch gute Fette gehören wie zum Beispiel Olivenöl, Nüsse, Lachs oder Hering.

Mit der Ausschüttung verschiedenster Botenstoffe und Hormone sorgt unser Gehirn dafür, dass wir ausgeglichen und leistungsfähig sind. So bringt uns Serotonin in eine gute Grundstimmung, in der wir konzentriert arbeiten können. Dopamin ist das sogenannte „Tschakka-Hormon“, das uns dazu bringt, Dinge umzusetzen. Seine Ausschüttung hängt eng mit dem Grad an Bewegung zusammen, den wir uns gönnen: Viel Bewegung heißt hier viel Dopaminausschüttung und demzufolge Tatendrang. Wenn wir ein Ziel erreicht haben, überflutet uns unser Gehirn mit Glückshormonen, den sogenannten Opioiden. Unser Gedächtnis, das dieses Glücksgefühl speichert, sorgt dafür, dass wir genau das gleiche noch einmal erleben wollen und bringt uns wiederum ins Tun mit dem Ausstoß von Dopamin.

Stress reduzieren, Nutzungsdauer erhöhen

Schwierig wird all das dann, wenn wir unter großem Stress stehen. Wird der Stress zu viel, werden wir unkonzentriert und machen Fehler. Ein leichter Stresslevel hingegen bringt uns dazu, konzentriert und fokussiert zu arbeiten. Hier macht die Dosis das Gift. Bei zu viel Stress hilft Bewegung. Dadurch bauen wir Stresshormone ab und werden wieder konzentrierter.

Unser Gehirn dagegen blüht auf, je mehr wir es benutzen. Es möchte arbeiten, Fakten abspeichern, Lösungen überlegen und zwischenmenschliche Begegnungen lenken. Allerdings ist unsere Aufmerksamkeit eng begrenzt. Um Dinge langfristig abzuspeichern, muss einiges zusammenkommen, wie der schon genannte Hormoncocktail, das richtige Level an Anspannung, bereits vorhandenes Wissen und die passende Dosis an Informationen.

Wie kann uns dieses Gehirn denn im digitalen Zeitalter behilflich sein? Schließlich war in den letzten Monaten zu merken, dass Homeoffice mit den vielen online-Meetings extrem ermüdend ist. Was ist da los? Der Begriff „Zoom-Fatigue“, also „Zoom-Müdigkeit“ zeigt schon, dass es sich um ein häufig auftretendes Phänomen handelt. Das Problem liegt darin, dass wir online nur wenig an nonverbaler Kommunikation entschlüsseln können. In „echten“ Meetings, wenn wir alle an einem Tisch sitzen, interpretiert unser Gehirn ständig die Körpersprache der Anwesenden: Haltung, Gestik, Mimik – ja sogar die Mikromimik. Das sind ganz kleine Bewegungen in unserem Gesicht, die wir nicht bewusst wahrnehmen. Die uns aber ein echtes von einem falschen Lächeln unterscheiden lassen. All das kommt in einem Online-Meeting nicht an. Die Hände sehen wir nicht, da sie meist nicht im Bildschirm sind. Da die Bilder der Teilnehmenden sehr klein sind, können wir auch die Mikromimik nicht entschlüsseln. Wie ein Handy, das ständig nach einem Funkmast sucht, auch wenn keiner da ist und deshalb den Akku sehr beansprucht, so sucht unser Gehirn ständig nach kommunikativen Signalen beim Gegenüber und findet nichts. Das kostet Energie und ermüdet.

Dazu kommt, dass wir im Homeoffice meist nicht alleine sind. Kinder machen Homeschooling, der Partner ist ebenfalls zu Hause am Computer. Für unser Gehirn ein ständiger Alarm-Modus: Unser Unterbewusstsein ist dauernd auf der Hut und achtet darauf, ob die Kinder uns brauchen oder der Partner beziehungsweise die Partnerin nach uns ruft.

All das bedeutet Stress für unser Gehirn. Es schüttet nicht Serotonin oder Dopamin aus, sondern Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin.

Auf Multitasking lieber verzichten

Zu alldem kommt noch ein weiteres relativ neues Phänomen hinzu: Das des „second screens“. Sicher haben Sie sich auch schon dabei ertappt, wie Sie während eines Online-Meetings mit Ihrem Handy eine Whatsapp geschrieben oder beim Fernsehen im Handy in einigen Online-Shops gestöbert haben. Das fühlt sich vielleicht sehr effektiv und wie Multitasking an. In Wirklichkeit ist es für unser Gehirn aber eines: Stress. Unser Gehirn kann kein Multitasking. Sobald wir etwas gleichzeitig machen, ist das nie so gut wie wenn wir es nacheinander erledigen. Wenn Sie während eines Online-Meetings eine Mail schreiben, bekommen Sie zum einen vom Meeting nicht 100 Prozent mit, zum anderen fehlt an der Mail garantiert der Anhang oder das Datum in der Mail hat vielleicht einen Zahlendreher. Wenn sie gehirngerecht arbeiten möchten, heißt das: Eine Aufgabe nach der anderen, nicht gleichzeitig.

Die ständige Verfügbarkeit von Wissen in ungeahnten Ausmaßen ist ein weiterer großer Vorteil der Digitalisierung. Wir praktisch! Wenn wir etwas wissen wollen, brauchen wir nur zu googeln. Der Nachteil ist allerdings, dass sich das auf unsere Merkfähigkeit auswirkt: Forscher sprechen vom „Google-Gedächtnis“. Wir lagern unser Wissen unbemerkt in Google aus und speichern weniger ab. Und das hat fatale Konsequenzen: Wer nichts weiß, kann keine Entscheidungen treffen. Dessen Leben wird von anderen gelebt, weil er sich immer auf deren Entscheidungen verlassen muss. Wer nichts weiß, kann keine Fake-News erkennen und auch im Internet unseriöse nicht von seriösen Datenquellen unterscheiden. In diesem Fall heißt das: Denken Sie öfter einmal nach, bevor Sie googeln. Suchen Sie in Ihrem Gedächtnis, was Sie zur entsprechenden Frage schon abgespeichert haben. Und, ganz abgefahren: Sprechen Sie mit Ihren Mitmenschen, vielleicht finden Sie gemeinsam die richtige Antwort heraus. Im besten Fall macht das auch noch Spaß. Dann dankt es Ihnen Ihr Gehirn mit einem Glückshormoncocktail, an dessen gute Gefühle Sie sich noch lange erinnern werden.

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Julia Kunz, Personal Brain Coach

Julia Kunz

Personal Brain Coach Julia Kunz ist Master of Cognitive Neuroscience und Diplom-Kulturwirtin. Sie weiß, wie das Gehirn funktioniert, warum es manchmal nicht so tickt, wie wir uns das wünschen und welche zielführenden Maßnahmen funktionieren, damit wir auch in Stresszeiten fokussiert und konzentriert bleiben. Ihre Expertise in den Neurowissenschaften fließt in ihre Trainings und Vorträge rund ums Gehirn ein. www.juliakunz.de

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