Den Begriff der Lernenden Organisation hat der Harvard-Professor Chris Argyris, einer der Begründer der Organisationsentwicklung, bereits in den 1950er Jahren geprägt. In den 1990er Jahren wurde das Modell durch das Buch Die fünfte Disziplin des Wissenschaftlers Peter Senge einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Senge definiert die Lernende Organisation als Ort, „an dem Menschen erleben, dass sie ihre Zukunft selbst schaffen und permanent lernen, wie sie gemeinsam dazulernen können“. Heute ist dieser Ansatz aktueller denn je. Schließlich sind Unternehmen kontinuierlich gefordert, sich verändernden Marktbedingungen anzupassen, um im Wettbewerb zu bestehen. Für Unternehmen der IT-Branche wie Datev gilt dies einmal mehr, sind hier doch der stetige Wandel und die starke Marktdynamik besonders ausgeprägt.
Permanentes Lernen in der Organisation verankern
Unter dem Hashtag #DATEVlernt hat Datev vor rund vier Jahren öffentlich ein Zeichen gesetzt, dass Lernen im Unternehmen Priorität hat. Ein bewusster Schritt, von dem die Initiatoren gleichzeitig nicht sicher waren, wie er ankommt. „Öffentlich zu bekunden, dass man als Organisation lernen muss, kann auch so gedeutet werden, nicht gut genug zu sein“, sagt Christian Kaiser, Leiter Diversity & Transformation bei Datev. Diese Bedenken sind längst passé. Zu sagen „Wir müssen lernen!“ gehört beim IT-Dienstleister heute offiziell zum Markenwert der Organisation.
Laut Simon Dückert, Berater für organisationales Lernen und Geschäftsführer beim Weiterbildungsunternehmen Cogneon, ist Lernen für Unternehmen auch deshalb überlebensnotwendig, weil abgesehen von Wissen so gut wie alle Produktionsfaktoren mittlerweile Allgemeingut seien. Wissen werde somit zunehmend zum wesentlichen Differenzierungsfaktor. Umso erstaunlicher, dass das Thema Lernende Organisation in den meisten Unternehmen kein „Hot Topic“ ist, wie Dückert es ausdrückt. „In der Regel gibt es niemanden, der das Ziel des permanenten Lernens in der Organisation verankert und das Wissen aus IT, HR, der Strategieeinheit sowie den verschiedenen Fachbereichen zusammenführt und steuert“, sagt er. Es brauche aber einen Mandatsträger, der genau dafür sorge und damit im Unternehmen sichtbar sei – etwa, indem er oder sie Impulse für informelles Lernen liefert und ein Multiplikatoren-Netzwerk aufbaut, das als Lern- und Change-Initiative in die Breite wirkt.
Kollektive Fähigkeiten verbessern
Neben Datev ist Siemens ein weiteres Unternehmen, welches das Lernen in der Organisation bewusst vorantreibt. Timo Holm verkörpert hier als verantwortlicher Head of Learning Organization der Geschäftseinheit Factory Automation von Siemens Digital Industries den von Dückert geforderten Mandatsträger. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen und verschiedenen Teams hat er im Blick, was die Mitarbeitenden in Zukunft an Skills benötigen. „Damit unsere Organisation schnell bleibt und sich auf den Kundenwert konzentrieren kann, ist sie in kleine Einheiten – wir nennen sie Wertströme – von 150 bis 200 Personen mit jeweils maximal zwei Hierarchiestufen aufgebaut. Doch damit ist sie noch nicht automatisch agil“, erläutert Holm. Wichtig sei, dass die Mitarbeitenden gemeinsam kompetent agieren und erkennen, was gerade Priorität habe – etwa einen Konflikt aus dem Weg zu räumen, wenn man merke, dass dieser den Arbeitsprozess behindere. „Um dies zu erreichen, müssen alle im Unternehmen auf ein Ziel eingeschworen sein und den Beitrag des eigenen Teams kennen“, sagt Holm.
Viele Lernformate
Bei Siemens ist lebenslanges Lernen fester Bestandteil der Unternehmenskultur. Der Technologiekonzern hat seit 2023 sichergestellt, dass alle Mitarbeitenden Zugang zu digitalem Lernen haben. Für das Geschäftsjahr 2025 hat Siemens die Ambition, dass jeder Mitarbeitende eine Anzahl von 25 digitalen Lernstunden absolviert. Was das Lernen insbesondere im Bereich Factory Automation betrifft, bieten sogenannte Learning Officer der einzelnen Einheiten als Ansprechpartner für die strategischen Lernziele den Mitarbeitenden eine Orientierung. „Darüber hinaus können sie sich an Experten wenden. Von ihnen erfahren sie, welche Trainings sich eignen, um die jeweiligen Lernziele zu erreichen“, so Holm. Neben klassischen Trainings stehen zahlreiche weitere Lernformate bereit – von Bootcamps über „Lunch & Learn Sessions“ und Lernfreitagen mit dezidierten Lernzeiten bis hin zu Podcasts, über die sich jeder im Unternehmen etwa zu Arbeits- und Managementtrends informieren kann. „Wichtig ist, dass die Mitarbeitenden wissen, dass es erwünscht ist, solche Angebote anzunehmen“, sagt Holm. Um entsprechende Akzente zu setzen, würden die Führungskräfte die Normalität des Lernens vorleben. „Einer der Top-Leader bei Siemens Digital Industries zeigt zum Beispiel bei Präsentationen immer ganz bewusst seine persönlichen Lernstunden“, schildert Holm.
