Datenmengen statt Papierstapel, digitale Tools statt Klammeraffen. New Work flutet unsere Arbeitswelt nicht nur mit dem Wunsch nach mehr Sinn im Job, sondern auch mit einer Menge neuer HR-Software und Dienstleistungen. Schwierig, dort einen Überblick zu behalten. Stand Oktober 2023 gibt es 489 Start-ups, die sich in der DACH-Region mit HR Tech befassen. Zu diesem Ergebnis kommt der HR Tech Overview DACH von Embrace-CEO Gero Hesse. Im Vergleich zum Jahresanfang 2023 ist die Anzahl sogar um 57 Prozent gestiegen. Die allgegenwärtigen Herausforderungen um den Fachkräftemangel bieten digitalen Lösungen für die Anwendungsbereiche Recruiting und Retention anscheinend einen fruchtbaren Boden.
Dass diese Entwicklung zumindest in den nächsten Jahren anhalten wird, dessen ist sich Simon Werther sicher. Der Professor lehrt Leadership an der Hochschule München, gründete das Start-up HR Instruments und initiierte 2015 den HR Startup Monitor. Seit fast zehn Jahren kartografiert dieser die Start-up-Landschaft in HR und teilt sie dabei in fünf Kategorien ein: Personalauswahl und -marketing, Personal- und Organisationsentwicklung, Personalverwaltung und -organisation, Compensation und Benefits sowie betriebliches Gesundheitsmanagement. Auffällig ist, dass sich die Verteilung der neu gegründeten Unternehmen auf diese Bereiche kaum verändert hat: Der Recruiting-Bereich liegt seit 2015 unbestreitbar an der Spitze, im Jahr 2022 mit 47 Prozent. Danach folgt der Bereich Personal- und Organisationsentwicklung mit 32 Prozent. Andere Bereiche wie Administration, Compensation und Benefits sowie das betriebliche Gesundheitsmanagement liegen im Vergleich weit zurück. Neben dem Fachkräftemangel spielen Recruiting-Start-ups zudem geringere Eintrittsbarrieren in die Karten. „Im Vergleich zu Bereichen wie der Personalverwaltung oder Organisation sind verschiedene Anforderungen in anderen Bereichen, wie im Datenschutz, wesentlich niedriger. Zudem sind andere HR-Schwerpunkte für Nischenanbieter aufgrund der zahlreichen etablierten Marktteilnehmer oftmals schwieriger zu durchdringen“, meint Szenekenner Werther.
Große Lücken tun sich auf
Während sich beim erstplatzierten Bereich Recruiting der Fokus auf eine externe Zielgruppe richtet, zielt der Zweitplatzierte des HR Startup Monitors auf interne HR-Prozesse ab. In der Personal- und Organisationsentwicklung steht die Kompetenzentwicklung der eigenen Mitarbeitenden, einzelner Teams und der gesamten Organisation im Mittelpunkt. Dort gibt es einen großen Entwicklungsbedarf. Denn zwischen den von den Arbeitgebern benötigten Qualifikationen und den tatsächlichen Qualifikationen der Mitarbeitenden besteht eine große Diskrepanz. Dieser Skill Gap beläuft sich nach einer Studie des Kienbaum Instituts in deutschen Unternehmen im Jahr 2022 auf 59 Prozent. 64 Prozent der Befragten gingen davon aus, dass er noch weiter ansteigen wird. Doch nicht nur bei den Qualifikationen ist eine Lücke ersichtlich. Neben dem Skill Gap scheint es auch einen Tech Gap zu geben – zwischen KMU und Konzernen. Das verdeutlicht die Studie 360-Grad-Überblick über den Digitalisierungsstand in KMU des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste von Ende 2021.
