In den letzten Jahren haben viele Themen, die wir traditionell als „privat“ ansehen, einen festen Platz in der HR-Arbeit gefunden. Die Liste der Benefits, die sich auf private Lebensbereiche beziehen, wird immer länger: Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder bei der Pflege von Angehörigen, Hausaufgabenhilfe für die Kinder und Programme für die mentale Gesundheit – um nur einige zu nennen. Jetzt kommen unter dem Begriff „Fertility & Family Building Benefits“ noch die Themen (unerfüllter) Kinderwunsch, Fehlgeburt und Wechseljahre hinzu.
Bevor ich Onuava gründet habe, hatte ich viele Jahre als Unternehmensberaterin und Führungskraft in der Finanzindustrie in Frankfurt und London gearbeitet. Ich habe drei Kinder durch Kinderwunschbehandlung. Ich weiß, wie schwer es ist, Kinderwunschbehandlung und Karriere zu vereinbaren. Die Rechercherarbeiten, die ich damals zum Thema unternahm, ähnelten denen bei meiner Doktorarbeit. Die emotionalen Belastungen waren enorm, denn mein kompletter Lebensentwurf war auf einmal in Frage gestellt. Finanziell war die Kinderwunschreise selbst für zwei Gutverdiener eine Herausforderung, was zu zusätzlichen Belastungen führte. 85 Prozent der Kinderwunschpatienten (Frauen und Männer!) geben an, dass sich eine Kinderwunschreise negativ auf die Arbeit auswirkt.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ist jede sechste Person im Verlauf des Lebens von Unfruchtbarkeit betroffen, zehn Prozent aller Paare in Deutschland sind nach Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ungewollt kinderlos. Zehn bis 20 Prozent aller festgestellten Schwangerschaften enden mit einer Fehlgeburt und zwei Drittel aller Frauen in den Wechseljahren haben Beschwerden. Wir sprechen hier also nicht von Randthemen.
Ich habe Onuava gegründet, weil ich erkannt habe, dass viele Frauen und Männer tagtäglich vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie ich damals, und wie wichtig es ist, die bestehenden Tabus zu brechen. Mit Onuava bringen wir Fertility & Family Building Benefits in die DACH-Region – ein Benefit, der in den USA und Großbritannien bereits weit verbreitet ist. Wir wollen, dass Unternehmen ihre Mitarbeitenden in den genannten Lebensphasen besser unterstützen, durch Information, Beratung und einen finanziellen Zuschuss.
Der Tabubruch als Herausforderung
Die größte Herausforderung bei unserer Arbeit ist, dass viele Unternehmen die Relevanz dieser Themen unterschätzen. Hauptsächlich, weil niemand offen darüber spricht. So wird die Häufigkeit von Unfruchtbarkeit oder Wechseljahresbeschwerden dadurch oft massiv unterschätzt. In Gesprächen mit Personalverantwortlichen stoßen wir immer wieder auf Unsicherheit: Viele trauen sich nicht, das Thema zu priorisieren, aus Angst, selbst mit dem Tabu assoziiert zu werden. „Was denken die anderen, wenn ich dieses Thema im Unternehmen vorantreibe?“ Diese Überlegung schwingt nicht selten bei Personalverantwortlichen mit, die überlegen, den Benefit in ihrem Unternehmen zu etablieren.
Häufig beobachten wir auch eine abwartende Haltung: „Mal sehen, was die Konkurrenz macht.“ Dies führt zu einem langsamen Umdenken in den Unternehmen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Um das Eis zu brechen, haben wir ein Angebot entwickelt, das es Unternehmen ermöglicht, sich langsam an die Thematik heranzutasten, etwa durch Vortragsreihen und Pilotprojekte. Aufklärung und Sensibilisierung sind der Schlüssel, und wir investieren viel Zeit und Energie in Marketbuilding.
