Herr Jánszky, wie funktioniert Zukunftsforschung?
Sven Gábor Jánszky: Es gibt tatsächlich wissenschaftliche Methoden, um Antworten auf eine bestimmte Fragestellung über die Zukunft zu erhalten. Zuerst analysieren wir die 20 bis 25 Personen in der Welt, die mit ihren heutigen Entscheidungen den größten Einfluss auf diese Zukunftsfrage nehmen. Wenn wir über die Wirtschaft reden, sind das typischerweise die Strategie-, Innovations- und Technologiechefinnen und -chefs der großen, markttreibenden Unternehmen. Dann führen wir mit diesen Menschen Tiefeninterviews und aus diesen Auswertungen und weiteren Schritten entsteht ein Zukunftsbild.
Das heißt, nur wenige mächtige Player bestimmen unsere Zukunft?
Zukunft ist jedenfalls nicht das Ergebnis von Volksabstimmungen. Zukunft wird immer durch ganz wenige entschieden, ja. Besonders in der Wirtschaft. Wenn wir wissen wollen, wie sich künstliche Intelligenz in den nächsten fünf Jahren weiterentwickelt, müssen wir mit den Strategiechefs von Google und der Tech-Giganten sprechen, dazu mit einschlägigen Start-ups, die mehrere hundert Millionen Dollar Investorengelder bekommen haben, und vielleicht noch ein oder zwei Personen aus der Politik. Das sind diejenigen, die tatsächlich die grundlegenden Entscheidungen für die Zukunft treffen, aus denen sich Prognosen ableiten lassen.
Welches sind die prägendsten Trends bis zum Jahr 2030?
Bis 2030 sind die wichtigsten Punkte KI und humanoide Roboter. Roboter, die so aussehen wie Menschen, die Hände und Füße haben wie Menschen, mit denen man reden kann wie mit Menschen. Die Prognose der treibenden Unternehmen in der Welt ist, dass diese Roboter Ende 2025, also ungefähr in zwölf Monaten, zum ersten Mal verkauft werden. Und dass irgendwann jeder Haushalt in der Welt mehrere solcher Roboter haben wird. Das ist ein Riesengeschäft. Für die Menschen wird dies eine große Veränderung sein. Roboter werden uns Arbeit abnehmen, sie können die Spülmaschine ausräumen und wieder einräumen, können Fliesen und Rohre verlegen, was auch immer. Auch in der Pflege werden Roboter menschliche Pflegekräfte ersetzen können. Möglicherweise werden wir irgendwann feststellen, dass wir mit diesen Robotern bessere Gespräche führen können als mit anderen Menschen.
Wie kann das sein?
Weil die KI-Roboter mehr auf uns eingehen, weil sie mehr verstehen, weil sie möglicherweise empathischer sind. Weil sie alles können werden, was wir heute als menschlich betrachten und wovon wir denken, das kann eine kalte Maschine doch nicht. Ich will nicht sagen, sie sind bessere Menschen, aber es werden in der KI deutliche Veränderungen entstehen.
Wie ist die hiesige Wirtschaft auf diese Dimensionen vorbereitet?
Unsere Studien zeigen, dass in der westeuropäischen Wirtschaft inzwischen 71 bis 73 Prozent der Unternehmen Budget umgelenkt und in die Einführung von KI gesteckt haben. Doch die Kluft zwischen denen, die schon professionell mit KI umgehen, und denen, die irgendwie ausprobieren, ist jetzt schon riesig groß. Ich würde behaupten, die allermeisten Unternehmen in Deutschland vergeuden ihr Geld mit KI.
Warum?
Weil sie es nicht richtig machen. Jetzt gibt es inzwischen sogar Diskussionen nach dem Motto: KI, das ist alles nur Quatsch. Wenn man genauer hinschaut, haben viele Unternehmen keine Ahnung, wie sie KI richtig einsetzen sollen. Und klar, wer einfach nur irgendwie versucht, ChatGPT für alle möglichen Aufgaben im Unternehmen zu nutzen, der kann ja nur verlieren.
Was wäre der richtige Ansatz?
