Die Corona-Krise zeigt, wer unser Land eigentlich am Laufen hält: Beschäftigte in systemrelevanten Berufen wie auch im Bereich Blue Collar. Doch in den Genuss moderner Arbeitsmodelle kommen sie nur selten.
In Pflegeheimen, Supermärkten, Logistikzentren und Fabriken arbeiten die Menschen auf Hochtouren – trotz Lockdown und Ausgangsbeschränkungen. Sie setzen sich dabei tagtäglich einem hohen Infektionsrisiko aus. In Produktionshallen ist es laut, im Sommer warm und im Winter kalt. Wer acht Stunden am Fließband steht, kann keinen Kaffeeplausch mit anderen halten oder eine kurze Pause einlegen, wie sie jenen vorbehalten ist, die am Schreibtisch arbeiten, die White Collar Worker. Blue-Collar-Arbeitskräfte arbeiten häufig in Drei-Schicht-Systemen, was wiederum auf die Gesundheit schlagen kann, also beispielsweise zu einem erhöhten Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt. Im Einzelhandel stemmen Angestellte Sonderschichten, um die leer gekauften Regale wieder zu füllen. Danach folgen oftmals kurzfristige Schichtabsagen, weil nach dem Ansturm die Nachfrage für die nächsten Monate vorerst wieder sinkt. Die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung für alle, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, sind eine Belastungsprobe. Viele fragen sich, wie sie das bis zur Rente durchhalten sollen. Aktuell sprechen alle von Future of Work, alles scheint sich nur noch um Homeoffice und Co. zu drehen. Meistens wird dabei aber nur an die Beschäftigten aus den White-Collar-Bereichen gedacht. Doch wie sieht die HR-Arbeit für Basic Worker aus? Gibt es für sie moderne Arbeitsbedingungen, Wertschätzung und Beteiligung? Fehlanzeige.
Interessant dabei ist: Wahres New Work gehen Unternehmen auch in den White-Collar-Bereichen nur selten an. Erzwungenes Homeoffice ist übrigens so ziemlich das Gegenteil von wahrer New Work. Frithjof Bergmann, der Urvater von New Work, hatte sicherlich keinen Obstkorb oder Kickertisch im Sinn, als er davon sprach, dass Menschen das tun sollten, was sie „wirklich wirklich wollen“. Während sich eine Art Fake-New-Work einfach initiieren lässt, braucht es für echtes New Work einen Strukturwandel. Dabei ist eine Veränderung von Führungskonzepten und der Organisation von Arbeit und Arbeitszeit gefragt – und das ist anstrengend und aufwendig.
Solche Fake-New-Work-Aktivitäten hinterlassen besonders bei Beschäftigten in Produktion und Logistik einen faden Beigeschmack. Es entsteht Unmut, wenn auf der einen Seite bunte Bürowelten mit Chill-Lounges und Barista-Ecken entstehen, für die Klimaanlage der Produktionshalle aber kein Budget mehr zur Verfügung steht, obwohl sich diese im Sommer auf über 30 Grad aufheizt. Oder wenn Pflegekräfte täglich acht Stunden Patienten und Patientinnen betreuen, während der Angestelltenbereich darüber philosophiert, wie er seine Arbeit künftig in weniger Stunden schafft, weil er entdeckt hat, dass viel Zeit in unproduktiven Meetings verschwendet wird.
Es ist durchaus eine Diskussion wert, was die von Frithjof Bergmann entwickelte New-Work-Vision konkret für Unternehmen bedeutet. Im Kern geht es um Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Freiraum. Darüber hinaus geht es auch um ein positives Menschenbild, das auf Vertrauen basiert. Wer diese Prinzipien seinen Planungen zugrunde legt, findet auch Lösungen jenseits der White-Collar-Bereiche.
Klar ist: Bei kaufmännischen Angestellten bestehen mehr Möglichkeiten als in den Basic-Worker-Bereichen. Denn eine Regelung für hybrides Arbeiten kann Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichen, eigenverantwortlich innerhalb betrieblicher Rahmenbedingungen über Dauer und Lage der Arbeitszeit selbst zu entscheiden. Dabei können sie frei wählen, ob sie eine Aufgabe zu Hause, im Café oder am Arbeitsplatz erledigen möchten. Das ist extrem attraktiv, aber eben nur für Tätigkeiten möglich, die entsprechend digitalisierbar und aus der Ferne auszuführen sind.
