Regelbruch birgt Innovationskraft

BUZZWORD BLUES

„Es gibt keinen weißen Bus!“ Der Abteilungsleiter wurde richtig laut, seine Fingerknöchel weiß, als er sich am Konferenztisch abstützte. Wir von Metaplan saßen ihm gegenüber und waren verwirrt. Denn wir selbst hatten doch den ganzen vorherigen Tag in genau diesem angeblich nicht-existenten weißen Bus verbracht. Erst in diesem Moment verstanden wir: Das war eine Art informales Phantom-Fahrzeug, gesteuert von einem Mitarbeiter, dessen Position laut formalem Organigramm ebenfalls gar nicht existierte. In der Realität war der Mann in diesem „illegalen“ Bus der heimliche Held des Werksalltags, der überall schnell vor Ort war, um dringende Probleme zu lösen – eine Organisationsgestalt also, die alle sahen, schätzten, brauchten in der Organisation, die aber niemand erwähnen durfte. Schon gar nicht gegenüber der Geschäftsführung, die hier eben auch gerade mit am Tisch saß. 

Klar, diese Geschichte aus unserer Beratungspraxis klingt eher nach Kafka als nach realen Begebenheiten, hat sich aber genauso zugetragen. Tatsächlich offenbart sie ein faszinierendes Phänomen, das in praktisch jeder Organisation zu finden ist. Die Organisationstheorie nennt es „brauchbare Illegalität“ und wenn man das Konzept einmal verinnerlicht hat, sieht man es plötzlich überall. Und wenn man organisationsklug ist, nutzt man es auch. 

Was ist „brauchbare Illegalität“?

Was meint dieses Phänomen? Jede Organisation hat offizielle Strukturen und Prozesse. Sie sind wie ein Straßennetz oder die hübsch angelegten Wege im Park – sorgfältig geplant und mit Schildern versehen. Trotzdem nutzen die meisten von uns auf dem Weg von A nach B regelmäßig Trampelpfade – notfalls auch mal quer über die Wiese – wenn der gepflasterte Weg eben einen echten Umweg bedeutet. Und genau diese Trampelpfade gibt es eben auch in Organisationen: Kleine und größere Umgehungen der offiziellen Regeln, die stillschweigend geduldet werden, aber tendenziell im Schatten stattfinden. Nicht etwa, weil sie grundsätzlich schädlich wären. Ganz im Gegenteil: Oft halten brauchbare Illegalitäten den Betrieb am Laufen, ja, sie können sogar ungeahntes Innovationspotenzial bergen. So werden mitunter Prozesse beschleunigt, Absprachen ermöglicht, Entscheidungen erleichtert. Kurz gesagt: Es ist paradoxerweise im Sinne der Organisation, wenn Mitglieder der Organisation die Regeln der Organisation biegen und manchmal brechen.  

Kommen wir aber noch einmal auf diesen ominösen weißen Bus von eben zurück. In besagtem Produktionswerk sollte eine Reorganisation stattfinden, um die Abläufe an ein Schwesterwerk anzugleichen. Um uns ein Bild zu machen, verbrachten wir einen Tag im Werk, darunter auch mit einem Vorarbeiter in einem weißen Transporter, der kreuz und quer übers Werksgelände fuhr und an verschiedenen Stellen Probleme löste. Warum bloß durfte davon niemand erfahren? Naja, der Abteilungsleiter wusste eben doch Bescheid. Er wusste aber auch, dass es die Position eines Vorarbeiters laut der neuen Organisationsstruktur gar nicht mehr geben durfte – auch wenn sie für den Betrieb unverzichtbar war. Nur vor der Geschäftsführung konnte er das jetzt nicht sagen.  

Diese Situation zeigt exemplarisch, wie Organisationen funktionieren: Die formale Struktur trifft auf eine komplexe Realität, die sich nicht vollständig „verregeln“ lässt. Was auf dem Papier optimal erscheint, kann in der Praxis zu erheblichen Problemen führen. In unserem Fall waren die baulichen Gegebenheiten des Werks so anders als die des automatisierten Schwesterwerks, dass die neue Organisationsstruktur schlicht nicht praktikabel war. Die Mitarbeitenden hatten eine pragmatische Lösung gefunden – auch wenn diese offiziell nicht existieren durfte.  Die Kraft solcher Lösungsfindungen wird einem klar, wenn man sich einmal vor Augen führt, was das Gegenteil wäre: „Dienst nach Vorschrift“ – und das ist ja zu Recht eine regelrechte Drohung. Mitarbeitende, die nach Schablone arbeiten, nie über den Tellerrand schauen und selbst dann nichts ändern, wenn alle Bemühungen ganz offensichtlich ins Leere laufen, sind eher selten Mitarbeiter des Monats. Man könnte sogar sagen, dass Organisationen auf das flexible, situationsangepasste Handeln ihrer Mitarbeitenden angewiesen sind. Denn in einer dynamischen Welt, sind Organisationen ständig mit Widersprüchen konfrontiert.  