Ich muss wissen, welches Tool ich für welchen Prozess einsetzen will. Und dafür muss ich die Prozesse vorher analysieren. Unternehmen, die es richtig machen, machen dieselbe Arbeit, die sie bisher gemacht haben, in einem Drittel der Zeit mit einem Drittel des Personals. Das heißt, wenn diese Unternehmen 100 Prozent von Personal oder Zeiteinsatz belassen, dann haben sie 300 Prozent Output. Durch den Einsatz von KI-Tools haben sie ihre Produktivität also verdreifacht. Das ist ein Riesenhebel, den es, wenn überhaupt, nur bei der Elektrifizierung schon mal gegeben hat.
Im Gegensatz zu anderen Ländern, schrumpft die deutsche Wirtschaft. Nachrichten über Insolvenzen und Stellenabbau reißen nicht ab. Droht Deutschland den Anschluss zu verlieren?
Ich würde nicht sagen, Deutschland verliert den Anschluss, sondern Deutschland hat den Anschluss schon verloren.
Wo sehen Sie die Ursachen?
Seit mehr als 30 Jahren, seit der Wende, hat Deutschland kein gemeinsames Zielbild mehr entwickelt, wie es hier in Zukunft aussehen soll. Wir haben seit Jahrzehnten, seit der Anti-Atomkraft-Debatte, nicht mehr in moderne Technologien investiert. Wir führen eher Anti-Technologie-Debatten. Aber es gibt keinen wirtschaftlichen Fortschritt ohne technologischen Fortschritt. Die letzte Technologie, die in Deutschland eine steile Entwicklung erreicht hat, war der Verbrennungsmotor. Weitere Entwicklungen wurden hier nun gestoppt. In anderen Ländern nicht. Man kann Pro und Kontra diskutieren, aber die Entscheidung hat natürlich immense Folgen für die Wirtschaft.
War das für Sie vorhersehbar?
Für mich ist diese Situation nicht überraschend, sie war komplett vorhersehbar. Wir haben vor zehn Jahren auf unserem Zukunftskongress, der in Wolfsburg stattfand, den VW-Vertretern ins Gesicht gesagt: VW wird pleitegehen. Wir sind jetzt nicht mehr weit davon entfernt.
Können Sie sich an besondere Prognosen erinnern, die eingetreten sind?
Das kann ich ganz genau, denn ich habe kürzlich noch nachgeschaut. Auf Seite 74 meines Buchs 2025. So arbeiten wir in der Zukunft ist beschrieben, wie ein Personalverantwortlicher eines Unternehmens nach Usbekistan reist und dort einen Exklusivvertrag abschließt für Fachkräfte im Pflegesektor. Und unser Bundeskanzler ist vor einiger Zeit nach Usbekistan gereist und hat eben das getan. Also: Selbst das Land haben wir damals prognostiziert. Nicht weil wir Hellseher sind, sondern weil das auf der Hand lag. Dass wir unsere Fachkräfte 2025 aus Usbekistan holen, konnte man 2013 schon prognostizieren.
Denken Sie, die Politik sollte manchmal mehr auf Zukunftsforscher hören oder hat Sie schon mal ein Wirtschaftsminister angerufen?
Es ist ja nicht so, dass die Wirtschaftsminister keine Berater hätten. Aber das, was wir Zukunftsforscher ihnen sagen würden, ist unbequem. Wir haben mittlerweile zwischen der Politik, der Wissenschaft und den Medien, die über Politik berichten, eine Art selbstreferenzielles System geschaffen. Ich lese auch jetzt noch Pressemitteilungen aus dem Wirtschafts- oder Forschungsministerium, in denen es heißt, Deutschland sei führend in KI. Da muss man sich schon an den Kopf fassen und fragen, ob die die letzten 20 Jahre völlig verpennt haben.
Bewegen wir uns da zwischen Wunsch und Wirklichkeit? In Ihren Vorträgen sprechen Sie auch vom Reality Gap.
