Kita-Streik. Unbegrenzt. Ende September stockte sicherlich einigen Berliner Eltern der Atem. Gestreikt werden sollte nicht etwa für mehr Geld – Verdi und die GEW Berlin wollten mit einem Erzwingungsstreik für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Denn die Rahmenbedingungen und die Arbeitssituation in der Kinderbetreuung sind auch für die Erzieherinnen und Erzieher nicht mehr tragbar. Zwar untersagte das Arbeitsgericht den angekündigten unbefristeten Streik. Dennoch ist der Branche damit ein Aufschrei gelungen, mehr Aufmerksamkeit für die Missstände zu generieren, die für Kita-Personal, Unternehmen und Eltern eine zunehmende Belastung darstellen.
+++ Lesen Sie hierzu auch das Interview mit Christiane Weißhoff von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin (GEW Berlin), Leitung Vorstandsbereich Kinder-, Jugendhilfe, Sozialarbeit über schlechte Arbeitsbedingungen und Streikambitionen. +++
Durchschnittlich waren Beschäftigte in der Kinderbetreuung und -erziehung laut Bertelsmann Stiftung im Jahr 2023 an knapp 30 Tagen arbeitsunfähig, gegenüber rund 20 Tagen bei allen Berufsgruppen. Der Gesamtwirtschaft kosten nach einer Stepstone Befragung die fehlenden Betreuungsplätze 23 Milliarden Euro. Und nicht zuletzt ist der Mangel an Betreuungsplätzen für Eltern eine tägliche Herausforderung.
„Im letzten Winter waren meine Kinder zu 50 % zu Hause statt in der Kita oder im Kindergarten – sei es wegen Krankheit, Personalmangel, Kita-Ferien, Notbetreuung oder weil ich ihnen den chaotischen Zustand im Kindergarten nicht zumuten wollte“, machte Tugba Sahingöz ihrem Ärger auf Linkedin Luft. Für die IT-Beraterin seien die Unsicherheiten längst zum Alltag geworden, wie sie im Gespräch erzählt. Das schlechte Gewissen war ihr permanenter Alltagsbegleiter. Ihren Kindern gegenüber, dem Unternehmen und sich selbst. „Ich konnte meinen Beruf nicht mehr so ausleben, wie ich es gern wollte. Jahrelang studierte ich, um in meinem Traumjob zu arbeiten – und dann ging es einfach nicht mehr.“ Zeitweise war die Lage besonders angespannt: Ihre Mutter zog vorübergehend bei der Familie ein, um sie zusätzlich zu unterstützen. Der Mann von Tugba Sahingöz sei beruflich viel unterwegs und die Betreuung im Kindergarten nicht mehr gewährleistet gewesen.
Die Betreuungskrise
Zwischen den benötigten Betreuungsplätzen in der Kita und dem tatsächlichen Bedarf herrscht eine gewaltige Kluft. Auf 430.000 fehlende Plätze beziffert die Bertelsmann Stiftung die Differenz im Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme. Dabei hat jedes Kind in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Betreuung. Seit August 2013 gilt das für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Zu den fehlenden Kitaplätzen kommt der hohe Krankenstand unter Erzieherinnen und Erziehern. „Beschäftigte in der Kinderbetreuung und -erziehung waren im Jahr 2023 durchschnittlich an knapp 30 Tagen arbeitsunfähig, gegenüber rund 20 Tagen bei allen anderen Berufsgruppen“, hält die Bertelsmann Stiftung fest. Nach Atemwegserkrankungen lagen psychische Erkrankungen auf dem zweiten Platz der Ausfallgründe. Doppelt so hoch wie bei allen anderen Berufsgruppen. Ein Teufelskreis, so steht es in der Bertelsmann-Studie. Denn die Krankenstände sorgen für noch mehr Belastung des Erziehungspersonals.