Entscheidungsfreiraum bei Blue Collar
Doch diese Prinzipien sind ebenso auf Blue-Collar-Bereiche anwendbar. Ein Beispiel ist das Kundenprojekt der Beratungsgesellschaft SSZ Neues Arbeitszeitsystem Reinigung bei der Berliner Stadtreinigung (BSR). Durch die konsequente Übertragung von Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen hat sich die Zufriedenheit bei den Beschäftigten innerhalb eines Jahres deutlich verbessert. Das zeigen jährlich durchgeführte Befragung der Mitarbeitenden. Das Unternehmen hat unter anderem die bereits als Standardarbeitsorganisation etablierte Gruppenarbeit, bei der die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gruppe selbst über Arbeitsabläufe und organisatorische Aspekte der Arbeit bestimmen können, um neue Kompetenzen zur Arbeitszeitgestaltung angereichert. Jedes Team übernimmt die eigene Urlaubs- und Dienstplanung, wodurch die einzelnen Gruppenmitglieder einen großen Einfluss auf die eigene Arbeitszeit haben. Darüber hinaus können sie bestimmen, wie der Ablauf eines Arbeitstages aussieht. Sie entscheiden zum Beispiel selbst, ob sie zur Pause in die Liegenschaft zurückfahren und erst danach weiterarbeiten oder direkt reinigen und anschließend in die Liegenschaft zur Pause fahren, um dann dort nur noch Nacharbeiten wie Reinigung der Geräte und Fahrzeuge zu erledigen. Wenn sie durcharbeiten, ermöglicht dies den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass sie im Hochsommer bei der größten Mittagshitze nicht mehr auf der Straße sind. Darüber hinaus hat die BSR Schichten mit späterem Beginn eingeführt – für Eltern oder für all jene, die nicht schon um 5:30 Uhr auf der Straße sein können. Dafür können sie sich intern bewerben.
Insgesamt stärkt das Unternehmen so die Selbstverantwortung der Beschäftigten und lässt ihnen gleichzeitig mehr Wahlmöglichkeiten. So kann eine Gruppe sich selbst organisieren und Tag für Tag entscheiden, nach welcher Tagesstruktur sie arbeiten möchte. Auf Wunsch besteht die Möglichkeit, sich von einer Führungskraft unterstützen zu lassen. Die Geschäftsführung vertraut darauf, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei allen Freiheitsgraden die Reinigungsleistung erbringen. Die hohe Akzeptanz und die Topbewertungen der neuen Modelle durch die Mitarbeitenden bei Aufrechterhaltung der Reinigungsqualität rechtfertigen dieses Vertrauen.
Anpassung der Wochenarbeitszeit
Für mehr Freiraum und Entlastung können auch reduzierte Wochenarbeitszeiten sorgen. In vielen Betrieben ist noch die 40-Stunden-Woche vorherrschend. Treffen diese starren Arbeitszeiten auf flexible Bedarfe, kommt es häufig zu kurzfristigen Schichtanpassungen und einem sechsten Arbeitstag. Insgesamt sind diese Systeme auch für Unternehmen wenig flexibel und führen zu einer hohen Belastung und in der Folge zu vielen Krankschreibungen. Bei vielen Unternehmen lässt sich durch Analysen nachweisen, dass durch starre Schichtpläne Leerzeiten von bis zu zwei bis drei Stunden pro Mitarbeiter oder Mitarbeiterin und Woche entstehen. Das heißt, sie sind anwesend, haben aber nichts zu tun. Würden Betriebe diese Wochenarbeitszeit dementsprechend reduzieren und flexibilisieren, hätten die Beschäftigten mehr Freizeit. Außerdem kann ein solcher Freiraum Flexibilität in Form von Gruppenarbeit und Selbstplanung schaffen. In Kombination führt dies zu mehr Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Belastung und Krankheitsquoten würden sich reduzieren. Das macht das Unternehmen als Arbeitgeber attraktiv.
Zu bedenken ist allerdings: Die Einführung partizipativer Arbeitsorganisationen und flexibler Arbeitszeitmodelle sowie die damit verbundenen Auswirkungen auf die Kultur eines Unternehmens sind kein Spaziergang. Unternehmen können sich auf einen längeren Veränderungsprozess gefasst machen, bei dem sie nach und nach das Führungsverständnis und die Konfliktfähigkeit von Führungskräften und den Mitarbeitenden trainieren müssen. Langfristig können Unternehmen jedoch nur gewinnen. Und wenn dieser Schritt gelingt, ist an New Work in Form von hochwertigem Essen in der Kantine und einem angenehmen Arbeitsumfeld nichts verkehrt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Neue Normalität. Das Heft können Sie hier bestellen.