Das Reality Gap ist tatsächlich die Lücke zwischen dem, was die öffentliche Meinung glaubt, wie die Zukunft wird und dem, was wirklich technologisch möglich ist in der Zukunft. Und dieses Reality Gap ist riesig groß.
Haben Sie ein Beispiel?
In der Öffentlichkeit wird diskutiert, dass wir eine Riesenenergiekrise haben und auf regenerative Energien setzen müssen. Technologisch gesehen wird die Welt im Jahr 2040 mehr Energie zur Verfügung haben, als sie verbrauchen kann. Dies funktioniert natürlich nicht mit Wind und Sonne, sondern mit Kernfusion. International wird massiv in Kernfusion investiert. Weil es die einzige bekannte Technologie ist, die verspricht, die Welt unabhängig zu machen von Energieproblemen.
Was spricht dafür, in Deutschland zu investieren?
Ehrlich? Wirtschaftlich spricht leider im Augenblick tatsächlich wenig für Deutschland. Menschen, die investieren oder viel leisten wollen, gehen woanders hin.
Das ist ein sehr düsteres Urteil. Helfen die staatlichen Förderungen und Beteiligungen nicht?
Staaten, die wirtschaftlich erfolgreich sind, investieren natürlich auch viel staatliches Geld in Zukunftstechnologien wie Kernfusion oder Quantencomputer. In Deutschland versucht der Staat, alte Industrien aufrechtzuerhalten und für eine bessere Klimabilanz umzubauen, wie zum Beispiel mit grünem Stahl. Oder er investiert viel Geld in eine angeschlagene Werft, anstatt in Technologien zu investieren, die ihren Aufstieg kurz vor sich haben. Und Kreuzfahrtschiffe sind keine Zukunftsbranche. Das ist aus meiner Sicht keine kluge Politik.
Was würden Sie als Politiker tun?
Zum Glück bin ich kein Politiker und muss das nicht entscheiden. Ich sehe aber wohl, wie es in anderen Ländern funktioniert, ob das China ist oder Saudi-Arabien oder im Silicon Valley. Ich sehe, wie alle Gas geben mit neuen Technologien. Übrigens auch Israel, das trotz Krieg weiterhin investiert und forscht.
Setzt man in Deutschland nur andere Prioritäten? Es wird viel über die Viertagewoche debattiert.
Die Viertagewoche führt im Wesentlichen dazu, dass weniger produziert wird, weniger Einnahmen und mehr Ausgaben entstehen. Man braucht keinen Zukunftsforscher, um zu erkennen, dass das nicht funktionieren kann, wenn man Innovationen will. Auch Homeoffice ist in Deutschland sehr beliebt, doch alles, was ich remote machen kann, wird ja bald die KI übernehmen.
Freuen wir uns also zu Unrecht über Homeoffice?
Absolut. Das ist ein sehr kurzfristiges Denken. Es ist schade, dass die Debatte gerade im HR, wo so viele kluge Leute unterwegs sind, so eindimensional ist. Und man die Folgen nicht bedenkt. Im Silicon Valley ist es völlig normal, wieder fünf Tage ins Büro zu gehen. Da ist das Back-to-Office-Thema längst durch.
Wie werden sich die derzeitigen Entwicklungen auf die Arbeit von HR auswirken?
Neben der KI-Revolution gibt es noch einen zweiten großen Trend, der für HR maßgebend ist. Das ist die Massenverrentung der Baby-Boomer-Generation in fünf Jahren. Wenn ich es richtig im Kopf habe, haben wir im Augenblick 1,8 Millionen nicht besetzbare Stellen, dazu kommen dann noch mal fünf Millionen nicht besetzbare Stellen hinzu. Das heißt, wir gehen in eine Zeit, in der wir zwischen sechs und sieben Millionen nicht besetzbare Stellen haben.
Was prognostizieren Sie, wird dann passieren?
Unternehmen haben gar keine andere Chance, als die Digitalisierung und den Einsatz von KI voranzutreiben. Einfach, weil es keine Leute mehr geben wird, die die Jobs machen. Und für die Menschen, die in den Unternehmen sind, heißt das, dass sie jetzt umlernen müssen. Weil ihre Jobs in fünf oder schon in zwei oder drei Jahren KI oder Roboter machen werden. Die Menschen werden aus ihren Jobs verdrängt.