Hinzu kommt, dass ein Großteil der Erzieherinnen und Erzieher selbst in Teilzeit arbeitet. Laut der Studie Nur Teilzeit in der Kita? der Hans-Böckler-Stiftung sind nur 39 Prozent der Gruppenleitungen und 23 Prozent der Ergänzungskräfte in Vollzeit tätig. Mit einer Aufstockung der Teilzeitstellen ließen sich theoretisch mehr Betreuungsplätze gewinnen, allerdings würden nur sieben Prozent der Befragten ihre Arbeitsstunden erhöhen. Hingegen möchten 45 Prozent ihre Arbeitszeit sogar reduzieren. Das würde den bereits bestehenden Fachkräftemangel in der frühkindlichen Bildung weiter verschärfen. In dieser Studie zeigt sich ebenfalls, dass die eigene familiäre Sorgearbeit die Beschäftigten bindet. Während jüngere Fachkräfte (19 bis 30 Jahre) häufiger in Vollzeit arbeiten, leisten Beschäftigte im Alter von 31 bis 50 Jahren weniger Stunden ab. Ab 51 Jahren steigt die Vollzeitquote wieder an. Die Studie macht die hohe Arbeitsbelastung, familiäre Betreuungspflichten sowie eine gewünschte Work-Life-Balance als wesentliche Faktoren dafür aus, warum so wenig Beschäftigte ihre Arbeitszeit aufstocken wollen. Vielmehr gelte es, das bisherige Personal zu halten.
Fachkräftemangel, krankes Personal oder Notbetreuung durch Streiks: Wenn der Betreuungsschlüssel nicht eingehalten werden kann, müssen Gruppen geschlossen oder zusammengelegt werden. Für die Kinder bedeutet diese Situation viel Stress. Auch Tugba Sahingöz kennt diese Situation nur zu gut. „Es hat mir wirklich das Herz gebrochen, mein Kind in eine Betreuungssituation zu zwingen, in der es den Stress um sich herum deutlich spürt. Nachmittags habe ich ein komplettes Nervenbündel abgeholt.“ Das schlechte Gefühl, ob das Kind gut betreut wird, begleitete sie den ganzen Tag. Die Betreuung im Homeoffice sei nur eine Notlösung.
Die fehlenden Betreuungsplätze sind nicht länger mehr nur ein Problem für Eltern. Die Stepstone-Studie Working Parents and Beyond beziffert den gesamtwirtschaftlichen Schaden des Kita-Notstands auf rund 23 Milliarden Euro. Rund 1,2 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr könnten nicht geleistet werden – weil die Betreuungsangebote nicht ausreichen.
Unternehmen springen ein
In knapp einem Drittel aller Unternehmen führt die schlechte Betreuungssituation im Kindergarten und der Schule zu beeinträchtigten Betriebsabläufen, weil Beschäftigte nicht arbeiten könnten. Zu diesem Ergebnis kamen die Verbände Die Familienunternehmer und Die jungen Unternehmer in einer Umfrage im ersten Quartal dieses Jahres. Bei 42 Prozent der Befragten haben Angestellte bereits gekündigt oder ihre Arbeitszeit reduziert. 16 Prozent der Teilzeitbeschäftigten würden mehr arbeiten, wenn sich die Betreuungssituation verbessern würde. Demnach ist die Kinderbetreuung auch ein starker Hebel im Fachkräftemangel. Manche Arbeitgeber helfen daher mittlerweile bei der Vermittlung von Kitaplätzen, organisieren eine Notbetreuung oder betreiben Betriebskindergärten. Kleinere Unternehmen schließen sich mit Kita-Betreibern zusammen und gründen Belegplatz-Kitas. In einer solchen Kooperation wollen Arbeitgeber die Betreuungsplätze für die Kinder ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicherstellen. So können nach Bedarf einzelne Kitaplätze bei externen Kindergärten erworben werden, oft gemeinsam mit anderen Arbeitgebern aus der Umgebung. Beim Förderverein Hafenkids Lüneburg können Unternehmen für 120 Euro im Jahr einen Anspruch auf einen Kitaplatz für ihre Beschäftigten erwerben.
Hinter der Unternehmensgröße können sich Arbeitgeber bei der Frage nach familienfreundlichen Benefits nicht mehr verstecken, meint Kiki Radicke. Seit 2019 leitet sie als Head of People & Culture die Personalangelegenheiten bei Adacor Hosting für rund 90 Mitarbeitende. Der Cloud- und Hosting-Anbieter zahlt seinen Beschäftigten einen Betreuungszuschuss von 300 Euro oder bietet eine Gruppenunfallversicherung für die Familie an. Finanzielle Unterstützung für Eltern gehört für Radicke zu einer familienfreundlichen Unternehmenskultur dazu. „Niemand möchte arbeiten gehen, nur um die Kosten für die Betreuung der eigenen Kinder zu decken.“
Das Familienunternehmen Alfred Ritter zahlt ebenfalls einen Betreuungszuschuss. „Wir bieten einen gestaffelten Kinderbetreuungszuschuss an, den vor allem Mitarbeitende in niedrigen Tarifgruppen beantragen können“, erklärt Personalleiterin Anna Kaufmann. Die Kinderbetreuungskosten werden von den Mitarbeitenden eingereicht und je nach Gehalt wird ein Teil davon zurückerstattet. Der Schokoladenhersteller bietet zudem eine Ferienbetreuung für die schulpflichtigen Kinder der rund 1.900 Mitarbeitenden an. Denn auch die Ferienzeit sei für Eltern eine herausfordernde Situation. Meist stehen 30 Urlaubstage den rund 60 Ferientagen der Kinder gegenüber.
