Herr Professor Suchanek, wie ist Ihre Beobachtung als Ethiker zur Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre?
Prof. Dr. Andreas Suchanek: Es ist in den letzten Jahren viel schwieriger geworden zu regieren, weil die Komplexität der Zusammenhänge, der globalen Themen und die Schnelligkeit des globalen Wandels zunehmen und die Ansprüche steigen. Es wird oftmals versucht, auf all die Dinge schnell zu reagieren, was aber manchmal gar nicht im Sinne guter Politik ist. Denn sie soll ja eigentlich Stabilität und Verlässlichkeit sichern. Da hilft es nicht, wenn man immer wieder interventionistisch agiert. Aber der Druck ist heute schon höher als früher. Das macht es schwerer, die Dinge zu beurteilen. Was ich aber als problematisch empfinde in heutiger Zeit, ist, dass die Kritik derart überzogen und respektlos ist. Dies hat mit Feedback nichts mehr zu tun. Anerkennung für das, was geleistet worden ist, finden Sie heute selten. Und das verdirbt die Stimmung.
Die Stimmung scheint nicht nur in Bezug auf das Regierungshandeln schlecht oder zumindest gespalten, sondern auch im Umgang der Menschen miteinander. Lässt der Umgang alte Tugenden wie Anstand, Fairness und Respekt vermissen? Und müsste die Politik nicht Vorbild sein in der Debattenkultur?
Es gibt in meinen Augen eine klare Tendenz zu weniger Respekt und Anstand. Respekt und Anstand meint, im Umgang miteinander gewisse Grenzen anzuerkennen. Das heißt auch immer Begrenzung der eigenen Freiheit, wo ihr Gebrauch sonst andere – oder einen selbst – schädigt. Allerdings wird Selbstbegrenzung oft als Hindernis für Innovation und Change gesehen. Und wenn die Zeiten dann auch noch wie gegenwärtig turbulenter und rauer werden, wird Selbstbegrenzung zur Herausforderung.
Denken Sie dabei auch an die sozialen Medien?
Genau, an Shitstorms und Hatespeech. Weil eben schneller Klicks generiert werden, wenn man auf die anderen schimpft, ganz abgesehen vom Ausleben eigener Emotionen. Zum Teil habe ich den Eindruck, dass auch Erwachsene in den sozialen Medien vergessen, was sie einst als Kinder gelernt haben: dass man respektvoll miteinander umgeht und dem anderen nicht Sachen entgegenschleudert, die man auch selbst nicht hören will. Diese Regel wird weder eingehalten von Menschen, die Hasskommentare äußern, noch von Politikern, die manchmal sogar in der eigenen Partei versuchen, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Man kann sich unter Umständen leichter profilieren, indem man andere klein macht, statt sich selbst groß zu machen. Wir haben kürzlich einen Präsidenten Trump erlebt, der das geradezu perfektioniert hat, bis in die Antrittsrede seiner Amtseinführung hinein.
Die Überschreitung von Grenzen kann kurzfristig Vorteile bringen. Oft ist solch ein Erfolg nicht von Dauer. Kurzfristig ist sogar der Dieb erfolgreich, wenn er mir die Brieftasche klaut, er ist ja dann reicher. Langfristig ist es keine so gute Strategie, weil er hoffentlich ins Gefängnis kommt. Das Gleiche finden Sie in Wirtschaft und Politik, wo Sie häufig durch kurzfristige unverantwortliche, unanständige Maßnahmen erfolgreich sein können. Es muss nicht immer illegal sein, es reicht ja völlig, dass sie versuchen, den anderen in der Verhandlungssituation einzuschüchtern oder eben respektlos behandeln. Doch das hat immer Folgen, und viele davon sind schädigend, kostspielig und leidvoll.
Trump setzt in der US-Wirtschaft neue Prioritäten. Wird sich die EU mit ihren Prinzipien und Werten auf Dauer dagegen behaupten können?