Welche Jobs bleiben dann für die Menschen, die KI nicht übernehmen kann?
Die Anwendung von KI bringt für die nächsten fünf bis zehn Jahre einen Riesenbereich an Jobs mit sich. Menschen müssen die KI trainieren. Auch ein Roboter ist erst mal doof.
Wie sieht ein Zukunftsforscher die HR-Funktion in ein paar Jahren?
Schon vor zehn Jahren haben wir prognostiziert, dass es Unternehmen geben wird, die gar keine Personalabteilung mehr haben. Weil eine Mischung aus KI und anderen Funktionen im Unternehmen, zum Beispiel die des Chief Innovation Officers, die Rolle von HR übernehmen wird. Die Art und Weise, wie bisher HR gemacht wird, zum Beispiel im Recruiting, wird es bis zum Jahr 2035 nicht mehr geben. Wir werden permanent in einer Zeit sein, in der sich kein einziger Mensch bewirbt.
Das werden die Personalverantwortlichen jetzt nicht so gerne hören.
Für Unternehmen, die bestehen wollen, wird die Hauptaufgabe der Zukunft sein, gezielt Talente anzuziehen und auch wieder abzuschieben. 40 Prozent der Gesamtbeschäftigten werden nach unseren Prognosen projektbezogen beschäftigt sein. Für eine HR-Funktion der Zukunft muss es dazugehören, Menschen auch gehen zu lassen und diese innerhalb des persönlichen Kontaktnetzwerkes auf eine andere Position in einem anderen Unternehmen zu vermitteln. Wenn dieser Mensch in zwei, drei Jahren wieder frei ist, kommt er vielleicht für ein anderes Projekt zurück. Und dabei kommt es nicht auf besonders originelle Stellenausschreibungen an, sondern aufs Netzwerk.
Wie müsste sich HR Ihrer Meinung nach für die Zukunft aufstellen?
Ich war vor Corona auf sehr vielen HR-Kongressen und es war einhelliger Konsens, dass HR strategischer werden und am Vorstandstisch mitreden muss. Dann kam Corona, und Remote Work stand im Fokus. Und wenn ich jetzt auf HR schaue, dann ist HR weiter weg vom Vorstandstisch als je zuvor. Weil man sich gegenseitig erzählt, die Viertagewoche und Remote Work sind die Zukunft. Ohne zu kapieren, dass es in vielen Unternehmen tatsächlich brennt, dass strategisch gesehen genau das Gegenteil das Richtige wäre. Es wäre in den meisten Unternehmen im Augenblick angesagt, darüber zu reden, wie wir mehr arbeiten, wie wir wieder mehr zusammenkommen, wie wir uns wieder gemeinsam mehr dem Sinn und der Mission des Unternehmens verschreiben und richtig hart arbeiten, um den Kahn wieder flottzukriegen. Ich will mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen, aber ich bin zumindest verwundert.
Über den Gesprächspartner
Sven Gábor Jánszky ist ausgebildeter Journalist, Zukunftsforscher und Geschäftsführer des Thinktanks 2b Ahead, der regelmäßig Trendstudien und -analysen herausgibt und Geschäftsmodelle für die Zukunft entwirft.
Jánszky ist bekannter Kongressredner zu Zukunfts-, Strategie- und Innovationsthemen und (Mit-)Autor mehrerer Bücher, unter anderem: 2030. Wie viel Mensch verträgt die Zukunft? (2b Ahead, 2018), Das Recruiting-Dilemma (Haufe, 2014), 2025. So arbeiten wir in der Zukunft (Goldegg, 2013) und Rulebreaker. Wie Menschen denken, deren Ideen die Welt verändern (Goldegg 2011).
Weitere Beiträge zu dem Thema
- Auf der Spur der Future Skills
- HR als Zukunftsmotor im Unternehmen
- Die Lernende Organisation: Wissen als Differenzierungsfaktor
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Exzellenz. Das Heft können Sie hier bestellen.