Hybrides Arbeiten, geteilte Arbeitsplätze, Flexibilität und Selbstbestimmung – das sind Schlagworte, die vielen Menschen als Erstes in den Sinn kommen, wenn sie an die Zukunft der Arbeit denken. Bei der Otto Group haben wir uns im Jahr 2015 auf den Weg gemacht, Gewohntes zu hinterfragen sowie die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, radikal zu verändern. Das war die Geburtsstunde unseres Kulturwandel-4.0-Prozesses und der Anfang vieler weiterer Initiativen. Der Auslöser war kein Selbstzweck, sondern das explizite Ziel, die Zukunftsfähigkeit der Unternehmensgruppe in Zeiten der exponentiellen Digitalisierung dauerhaft zu sichern – es ging um nichts Geringeres als darum, weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben.
Anders arbeiten in der Logistik: Überfällig
In der Otto Group arbeiten im Rahmen unserer diversen Geschäftsmodelle circa ein Drittel aller Kolleginnen und Kollegen in gewerblichen Logistikbereichen. Sie bringen Bestellungen bis zur Haustür, sorgen dafür, dass die Lager immer gut gefüllt sind und sich schnell die richtigen Artikel auf dem Weg zu unseren Kundinnen und Kunden machen.
Auch – und vielleicht auch gerade – hier, wo oft körperlich anstrengende und monotone Tätigkeiten ausgeführt werden, wird New Work immer relevanter, der Ruf danach immer lauter. Gleichwohl scheinen die „klassischen“ Maßnahmen nicht umsetzbar: Remote Arbeit ist für die meisten Jobs in den Logistikbereichen undenkbar, die Beschäftigten dort haben ihre festen Arbeitsplätze, arbeiten nach klaren Anweisungen, definierten Prozessen, Standards und KPIs. Was können wir also tun, um diesen Kolleginnen und Kollegen dennoch mehr Wertschätzung, Anerkennung und Mitsprache zu ermöglichen? Um sie zu motivieren, zu binden und zu qualifizieren? Wie wird die funktionale, hierarchische Logistikorganisation zu einer lebendigen, attraktiven Arbeitsumgebung?
Initiative: Kulturwandel-Community mit Agenda
Diesen Fragen hat sich im Jahr 2018 eine Gruppe von Beschäftigten aus den Otto Group Logistikfirmen angenommen. Da die bislang verfolgten Aktivitäten primär auf Schreibtischarbeitsplätze ausgerichtet waren, entschieden sie, ihre Kräfte zu bündeln und gemeinsam die Transformation in der Logistik voranzubringen. Die kleine Gruppe – bestehend aus gewerblichen Mitarbeitenden, Führungskräften, Mitarbeitenden aus dem HR-Bereich und Betriebsräten aus dem Konzern – besuchte daraufhin zunächst ausgewählte Betriebe außerhalb der Otto Group. Sie beobachtete, interviewte und sammelte Ideen – ganz ungefiltert und intuitiv. Unser Konzernvorstand Services Kay Schiebur unterstützt diese Initiative als Schirmherr.
Wir wären kein Konzern, wenn wir die gesammelte Inspiration im Anschluss nicht im Rahmen eines Workshops in ein Modell überführt hätten, um es dann an unsere Bedarfe anzupassen und zu nutzen. Bis heute begleitet uns dieser sogenannte „Maßnahmenrahmen“. Er ist nicht wissenschaftlich validiert, die Maßnahmen sind nicht komplett trennscharf. Aber es ist ein überaus hilfreiches Instrument, um eine gemeinsame Sprache zu sprechen, Lessons Learned und Best Practices auszutauschen und so die firmenübergreifende Zusammenarbeit zu stärken. Das tun wir seither in eigens dafür konzipierten Formaten und haben somit einen zentralen Prozess für konzernweite Interaktion und Beratung bei gleichzeitig lokaler Umsetzungsverantwortung. So trifft sich die Kulturwandel@Logistik-Community, bestehend aus lokalen Prozessverantwortlichen, Geschäftsführungen und dem Vorstand, unter anderem zweimal jährlich in einem unserer vielen Logistikbetriebe. Auf der Agenda stehen dann vor allem Best Practices, crossfunktionale, hierarchieübergreifende Dialoge und Kulturaspekte strategisch relevanter Logistikprojekte.