Freiraum zum Lernen
Laut Berater Dückert ist es für eine lernende Organisation ausschlaggebend, lebenslanges Lernen in der Führung zu verankern und den Mitarbeitenden Lernzeit einzuräumen, damit sie Lernangebote annehmen oder etwa von sich aus ein Video zu einem Trendthema schauen können. Das Gleiche gelte für den Austausch in Communitys. „Denn in der Regel trägt offenes kollaboratives und vernetztes Lernen – indirekt – zum Arbeitsergebnis bei“, betont der Lernexperte. Offizielle Schulungsprogramme werden damit nicht überflüssig. Nach der Beobachtung von Dückert führt die Stärkung von selbstständigem informellem Lernen aber meist dazu, dass formelles Lernen im Unternehmen weniger nötig ist.
Lernen außerhalb der Peergroup
Um lebenslanges Lernen in der Organisation hinreichend zu fördern, reicht es in der Regel aber nicht aus, Mitarbeitenden den nötigen Freiraum zu Austausch und Lernen zu gewähren. „Den Mitarbeitenden sollten immer auch Anregungen gegeben werden, was und wie sie lernen können“, sagt Dückert. Externe Lernformate wie etwa Working out Loud, das auf einer Vernetzung mit anderen Menschen zum Wissensaustausch basiert, stellen dabei ebenso eine Möglichkeit dar wie interne Angebote. Laut Christian Kaiser sind gerade Impulse von außen für die Weiterentwicklung wertvoll. Bei Datev würde man bewusst Dialog in Vielfalt fördern und auf einen Lernaustausch auch außerhalb der Peergroup setzen, um blinde Flecken zu entdecken und reflektierte Entscheidungen treffen zu können. „Beim Datev-DigiCamp, das wie ein kuratiertes Barcamp funktioniert, können sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Genossenschaft mit Menschen aus anderen Firmen austauschen und so von- und miteinander lernen“, erläutert Kaiser. Auch er selbst suche zur Verbesserung seiner Skills immer bevorzugt den Kontakt mit Menschen, die bei einem anderen Arbeitgeber mit den gleichen Themen wie er beschäftigt seien. Auf diese Weise haben auch seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich HR-Learning beispielsweise kürzlich von Mitarbeitenden der Telekom gelernt, einen Hackathon für das Prompten mit künstlicher Intelligenz zu entwickeln und in der Organisation einzusetzen.
KI als Lernassistenz
Heute freut sich Kaiser, dass die sogenannten „Promptathons“ bei Datev regelmäßig ausgebucht sind. Schließlich ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden lernen, richtig mit verschiedenen KI-Tools umzugehen, um mit der Digitalisierung Schritt zu halten und effektiver zu arbeiten. Gleichzeitig ist KI Teil einer veränderten Lernorganisation. So empfiehlt Simon Dückert, KI im Sinne einer Lernassistenz zu betrachten und als solche zum Beispiel in MS-Teams zu integrieren. So geschehen bei Siemens Digital Industries. Hier kann eine App unter anderem nach den strategischen Lernzielen oder nach sinnvollen Trainings für bestimmte Themen befragt werden, wie Timo Holm berichtet. Eine weitere App soll die Kreativität der Mitarbeitenden unterstützen und erinnert sie an nicht zu Ende geführte Aufgaben und Konzepte beziehungsweise liefert Impulse, wie diese fortgeführt werden können.
Die Unternehmenskultur beeinflussen
Die rasante Entwicklung von KI zeigt einmal mehr die immense Herausforderung für Unternehmen und jeden Einzelnen in der Organisation, immer wieder neu dazuzulernen. „Alle Unternehmen werden auf kurz oder lang zu IT-Unternehmen, oder es wird sie nicht mehr geben“, lautet die These von Christian Kaiser. Entsprechend wichtig sei es, daran zu arbeiten, eine für Agilität und lebenslanges Lernen förderliche Kultur im Unternehmen zu etablieren. So soll mit dem einschlägigen Hashtag das Bewusstsein für dieses Leitprinzip geschaffen werden. Gleichzeitig weist Kaiser darauf hin, dass die Unternehmens- und Lernkultur eine indirekte Variable ist, die nie aktiv beeinflusst werden kann. „Es ist immer nur möglich, über Bande zu spielen, um kulturell etwas im Sinne einer Lernenden Organisation zu bewirken“, sagt er. Kommunikation spielt dabei eine große Rolle – intern wie extern. Wie eingangs angedeutet sind Irritationen bewusst in Kauf zu nehmen. Laut Kaiser zeigt sich eine gute Lernende Organisation nämlich auch in einer progressiven Streitkultur. Heißt: Meinungsverschiedenheiten sollten als Energie für einen Kulturwandel gesehen und als Einladung zum Dialog genommen werden.
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