Dabei kann es sich um interne Zielkonflikte handeln, wenn beispielsweise der Zeitplan für ein Projekt zu eng gefasst ist, um jeden einzelnen Meilenstein absegnen zu lassen und obendrein vielleicht noch ein wichtiger Kollege im Urlaub ist. Oder der Vertrieb möchte einem Prospekt gleich zwei oder drei Demo-Accounts zur Verfügung stellen, wie es der Wettbewerber tut, aber offiziell ist pro Prospekt nur einer vorgesehen. In diesen Situationen finden Mitarbeitende Mittel und Wege, das Projekt fertig zu bekommen oder neue Kunden und Kundinnen zu gewinnen. Kurz gesagt: Sie brechen die Regeln eben im Sinne der Organisation. 

Gratwanderung zwischen Flexibilität und Kontrolle

Aber warum konnte der Abteilungsleiter gegenüber der Geschäftsführung dann nicht einfach zugeben, dass er von diesem weißen Bus wusste? Schließlich war kein Schaden entstanden. Im Gegenteil, die Existenz des Vorarbeiters hatte einen reibungslosen Betriebsablauf überhaupt erst gewährleistet.  

Nun, die Regeln und Strukturen von Organisationen sind ja nicht per se zu ignorieren. Sie sorgen für Sicherheit, Produktivität, einen gut geregelten planbaren und planvollen Ablauf. Es darf kein Kavaliersdelikt sein, sie zu brechen. Denn bei weitem nicht jede Illegalität ist brauchbar. Manche sind eben auch unbrauchbar und schädlich. Für die Organisation, die Beschäftigten, ihre Kundinnen und Kunden, oder alle auf einmal.  

Nicht zuletzt gilt es auch die Autorität der Entscheider zu bewahren. Wer von einem Regelbruch erfährt und diesen nicht sanktioniert, kann sich darauf einstellen, dass bald noch mehr Mitarbeitende auf den Gedanken kommen, es einfach mal anders zu machen und dann könnte die Wirkkraft der Organisationsstruktur nach und nach erodieren.

Wie Organisationen von Regelabweichungen lernen können

Wie findet man da nun eine gute Balance? In den meisten Organisationen wird brauchbare Illegalität deshalb geduldet, aber viel zu selten offen angesprochen. Vielleicht sagt nochmal jemand im Spaß so etwas wie: „Das habe ich aber jetzt nicht gesehen“, aber nur selten wird dem Verhalten wirklich auf den Grund gegangen. Dabei können wir aus den brauchbaren Illegalitäten in unseren Organisationen so viel lernen. Denn in der Abweichung von starren Regeln zeigt sich oft, wo Potenzial für Veränderungen liegt, also wie wir den Organisationsalltag produktiver, kosteneffizienter und zielführender gestalten könnten.  

Ein produktiver Regelbruch entsteht nicht aus Faulheit oder Eigennutz, sondern aus dem Wunsch, im Sinne der Organisation gute Arbeit zu leisten. Man könnte sogar sagen, dass brauchbare Illegaltitäten eine Art Frühwarnsystem für überholte oder dysfunktionale Strukturen sind. Und damit können sie sogar ein wertvoller Anstoß für Innovation sein.  

Regeln sind also wichtig, aber nicht immer mit der Realität zu vereinbaren. Gleichzeitig muss die Führung der Organisation ihre Autorität wahren. Ein echtes Dilemma, besonders weil wertvolles Innovationspotenzial verlorengeht, wenn brauchbare Illegalität im Verborgenen bleibt. Um das Dilemma aufzulösen, sollten Organisationen zuallererst psychologische Sicherheit schaffen. Mitarbeitende müssen darauf vertrauen können, dass das Ansprechen von Regelabweichungen nicht automatisch Sanktionen nach sich zieht. Dies gelingt nur, wenn Führungskräfte aktiv signalisieren, dass sie an den praktischen Erfahrungen und Herausforderungen ihrer Teams interessiert sind. 