Bessere Ergebnisse: Für Mensch und Organisation
Kulturwandel@Logistik ist ein Teil unseres unternehmensweiten Kulturwandel-4.0-Prozesses. Ziel ist es, auch in den Logistikbetrieben eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die Sinn, Verantwortung und Feedback fördert – mit der Grundannahme, dass diese zu besseren Ergebnissen führt. Für den Menschen und für unsere Organisation, ganz ohne Zielkonflikt.
Was wir damit meinen:
Das Gefühl, einer sinnhaften Arbeit nachzugehen, entsteht durch das Einbringen vielseitiger Fähigkeiten bei unterschiedlichen Tätigkeiten, durch das Begleiten eines Gesamtprozesses sowie durch das Verrichten einer Tätigkeit, die von einem selbst, vom Unternehmen und von den Kundinnen und Kunden als wichtig wahrgenommen wird.
Verantwortungsgefühl für das eigene Arbeitsergebnis entsteht dort, wo Autonomie bei der Arbeit empfunden wird, wo Kolleginnen und Kollegen mehr Gestaltungsspielraum haben, um ihre Arbeit eigenverantwortlich zu organisieren, durchzuführen und zu optimieren.
Mit Feedback meinen wir nichts anderes als eine Rückkopplung zu den Ergebnissen der eigenen Arbeitsaktivitäten. Nachvollziehbar, dass Mitarbeitende – besonders in der sehr KPI-orientierten Logistikwelt – grundsätzlich daran interessiert sind, zu wissen, welchen Einfluss ihre jeweiligen Aktivitäten auf das große Ganze haben.
Vorgehensweise: Strukturiert und überprüfbar
Unser Maßnahmenrahmen umfasst insgesamt 15 Maßnahmen, die in drei Themen geclustert sind: Lean Management, Führung und Autonomes Arbeiten.
- Im ersten Cluster, Lean Management, geht es vornehmlich um Themen wie Visualisierung von Prozessen und Zielen, aber auch um Kompetenzen.
- Im zweiten Cluster, Führung, dreht sich alles um die Rolle der Führungskraft als Coach. Operationalisiert wird dies zum Beispiel durch Maßnahmen wie ein Fünf-Minuten-Schichtmeeting, bei dem explizit der Dialog im Team und zu Führungskräften im Mittelpunkt steht. Kommunikation ist keine Einbahnstraße – sie braucht allerdings einen entsprechenden Rahmen, um im schnellen, operativen Alltag auch stattfinden zu können.
- Im dritten Cluster, Autonomes Arbeiten, finden sich Maßnahmen, die in Summe die Gestaltungsspielräume von Beschäftigten erhöhen sollen. Diese reichen von Weiterbildungsmöglichkeiten (die gerade im gewerblichen Bereich nicht selbstverständlich sind) über selbstbestimmte Aufgabenvielfalt bis hin zu selbstständiger Schichtplanung.
Anhand dieser Cluster wird auch deutlich: Mit diesem Maßnahmenrahmen überprüfen wir die vorherrschenden verhaltensdeterminierenden Rahmenbedingungen und kompensieren zum Teil die natürlichen Grenzen der Selbstbestimmung, die in der Tätigkeit selbst liegen. In Summe arbeiten wir an einem bunten Potpourri an Maßnahmen. Einen definierten Zeitrahmen oder eine Priorisierung gibt es nicht. Auch die konkrete Ausgestaltung obliegt den jeweiligen Betrieben und ist nicht zentral gesteuert – für den Kulturwandel gibt es keinen „One size fits all“-Ansatz.