Das wird sich zeigen. Wir sind ja eigentlich eine Nation, die bereit ist, hart zu arbeiten, die unter anderem sehr gute Ingenieure hervorgebracht hat und die auch eine große Start-up-Szene hat. Und wir haben einen Rechts- und Sozialstaat, der eine großartige institutionelle Infrastruktur liefert und gute Voraussetzungen für Unternehmen schafft. Mir ist aber auch klar, dass da vieles massiv unter Druck geraten ist. Das Hauptproblem ist, diese Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Verlässlichkeit ist eine der wichtigsten Grundlagen für Zusammenarbeit, und die steht unter ständigem Beschuss aufgrund der genannten Komplexität und dem raschen Wandel in der Arbeitswelt.
Zwischen Wirtschaft und Politik, aber auch zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern scheint diese Verlässlichkeit im Moment gestört. Große Wirtschaftsverbände kritisieren inzwischen die derzeitige Wirtschaftspolitik. Zudem gibt es Debatten um Leistungsbereitschaft, die Krankenstände sind hoch und Unternehmen können in dem rauen Wirtschaftsumfeld auch weniger Stabilität bieten. Was ist Ihr Eindruck?
Wir sollten nicht glauben, dass früher alles besser war. Was heute wirklich einen objektiven Unterschied macht, ist diese wahnsinnige Geschwindigkeit und Komplexität. Und dass dies die Strukturen der Verlässlichkeit unterminiert, und zwar sowohl persönliche Strukturen als auch die Gewohnheiten, wie wir miteinander umgehen. Das ist für mich auch eine der zentralen Fragen in Bezug auf soziale Nachhaltigkeit: Wie gehen wir miteinander um?
Wie lässt sich soziale Nachhaltigkeit in diesem Kontext verstehen?
Soziale Nachhaltigkeit ist sehr schwer zu definieren, daher ist eine strukturelle Umsetzung auch so schwierig. Im Prinzip geht es um den Erhalt und die Weiterentwicklung rechtlicher und moralischer Ordnungen, die Kooperation fördern und Konflikte in einer zivilisierten Form managen. Derzeit stelle ich fest, dass manche Ideen für mehr Gerechtigkeit eher für mehr Nicht-Nachhaltigkeit sorgen.
Inwiefern?
Mehr Selbstbestimmtheit für ganz viele unterschiedliche Menschen ist erst mal sehr moralisch, führt aber oft auch zu neuen Konflikten. Wenn ich daran denke – ich bin mal so frei, das zu erwähnen –, welche Rolle die Frau vor 100 Jahren hatte, da können wir heute sagen, der Kampf für mehr Gleichberechtigung hat sich gelohnt. Das war richtig und wichtig so. Doch es hat sich ausgeweitet bis hin zu LGBTQ+, und damit gibt es natürlich immer weitere Ansprüche, die möglicherweise in einer Gesellschaft nicht erfüllt werden können. Dann wird es problematisch. Ich könnte ja auf die Idee kommen, ich möchte als Professor für Wirtschaftsethik auch meine eigenen Rechte haben. Ich überziehe das jetzt extra ein bisschen. Ich will damit nicht sagen, dass das Selbstbestimmungsgesetz problematisch ist, aber es kann eine Dynamik entstehen, die schwer in bestehende Strukturen einzufügen ist. Und darum geht es ja bei sozialer Nachhaltigkeit.
Meinen Sie, dass Diversity in Unternehmen vielleicht sogar das Gegenteil von sozialer Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit bewirken kann?
Wohlgemerkt: „kann“. Genau das ist das Problem. Wenn viele sagen, Diversity und Inclusion ist soziale Nachhaltigkeit, dann sage ich: Moment, so sehr ich für Diversity und Inclusion bin, müssen wir auch sehen, dass beides erst mal Herausforderungen und auch Kosten mit sich bringt. Wenn ich Sonderrechte für mich in Anspruch nehme, dann ist das für andere erst einmal eine Belastung. Wenn einzelne Gruppen für sich Rechte einklagen, dann fordern sie von anderen, dass sie diese Rechte anerkennen.
Mit welchem Maß könnte denn dann soziale Nachhaltigkeit gelingen?
Das ist eine große Frage, ich beschränke mich hier auf drei wesentliche Gedanken. Erstens: unser Umgang untereinander, auch online. Es gibt die wunderbare goldene Regel: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Wenn ich von anderen Respekt einfordere, sollte ich auch andere respektieren. Zweitens: das Verständnis, dass Verlässlichkeit einen großen Wert hat. Doch diese Verlässlichkeit ist heute bedroht von Ablenkungen, Überflutung mit Informationen, Vergesslichkeit, rasche Änderung von Prioritäten, ständig neuen Maßnahmen, Programmen, Regeln usw. Drittens: die Fähigkeit, Dinge nicht zu tun, und zwar solche Dinge, die im Moment attraktiv, bequem, kostengünstig, also allgemein vorteilhaft scheinen, die aber Schaden anrichten.