Sind diese Voraussetzungen erstmal geschaffen, geht es daran, das aus brauchbarer Illegalität resultierende Innovationspotenzial zu heben und dafür braucht es einen methodischen Ansatz. Drei Fragen sind dabei zentral: 

1.     Welche Funktion erfüllt die Regelabweichung?
2.     Welche Folgeprobleme entstehen dadurch?
3.     Lassen sich diese Folgeprobleme konstruktiv lösen? 

Vom Regelbruch zur Innovation

Ein Beispiel aus der IT-Abteilung eines mittelständischen Unternehmens verdeutlicht das: Die Nutzung von Cloud-Speicherdiensten ist hier aus Sicherheitsgründen verboten. In der Praxis nutzen aber viele Mitarbeitende private Cloud-Accounts, um große Dateien mit externen Partnern zu teilen oder von unterwegs auf wichtige Dokumente zuzugreifen. Die Funktion ist offensichtlich: Die Mitarbeitenden umgehen ein starres System, das die operative Arbeit behindert. Allerdings entstehen ernsthafte Folgeprobleme: Unternehmensdaten werden unkontrolliert auf externe Server geladen, Versionen können nicht nachverfolgt werden, und im schlimmsten Fall gehen sensible Informationen verloren.


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Eine innovative Lösung könnte die Einführung eines unternehmenseigenen Cloud-Systems sein, das die Sicherheitsanforderungen und die Bedürfnisse der Mitarbeitenden gleichermaßen berücksichtigt. Mit End-to-End-Verschlüsselung, automatischer Synchronisation und benutzerfreundlicher Oberfläche würde es die Vorteile der „illegalen Praxis in einen sicheren, offiziellen Rahmen überführen. Was als Regelverstoß begann, wird so zum Ausgangspunkt einer echten Prozessverbesserung. 

Um brauchbare Illegalität als Innovationsquelle zu nutzen, braucht es vor allem eins: einen offenen, wertfreien Blick auf die tatsächlichen Praktiken in der Organisation. Statt vorschnell in Kategorien von richtig und falsch zu denken, sollten wir uns fragen: Was sagt uns diese Abweichung über die Bedürfnisse und Herausforderungen der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag? 

Dabei geht es nicht darum, jede Regelabweichung zu legitimieren. Vielmehr dürfen wir sie als Indiz dafür verstehen, wo Verbesserungspotenzial liegt. Oft entstehen so unglaublich praktikable Innovationen und Prozessverbesserungen, die viel näher an der Realität und den Bedürfnissen von Mitarbeitenden und Kunden sind als die Ergebnisse manches Design-Thinking-Workshops.

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Judith Muster, Metaplan

Dr. Judith Muster

Judith Muster ist Beraterin, Wissenschaftlerin und Publizistin. Als Partnerin bei Metaplan berät sie Unternehmen und Verwaltungen bei Reorganisationen, Strategieentwicklung und Kulturwandel – schwerpunktmäßig in großen Konzernen. Als Wissenschaftlerin forscht, lehrt und publiziert sie an der Universität Potsdam zu organisatorischen Implikationen der Digitalisierung, postbürokratischen Organisationsmodellen und den Möglichkeiten und Grenzen von Führung. Sie ist (Co-)Autorin der Bücher Die Humanisierung der Organisation (Vahlen, 2022) und Postbürokratisches Organisieren (Vahlen, 2021) und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet, zuletzt vom Personalmagazin als einer von 40 führenden HR-Köpfen.

Lars Gaede

Lars Gaede ist Soziologe und diplomierter Journalist. Nach einer journalistischen Karriere unter anderem bei Die Zeit, Wired und Deutsche Welle hat er “Work Awesome” gegründet, eine Konferenzreihe zur Zukunft der Arbeit in New York und Berlin. Seit 2019 berät er bei der soziologisch arbeitenden Organisationsberatung Metaplan zu Themen wie Kulturgestaltung, Führung, Innovation und organisationalen Veränderungen. Außerdem konzipiert und kuratiert er digitale und analoge Lern- und Diskursformate und entwickelt Kommunikationsstrategien für deutsche und internationale Kunden.

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