Werther teilt diese Einschätzung – insbesondere hinsichtlich des Einsatzes von Technologien wie generativer KI. „Die Diskussion um den KI-Einsatz ist in manchen Kreisen verzerrt. Dort werden disruptive Vorreiter und Pilotprojekte hervorgehoben. Doch es steht bei Weitem noch nicht die Mehrheit der Unternehmen an diesem Punkt, besonders wenn wir uns die kleinen und mittleren Unternehmen ansehen.“ In diesen Unternehmensformen stünden sogar noch erste grundlegende Schritte der Digitalisierung aus. Generell stelle sich die Frage, ob Unternehmen der Entwicklung hinterherlaufen oder sich auf der Welle bewegen möchten. „Unternehmen müssen differenzieren, was Innovation und Vorreiterrolle für sie wirklichen bedeuten.“ Denn es heiße nicht unbedingt, dass sie diese Technologie maßgeblich mitgestalten müssen. „Es ist auch unrealistisch zu erwarten, dass kleine Unternehmen KI-Fachleute einstellen oder die Technologie prägen werden.“ Stattdessen sollten sie eher auf Anbieter setzen, die einfach bedienbare Lösungen entwickeln. „Es ist jedoch wichtig, für Neues offen zu sein, eigene Pilotprojekte durchzuführen, Unternehmensnetzwerke aufzubauen und in ihnen zu experimentieren.“ Darin seien größere Unternehmen meist weit voraus, doch es gibt auch erfolgreiche Beispiele aus kleinen und mittleren Unternehmen.
Data Literacy wird zur Kernkompetenz
Im Umfeld neuer Technologien wird sich das Berufsbild von Personalverantwortlichen verändern, da ist sich Simon Werther sicher. Denn es brauche neue Kompetenzen, um mit den aktuellen Anforderungen Schritt zu halten. Dazu gehören Data Literacy sowie eine grundlegende technische Affinität. „Ohne dass Personalverantwortliche zwingend zu KI-Fachleuten werden oder programmieren können müssen.“ Idealerweise sollten HR-Tech-Anwendungen nämlich so gestaltet sein, dass auch Personen ohne Programmier- oder KI-Hintergrund sie problemlos nutzen können. „Personalverantwortliche müssen jedoch Entscheidungen auf der Grundlage von Systemdaten und Konfigurationsentscheidungen treffen können sowie Daten analysieren, interpretieren und hinterfragen.“
Viele Unternehmen haben bereits innovative Tech-Tools im Einsatz. Einige Anwendungsbeispiele und Trends im Überblick:
Digitale Assistenzsysteme
Weg vom Bibliothekar – hin zum Berater. Eine solche Entwicklung skizziert das Beratungsunternehmen Accenture mit dem Trend A match made in AI aus dem Report Technology Visions 2024. Generative künstliche Intelligenz und Large Language Modelle (LLM) verändern dabei die Art und Weise, wie wir Daten nutzen, und die Sprachmodelle, wie wir mit der Technologie interagieren. Anstelle eines suchbasierten Ansatzes mit anschließender Ergebnisauswahl tritt die Möglichkeit, Fragen zu stellen und direkt eine Antwort zu erhalten. Verbunden mit Unternehmensdaten, wie dem Intranet, können LLM-Chatbots wiederkehrende Routinefragen beantworten, beispielsweise zu Urlaubstagen. Neben HR-Services können Chatbots auch in anderen Bereichen wie Recruiting oder Onboarding genutzt werden. Einige Unternehmen setzen künstliche Intelligenz bereits für personalisiertes Skill Management und KI-basierte Lernplattformen ein, so zum Beispiel Vodafone. Das Telekommunikationsunternehmen stellte seine Plattform auf der Konferenz KI-X von Quadriga Media Berlin und dem Bundesverband der Personalmanager*innen im März 2024 in Berlin vor. Basierend auf den erfassten Fähigkeiten und den Karrierezielen der Beschäftigten können diese zum Beispiel personalisierte Weiterbildungsempfehlungen bereitstellen oder in einem skillbasierten Matching Fähigkeiten von Mitarbeitenden mit den Anforderungen von neuen Positionen abgleichen. KI als ständige Begleiterin und Assistentin im Arbeitsalltag – diese Vision haben zumindest das Softwareunternehmen Microsoft sowie andere Unternehmen mit ihren Copilots. Viele sehen zwar das Potenzial von KI-Anwendungen, der Einsatz geschieht jedoch noch zögerlich. Nach Ergebnissen des ifo Instituts im Auftrag von Randstad Deutschland vom September 2023 nutzten dabei rund fünf Prozent der befragten Unternehmen künstliche Intelligenz im HR-Bereich, 25 Prozent planten, zukünftig KI-Tools im Personalbereich einzusetzen.