Von welchen gesellschaftlichen Bedingungen hängt es ab, dass soziale Nachhaltigkeit wirklich verankert werden kann?
Zum einen brauchen wir Regeln und Menschen, die diese Regeln akzeptieren. Menschen, die hinreichend integer und verantwortlich sind. Ein wesentlicher Punkt von sozialer Nachhaltigkeit ist eine Verständigung darüber, was wir eben nicht tun sollten. Vieles geschieht ja schon intuitiv, Stichwort Integrität. Doch ich denke, wir müssen uns mehr als früher mit Integrität und Vertrauen auseinandersetzen. Dies ist auch eine Frage von Bildung. Meine Tasse mit der Aufschrift Invest in Trust nehme ich immer mit in den Unterricht.
Was bedeutet dieser Rahmen für die Arbeitswelt?
Unternehmen brauchen eine Verfassung, auch moralischer Art, also Grundsätze, wie man miteinander umgeht. Jeder, der in einem Unternehmen beschäftigt sein will, muss sich auf diese Grundsätze berufen können, sie aber auch selbst einhalten. Und es muss klar sein, was passiert, wenn sich jemand nicht an diese Grundlagen hält.
Wie lassen sich Leistungs- und Produktivitätsdruck mit Moral und ethischen Leitbildern vereinbaren?
Dies ist eine der Schlüsselfragen in der Wirtschafts- und Unternehmensethik: Wie bringen wir Leistungsdruck zusammen mit Nachhaltigkeit, Verantwortung, Gerechtigkeit, vielleicht sogar Solidarität? Diese Frage stellte sich auch schon immer. Doch heute müssen wir uns diesen Fragen mehr denn je auch in der Forschung, in der Lehre und in der Bildung widmen. Und zwar nicht in abstrakten Theorien, sondern orientiert an konkreten praktischen Problemen.
Was wäre Ihr Rat für die Praxis?
Viele Unternehmen haben sich Werte gegeben und da geht es fast immer auch um Integrität, Respekt und Vertrauen. Doch im täglichen Betrieb können Leistung und Respekt schnell in Konflikt geraten. Wir müssen also daran arbeiten, dass wir lernen, wie wir respektvoll Leistung erbringen. Und Leistung einfordern. In beiden Fällen heißt Respekt: nicht alles dem Shareholder Value unterordnen, sondern der Würde der Menschen einen Eigenwert beimessen, und das heißt vor allem: unberechtigte Schädigungen vermeiden.
Was sagt die Forschung zu dem Thema?
Ausgangspunkt ist, dass es immer wieder zu Konflikten zwischen Leistung und Respekt kommen kann, weil es Menschen manchmal einfach nicht möglich ist, die geforderte Leistung zu bringen. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Und dann stellt sich genau dort die Frage des Respekts: Toleriere ich das und sage: Wir nehmen dich jetzt mit, auch wenn wir wissen, dass deine Performance tatsächlich schwächer ist als die der anderen? Das muss natürlich auch eine Grenze haben. Auf der anderen Seite kann man manchmal feststellen, dass solche Personen menschliche Qualitäten ins Team bringen, die für das Team sehr viel wertvoller sind als reine Leistungserbringung.
Das ist die Spannung, die zwischen Leistung und Respekt auftreten kann. Sich dieser Dimension von Respekt bewusst zu sein, ist sehr wichtig. Denn im Prinzip geht es in Unternehmen ja immer um Leistung. Und da würde ich jetzt wieder meine Tasse heben und fragen: Was heißt denn Invest in Trust? Trust, also Vertrauen, beruht darauf, dass der Vertrauensgeber die Erwartung hat, dass er in seiner Verletzlichkeit respektiert wird. Leistungserwartungen und Leistungsanforderungen sind zu begrenzen, wenn sie den Mitarbeitenden oder das Team überfordern würden. Dies wäre respektlos und nicht sozial nachhaltig. Leistung ohne Vertrauen ist auf Dauer nicht möglich.