Grenzen: Die Spur verliert sich
Wie messen wir den Erfolg des Kulturwandels? Die kurze Antwort lautet: Gar nicht. Die längere: Da es bei der Otto Group nicht den Kulturwandel gibt, das Marktumfeld komplex ist und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge uneindeutig sind, verzichten wir auf eine explizite Erfolgsmessung. Wir begleiten und orchestrieren den Zusammenschluss der Logistikbetriebe in ihrem Vorhaben – die Initiative und damit verbundene Aktivitäten sind aber weder eine zentrale Kampagne noch besteht der Anspruch, alle Maßnahmen zum Ursprung zurückzuführen. Erfolgsfaktoren von Kulturwandel@Logistik sind Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in den Betrieben, lokale Relevanz und Einbindung der Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Und eine spürbare Veränderung der Haltung. So passiert das Beste, was passieren kann: Die Spur verliert sich. Ist es auf Kulturwandel@Logistik zurückzuführen, dass Onboarding-Prozesse digitaler werden oder Pausenregelungen auf den Prüfstand gestellt wurden? Das wissen wir nicht – und es spielt auch keine Rolle, solange der Großteil der Betroffenen es für sinnhaft hält.
Natürlich sind nicht alle bei uns die größten Kulturwandel-Fans – Veränderung ist nicht immer bequem und der Mensch liebt Gewohntes. Wir erleben aber eine überwiegend sehr positive Resonanz, da der Prozess selbstinitiiert ist und Maßnahmen auf konkreten Bedarfen beruhen. Aus der Belegschaft spiegelt sich regelmäßig wider, dass zum Beispiel die Weiterbildungsangebote genauso wie die Dialog- und Workshop-Formate sehr geschätzt werden. Parallel werden Umfragen bei Mitarbeitenden durchgeführt, um stets ein aktuelles Stimmungsbild zu haben – wenn es um die Wirksamkeit von Kulturwandel geht, gibt es am Ende aber einen ziemlich offensichtlichen Indikator: Solange sich das Außen verändert und wir mithalten können, ist das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass auch intern einiges passiert.
Verantwortung: Gekommen, um zu bleiben
Die Kulturwandel@Logistik-Initiative sensibilisiert die Mitarbeitenden in unseren Logistikbetrieben dafür, dass unsere heutige Arbeitswelt kein Naturgesetz ist – sondern ein vom Menschen geschaffenes System. Wir tragen die Verantwortung dafür, es nun so zu gestalten, dass auch die nachfolgenden Generationen einen sicheren Arbeitsplatz und ein sinnhaftes Tätigkeitsfeld haben. 2018 haben wir mit der Kulturwandel@Logistik-Initiative einen Boomerang in die Organisation entsendet, den wir so schnell nicht mehr loswerden (wollen). Wo Kulturwandel aus zeitlichen Gründen von der Agenda verschwindet, kommt er als Projekt „Optimierung der Arbeitsorganisation“ zurück. Wo er aus finanziellen Gründen einschläft, erwacht er im nächsten Moment aus der Notwendigkeit heraus, wirtschaftlicher zu werden.
Jeder Mensch, der sich schon einmal einem Veränderungsvorhaben gewidmet hat, weiß: Der Prozess ist manchmal zäh, erfordert viel Durchhaltevermögen aller Beteiligten und bringt oftmals eine Wirksamkeitskrise nach der anderen. Aber es lohnt sich! Bei uns ist Kulturwandel in der Logistik vielerorts keine Sonderlocke mehr, sondern fest in unserem Business verankert: tägliche Fünf-Minuten-Schichtmeetings, Sportangebote, Zugang zu digitalen Weiterbildungsangeboten für alle Kolleginnen und Kollegen, visualisierte Prozesse und Ziele, ein mitarbeiterfokussiertes Lean Management. Am Ziel angekommen sind wir zwar lange noch nicht, viele Grundpfeiler sind aber gesetzt. Entscheidend für diese positive Entwicklung ist nicht zuletzt das uneingeschränkte Commitment des Managements: Denn nur dort, wo Wandel ehrlich gelebt, gefordert und gefördert wird, schließen sich weitere Menschen der Bewegung an.
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