Skepsis trotz Interesse
Auch auf der Investorenseite gibt es spezifische Hürden. Obwohl sich Investoren grundsätzlich weniger von Tabus abschrecken lassen, stellt sich immer wieder die Frage: „Ist die DACH-Region schon so weit?“ Hier überträgt sich häufig die eigene Unsicherheit auf die Markteinschätzung. Investoren fordern von uns deutlich mehr Bestätigungen dafür, dass Unternehmen bereit sind, in solche Tabuthemen zu investieren. Internationale Investoren, die die Thematik bereits aus anderen Märkten kennen, sind dabei tendenziell offener und progressiver, während wir bei lokalen Geldgebern mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Wie wir als Start-up damit umgehen
Als Start-up, das ein Tabuthema adressiert, haben wir diese Herausforderungen größtenteils antizipiert und uns entsprechend aufgestellt. Hier sind fünf zentrale Strategien, die uns geholfen haben und auch immer noch helfen, mit den Herausforderungen umzugehen:
1. Marketbuilding und Aufklärung als Schlüssel
Der erste Schritt bestand darin, diesen Markt überhaupt zu schaffen. Die Tabuisierung dieser Themen führte dazu, dass sowohl Personalverantwortliche als auch Unternehmensentscheider die Dringlichkeit und die Auswirkungen auf ihre Mitarbeitenden oft nicht erkannten. Daher ist es Teil unserer Aufgabe, umfassende Aufklärungsarbeit zu leisten. Dafür nutzen wir alle verfügbaren Kanäle – von Linkedin über klassische Pressearbeit bis hin zu HR-Messen. Dabei nutzen wir einen Mix aus Zahlen, Daten und Fakten sowie emotionalen Geschichten, um das Thema greifbar zu machen. Unsere Aufklärungsarbeit schafft ein Bewusstsein dafür, dass diese Themen enttabuisiert und fest in der HR-Arbeit verankert werden müssen.
2. Einfache Einstiegsmöglichkeiten bieten
Um Unternehmen zu helfen, sich langsam an das Thema heranzutasten, haben wir unser Produktangebot so gestaltet, dass der Einstieg niedrigschwellig ist. Statt sofort tiefgreifende Veränderungen zu verlangen, bieten wir Vorträge und Vortragsreihen an, die den Unternehmen die Möglichkeit geben, das Thema behutsam zu erkunden. In vielen Fällen führt diese erste Auseinandersetzung dazu, dass die Unternehmen die Relevanz des Themas erkennen und sich dann für Pilotprojekte oder die Ausarbeitung einer Fertility- oder Menopause-Policy entscheiden.
3. Genug Zeit einplanen
Da wir von Anfang an wussten, dass wir in einem Bereich tätig sind, in dem Marktaufklärung und Sensibilisierung erforderlich sind, haben wir uns bewusst „lean“ aufgestellt. Das bedeutet, Verschwendungen wie unnötige Kosten zu minimieren und den Wert für die Kundschaft zu maximieren. Unser Geschäftsmodell erlaubt es uns, auch längere Sales-Zyklen zu überstehen, ohne auf sofortige Skalierung angewiesen zu sein. Diese Geduld ist entscheidend, wenn man eine völlig neue Marktkategorie aufbauen und Kunden von einem Tabuthema überzeugen will.
4. Bootstrapping für finanzielle Unabhängigkeit
Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass wir lange Zeit bootstrapped waren, also nur minimal Kapital aufgenommen haben. Dadurch haben wir frühzeitig eine finanzielle Disziplin etabliert und sind gleichzeitig dem Druck entkommen, um jeden Preis sehr schnell wachsen zu müssen und gegebenenfalls den Marktfokus oder das Produkt zu sehr anpassen zu müssen. Wir haben die Freiheit, in den Aufbau unseres Zielmarktes zu investieren und auf unsere Zielvision hinzuarbeiten. Jetzt sind wir so weit, dass wir den „Beweis“ geliefert haben, dass unser Produkt und unser Ansatz funktionieren.
5. Skalierungsfähigkeit im Blick behalten
Beim Marketbuilding kämpft man sehr lange an der „Schwelle vor der Welle“, die es zu überwinden gilt. Wenn der Markt einmal reif ist, dann muss man allerdings schnell skalieren können. Wir haben uns daher darauf vorbereitet, die Nachfrage bedienen zu können, sobald die „Schwelle vor der Welle“ überschritten ist. Neben der Gefahr, zu schnell zu skalieren, gibt es ebenso das Risiko, zu langsam zu sein, sobald der Durchbruch erfolgt. Dann könnten andere schneller agieren und den Markt übernehmen. Wir bereiten genau aus diesem Grund derzeit eine kleine Finanzierungsrunde vor.
Fazit: Lernen, anpassen und wachsen
Ein Start-up aufzubauen, das sich mit einem Tabuthema beschäftigt, ist eine besondere Herausforderung. Es erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, Geduld und Durchhaltevermögen, aber eben auch die Fähigkeit, schnell zu agieren, wenn der Durchbruch erreicht ist. Die Lern- und Anpassungsbereitschaft, die wir – meine Co-Gründerin Katharina Jung und ich – tagtäglich an den Tag legen, ist essenziell. Wir lernen ständig dazu und passen unsere Strategie laufend an die Marktgegebenheiten an. Doch die Arbeit, Tabus zu brechen, lohnt sich. Denn am Ende geht es darum, das Leben von Mitarbeitenden zu verbessern und einen echten Mehrwert für Unternehmen zu schaffen.
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