Viele Menschen stehen der künstlichen Intelligenz skeptisch gegenüber oder sind verunsichert. Wie können Unternehmen die Beschäftigten vertrauensvoll ins neue KI-Zeitalter begleiten?
Gute Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Menschen ernst nehmen. Genau dies zeugt von Respekt. Ich habe kürzlich 50 Studierende in einem Kurs gefragt: Wie wollt ihr nicht geführt werden? Was sie geantwortet haben, lässt sich eindampfen zu einem Wort: respektlos. Wir sind oft so fixiert, Dinge unbedingt und schnell tun zu müssen, aber wir sollten uns doch mal noch stärker als bisher der Frage annehmen, was wir nicht tun sollten, und darin professioneller sein. Wir sollten nicht alle Dinge tun, die wir tun könnten. Beim Einsatz von KI geht es genau darum, Grenzen zu erkennen. Natürlich bietet KI vordergründig ganz viele neue Möglichkeiten – und ich bin auch dafür, diese zu nutzen. Aber ich möchte vehement dafür werben, sich auch in diesem Kontext genau zu überlegen: Was sollte ich besser nicht tun? Vor allem, wenn ich noch gar nicht weiß, was das erstens für meine Mitarbeitenden heißt und zweitens für das ganze Gefüge, die Kultur im Unternehmen und auch für die Kundschaft. Insofern ist KI ein Punkt, der mich tatsächlich sehr umtreibt. Denn unüberlegter Einsatz kann dazu führen, dass wir noch weniger als ohnehin schon verstehen, was eigentlich vorgeht.
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Verlernen wir damit auch, gut miteinander umzugehen?
Je mehr wir die KI fragen, umso weniger verstehen wir selbst, was wir tun und was wir können. Die elementare Problematik ist einfach die Geschwindigkeit. Auch in früheren Jahrzehnten haben Innovationen Anpassungsdruck erzeugt. Aber wir hatten mehr Zeit, um darauf zu reagieren. ChatGPT ist erst Ende 2022 auf die ganze Menschheit losgelassen worden und hat bereits alle Lebensbereiche erfasst. Stellen Sie sich mal vor, wir würden das mit Drogen oder Medikamenten so machen. Wir streuen das einfach unter die Menschen und gucken, ob sie sich damit besser fühlen. Und die ganzen Nebenwirkungen müssen wir dann nachträglich mühsam in den Griff bekommen. Natürlich müssen die Menschen sich mit KI ausprobieren, auch meine Studierenden. Aber ich sage, geht kritisch damit um und lernt auch, Nein zu sagen. Wenn ihr ein Essay schreiben sollt, ist die Idee dahinter, dass ihr selbst etwas lernt. Auch in Unternehmen sollte man sich überlegen, ob die Kundschaft nicht doch noch persönlich angesprochen werden möchte, statt mit KI zu kommunizieren.
Was kann die Wirtschaftsethik in diesen turbulenten Zeiten beitragen?
Ich sehe meine Rolle als Ethiker darin, zwei Dinge hochzuhalten: erstens den gesunden Menschenverstand, den kann man schnell verlieren in diesen verwirrenden Zeiten. Und zu diesem gesunden Menschenverstand gehört zweitens das Bewusstsein, dass wir aufeinander angewiesen sind und wir deshalb respektvoll miteinander umgehen sollten. Das kann manchmal fordernd und anstrengend sein und es kann Verzicht auf einfache, bequeme, individuell vorteilhafte Lösungen bedeuten, die zu Lasten anderer gehen. Aber genau das ist, wenn man so will, eine Investition in gelingende Kooperation und ein besseres Leben.
Über den Gesprächspartner
Prof. Dr. Andreas Suchanek ist promovierter Volkswirtschaftler und Wirtschaftsethiker. Er ist seit 2009 Inhaber des Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL Leipzig Graduate School of Management. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschafts- und Unternehmensethik, Nachhaltigkeit, Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsmanagement. Suchanek ist seit 2005 Mitglied des Vorstands des Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik, einem gemeinnützigen Thinktank, der seit 1998 praxisorientiert Wirtschafts-, Unternehmens- und Führungsethik vermittelt.
Er ist ist zudem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Berufsverbands der Compliance Manager.