Datenbasierte Entscheidungen
Kein Tech ohne Daten und auch kein HR ohne Daten. Mit People Analytics werden umfassende Messwerte über Mitarbeitende gesammelt und interpretiert. Ziel ist es, fundierte und datenbasierte Entscheidungen im Personalbereich zu treffen und Entwicklungsprognosen zu erstellen. Mit Data-Mining-Techniken können Fluktuationsraten, Mitarbeiterengagement, Fähigkeiten und Karriereverläufe ermittelt werden. Und Predictive Analytics erlaubt es zum Beispiel, zukünftige Trends und Ereignisse vorherzusagen – etwa, welche Positionen und Fähigkeiten durch Renteneintritte dem Unternehmen verloren gehen –, um rechtzeitig gegenzusteuern. Dieses Fallbeispiel stellte O2 Telefónica und Textkernel ebenfalls auf der KI-X vor. Dafür müsse nach Referentin Sarah Wörtler, Senior Skill and Learning Managerin bei O2 Telefónica, zunächst die Skill-Landschaft im Unternehmen erfasst werden. Dabei helfen Fragen wie: Welche Bereiche und Skills sind besonders betroffen? Wie verändern sich bestimmte Fähigkeiten und verlieren manche vielleicht an Relevanz? Weiterhin hilft die Analyse von Marktdaten zur Skill Prediction. Dazu werden zum Beispiel weltweit Jobbeschreibungen ausgelesen, um festzustellen, nach welchen Skills besonders häufig gesucht wird und wie lange entsprechende Jobausschreibungen online sind. Daraus lasse sich beispielsweise ableiten, wie schwer es ist, eine ähnliche Stelle nachzubesetzen.
Identitäten schützen und Zugriffe verwalten
Ungefähr jedes zehnte deutsche Unternehmen war im Jahr 2023 von einem IT-Sicherheitsvorfall betroffen, ermittelte der TÜV-Verband in seiner Cybersecurity Studie. Fachleute rechnen damit, dass Cyberkriminalität durch Deepfakes oder generative KI zunehmen wird, erlaubt sie etwa das massenweise Erstellen von personalisierten Phishing-Mails. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig verwunderlich, dass mit Cybersecurity verbundene Technologien an Bedeutung gewinnen. So rückt das Beratungsunternehmen Deloitte in seinen 2024 HR technology trend predictions besonders das Digital Identity Management als einen HR-Tech-Trend hervor. Das digitale Identitätsmanagement umfasst die Verwaltung und Authentifizierung der Identitäten der Beschäftigten sowie deren verwendeten Geräten. So soll Identitätsdiebstahl eingedämmt und der Zugang zu sensiblen Anwendungen und Daten nur autorisierten Personen und Entitäten vorbehalten sein. Die Blockchain-Technologie kann in diesem Rechtemanagement hilfreich sein, Daten der Beschäftigten sicher zu speichern und Zugänge einfach zu verwalten.
Neue Blickwinkel
Zudem gibt es einige Technologien, die sich für die breite Masse nach Zukunftsmusik anhören, in manchen Institutionen aber schon im Einsatz sind oder erprobt werden. Wie das Spatial Computing, das durch die Verwendung spezieller Headsets ermöglicht, digitale Inhalte in die reale Welt einzublenden und mit Gesten, Sprache und Blicken zu steuern. Denkbare Einsatzfelder wären Weiterbildungsangebote, wo in sicheren Umgebungen geübt werden kann, beispielsweise in der Medizin, der Chemieindustrie oder in der Industrie. Der Digitalverband Bitkom veröffentlichte 2023 einen Leitfaden zum Industrial Metaverse und skizzierte mögliche und konkrete Anwendungsfälle. So können die virtuellen Welten genutzt werden, um komplexe Betriebsszenarien und Simulationen zu erstellen, beispielsweise für Produktion, Logistik und Instandhaltung. Das Metaverse ermöglicht eine Zusammenarbeit in Echtzeit und über Ländergrenzen hinweg. Zum Einsatz kommt das Industrial Metaverse bereits bei Siemens oder der Deutschen Bahn. Mit Hologrammen dem Fachkräftemangel begegnen – Science-Fiction oder bald Realität? Erste Testversuche dazu laufen derzeit in Nürnberg. Dort testet der Möbel-Versandhändler Cairo die holografische Beratung im Einzelhandel und lässt eine Verkaufsberaterin temporär in Geschäfte übertragen.
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