Flexible Lösungen sind gefragt
Für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf passen Unternehmen ihre Arbeitszeitmodelle an. Eltern profitieren von einer Ausweitung der Kernarbeitszeit oder flexible Arbeitszeiten, auch bei Betreuungsfragen. Bei Alfred Ritter können Mitarbeitende mit Verwaltungstätigkeiten zum Beispiel zwischen 6 und 20 Uhr ihre Arbeit einteilen.
„Bei uns fängt die Frühschicht um 5.30 Uhr an. Da hat noch keine Kita offen“, sagt Stefanie Hansen-Heidelk. Die promovierte Juristin leitet die Geschäftseinheit Personal und Gesundheit bei der Berliner Stadtreinigung, kurz BSR. Dort arbeiten rund 6.400 Menschen, zwei Drittel davon als Müllwerkerinnen und Müllwerker oder Straßen- und Grünflächenreinigerinnen und -reiniger auf den Berliner Straßen. Für mehr Vereinbarkeit wurde im März 2021 in der Reinigung eine Mittelschicht von 8 Uhr bis 16 Uhr eingeführt. Bei der Müllabfuhr gibt es sogenannte Familientouren, die später starten. Mehr Flexibilität lässt sich auch mit Arbeitszeitkonten gewinnen. Bei der BSR gibt es drei unterschiedliche Konten: Jahres-, Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten. „Das Lebensarbeitszeitkonto gibt Mitarbeitenden die Freiheit, längere Auszeiten zu nehmen, sei es für die Familienphase oder die Pflege von Angehörigen.“ Auch im Hinblick des Fachkräftemangels setzt die BSR verstärkt auf Familienfreundlichkeit. Mit Workshops zum familienorientierten Führen soll Verständnis in der Belegschaft gefördert werden. Im Operativen sei der Umgangston mitunter traditioneller. „Es braucht viel Akzeptanz im Unternehmen, auch von Kinderlosen oder langjährig Beschäftigten, die früher vielleicht weniger Unterstützung erfahren haben.“ Dann seien Führungskräfte gefragt, mit dem Team in den Austausch zu gehen. Von flexiblen Arbeitszeiten profitieren alle Beschäftigungsgruppen, wie Mitarbeitende mit pflegebedürftigen Angehörigen.
Alternative Führungsmodelle
Die unzureichende Betreuungssituation führt nach der HDI Berufe-Studie aus dem September 2024 bei den unter 45-Jährigen eine besonders große Rolle: 56 der Befragten würden gern von Vollzeit auf Teilzeit wechseln. Der Wunsch nach mehr Vereinbarkeit spiegelt sich auch in einem neuen Führungsverständnis wider.
Mit einem Karriere-Framework möchte Adacor Hosting die Karriereentwicklung für Eltern und speziell für Mütter erleichtern. Dieses Modell zielt nicht auf die klassischen Karriereschritte ab, bei denen Mitarbeitende nur durch Führungspositionen weiterkommen, sondern ermöglicht Rollenwechsel und Karriereentwicklung in Teilzeit. „Traditionelle Karrieremodelle sind überholt, es muss neue, gleichberechtigte Möglichkeiten geben“, begründet Kiki Radicke diesen Schritt.
Neben der Teilzeitführung hat sich bei Alfred Ritter auch das Jobsharing etabliert. Zwei Personen teilen sich eine Stelle und übernehmen gemeinsam Projekte sowie Führungsaufgaben. Im Unternehmen gebe es das in Fach- und Führungspositionen. Die Idee kam auf, als zwei Frauen aus der Elternzeit zurückkehrten. Ihnen wurde angeboten, dieses Arbeitsmodell auszuprobieren. „Jobsharing läuft nun seit etwa zwei Jahren sehr erfolgreich bei uns“, so Anna Kaufmann. Sie planen, diese Tandems im Unternehmen weiter auszurollen.
Auch bei der BSR gebe es Führungstandems, so leiten zwei junge Mütter die Entgeltabrechnung. Das Pilotprojekt läuft dort seit zwei Jahren, berichtet Personalchefin Hansen-Heidelk. „Wir sind als Arbeitgeberin fest davon überzeugt, dass dieses Modell nicht nur Frauen, sondern auch Männern in der Familienphase helfen kann, ihre Karrierewege zu gestalten und Führungspositionen zu erreichen.“
Vereinbarkeit ganzheitlich denken
Die Betreuungskrise sollte im gesamten Employee Lifecycle mitgedacht werden. Vereinbarkeit fängt laut Kiki Radicke bereits im Recruiting an. „Für eine Familie ist es keine leichte Entscheidung, von einem sicheren Arbeitsplatz in die Unsicherheit einer Probezeit zu wechseln.“ Wichtig sei ein transparenter und strukturierter Recruiting-Prozess. Als IT-Dienstleister will Adacor insbesondere Frauen im Recruiting fördern. Um den Talentpool so groß wie möglich zu halten, haben sie alle Lebenssituationen berücksichtigen wollen – auch die von alleinerziehenden Eltern. „Alleinerziehende können es sich vielleicht nicht leisten, einen Tag für ein Vorstellungsgespräch freizunehmen oder eine alternative Kinderbetreuung zu organisieren.“ Daher bieten sie familienfreundliche Vorstellungsgespräche an. Diese finden im unternehmenseigenen Eltern-Kind-Büro statt. Dort können Kinder während des Gesprächs spielen, Bewerberin und Personalverantwortliche sich austauschen.
Zudem bietet Adacor die Ausbildung in Teilzeit an, um attraktiver für Bewerbende zu sein. Das Eltern-Kind-Büro kommt bei ihnen auch zum Einsatz, wenn Eltern ihren Nachwuchs nicht in den Kindergarten bringen können. „Einen halben Arbeitstag können Mitarbeitende dort gut arbeiten, oft wechseln sie danach ins Homeoffice.“ An die Ausstattung gibt es klare Anforderungen, die gesetzlich geregelt sind. Ein Erste-Hilfe-Kasten gehöre zum Beispiel dazu, ebenfalls wie Stillsessel und Wickelstationen. Gemeinsam im Team haben sie dann den Raum eingerichtet, eigenes Spielzeug gestiftet und neue Spielsachen für verschiedene Altersgruppen gekauft. Ist erst einmal ein Kitaplatz gefunden, erfordere auch der Eingewöhnungsprozess viel Kommunikation, meint Radicke. Diese ließe sich schwer planen, ist von Kind zu Kind verschieden. Wie sich Elternrolle und Beruf austarieren, könne im Elternzeitprozess im Unternehmen ausprobiert werden, auch mit einer geringen Stundenzahl. „Es geht vor allem darum, Realität und Wirklichkeit zusammenzubringen“.
Das Problem bleibt
Trotz all dieser Bemühungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt das grundlegende Problem bestehen: Es fehlen genügend Betreuungsplätze. Die Unternehmen können nicht die strukturellen Defizite im Betreuungswesen ausgleichen. Eltern behelfen sich währenddessen oft zusätzlich mit Tagesmüttern, Nannys oder können im günstigsten Fall auf die Unterstützung von Großeltern setzen. Tugba Sahingöz schwört mittlerweile auf ihr Au-pair. Endlich hätten ihre Kinder eine feste Bezugsperson. Die Arbeit im Homeoffice sei keine Belastungsprobe mehr, sie könne nun endlich in Ruhe arbeiten. Eine Lösung, die sicher für die wenigsten Eltern in Betracht kommt, braucht sie doch zusätzlichen Platz und finanziellen Spielraum. Dennoch sollten Eltern ihrer Meinung nach diese Option nicht vorschnell verwerfen. Sahingöz rät, auszurechnen, ob sich die Kosten für ein Au Pair nicht mit den Elternbeiträgen für den Kitaplatz ausgleichen.
Am 18. September schlagen 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem offenen Brief Alarm und richten einen Appell an die Regierung: Es brauche umgehend bessere Bedingungen in der frühkindlichen Bildung, das Betreuungssystem stehe vor einem Kollaps: dem drohenden Zusammenbruch des Systems. „Die Folgen für Kinder, Eltern, Fachkräfte und die gesamte Gesellschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie eine wachsende Bildungslücke – insbesondere bei von Armut betroffenen oder bedrohten Kindern – fast irreparabel.“
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Skills. Das Heft können Sie hier bestellen.