Natalya Nepomnyashcha sitzt in ihrem Homeoffice in Berlin. Um sieben Uhr ist sie an diesem Morgen in Frankfurt am Main aufgewacht, weil sie dort am Abend zuvor eine Jurysitzung von Union Investment besucht hatte. Mit dem Zug ging es frühmorgens zurück nach Berlin – zu ihrem „Brotjob“. So nennt sie ihre Vollzeitstelle bei einem internationalen Beratungshaus. Nebenberuflich gründete sie vor einigen Jahren das soziale Unternehmen Netzwerk Chancen, das sie ehrenamtlich führt. Damit setzt sich die 32-Jährige für junge Menschen aus finanzschwachen und nichtakademischen Familien ein. Manchmal nimmt sie sich dafür im Hauptjob frei, so wie am Tag des Events in Frankfurt. Im Schnitt arbeitet sie fünf Stunden pro Woche für ihre Organisation, mal etwas mehr, mal etwas weniger – alles abends oder am Wochenende. Sechs Angestellte unterstützen ihr Engagement. Über Chancengleichheit und Diversität spricht Nepomnyashcha in Talkshows und auf Bühnen. Auf Linkedin folgen ihr mehr als 23.000 Menschen: Eine Karriere, die als Sinnbild für beruflichen Erfolg steht. Doch der Weg dorthin war hürdenreich.
Die gebürtige Ukrainerin kommt im Alter von elf Jahren nach Deutschland und wächst in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Ihre Eltern sind seit Mitte der 1990er Jahre arbeitslos, schon bevor sie im Jahr 2001 ihr Heimatland verlassen haben. Im Vergleich zu dem Leben in der Ukraine hat die Familie mithilfe von Sozialleistungen etwas mehr Geld als zuvor. Dass sie hierzulande mit Hartz IV jedoch am unteren Rand der Gesellschaft leben, realisiert die Tochter erst später. „Ich habe Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass meine Eltern tagsüber zu Hause sind, aber die Eltern anderer Schulkinder zur Arbeit gehen und ihnen andere Möglichkeiten bieten“, sagt Natalya Nepomnyashcha. So seien Mitschülerinnen und Klassenkameraden mal verreist oder ins Theater gegangen, während dies für das Kind arbeitssuchender Eltern keine Option war.
Einem Sicherheitsbedürfnis folgen
In Deutschland angekommen, besucht die Teenagerin zunächst in Bayern eine sogenannte Übergangsklasse einer Hauptschule. Diese richtet sich an Kinder, die frisch zugewandert sind und nur über wenige oder gar keine Deutschkenntnisse verfügen. Nach anderthalb Jahren wechselt sie auf die Realschule. Die Möglichkeit, das Gymnasium zu besuchen, bleibt der Schülerin aufgrund eines Einstufungstests verwehrt. Auf der Realschule hat sie aber schnell gute Noten. Nach der neunten Klasse und mit einem Notenschnitt von 1,3 versucht sie erneut den Wechsel aufs Gymnasium, jedoch erfolglos. Es scheitert an einem Gespräch mit dem stellvertretenden Schulleiter des Gymnasiums. Statt Chancen für einen Schulwechsel aufzuzeigen, lacht er das Mädchen aus. Von ihrem Wunsch eines Studiums lässt sie sich dennoch nicht abbringen. Ihre Eltern haben sie dazu motiviert, gute Noten zu schreiben und vielleicht mal Lehrerin zu werden. Nepomnyashchas Berufswunsch damals: Staatsanwältin, inspiriert von den Gerichtssendungen der 2000er Jahre. Mit ihrem Sinn für Gerechtigkeit sieht die Jugendliche ihre persönliche Zukunft zwar in einem Jura-Studium, folgt jedoch ihrem Sicherheitsbedürfnis und beginnt nach Abschluss der Realschule eine zweijährige Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. Schließlich wäre sie nach einem Abitur schon 21 Jahre alt gewesen. Und was, wenn es mit der Immatrikulation doch nicht klappt? Sie will lieber einen sicheren Abschluss in der Tasche haben. „Das ist die typische Denke eines Arbeiterkindes. Ein Akademikerkind würde solche Gedanken nicht haben“, sagt Nepomnyashcha. Sie absolviert eine zweite Ausbildung als Übersetzerin und Dolmetscherin an einer Fachakademie. Der Abschluss der Fachakademie wird ihr im Ausland als Bachelorabschluss anerkannt. So verwirklicht sie ihren Wunsch zu studieren und absolviert ein Masterstudium Internationale Beziehungen in Großbritannien. Danach zieht sie nach Berlin und will im Bereich internationale Politik arbeiten. Doch die Jobsuche läuft alles andere als erfolgreich. „Mich wollte niemand haben. Ich hatte kein Netzwerk und wusste nicht, mich zu verkaufen“, erinnert sie sich. Nach unzähligen Bewerbungen engagiert sie sich ehrenamtlich und arbeitet bei verschiedenen Nichtregierungsorganisationen. Schließlich schafft sie den Einstieg bei einer Kommunikationsberatung, fängt später bei einer Unternehmensberatung an. Dort arbeitet sie zunächst in der klassischen Beratung, wechselt dann intern ins Executive Management, wo sie auch heute noch tätig ist.
Wut über Ungerechtigkeiten
Das Thema sozialer Aufstieg und damit einhergehende Ungerechtigkeiten beschäftigen Natalya Nepomnyashcha damals sehr. Sie liest das Buch Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet von Marco Maurer aus dem Jahr 2015 – und spürt Wut. Maurer beschreibt unter anderem die Hürden von Nichtakademikerkindern und befasst sich mit dem Vorurteil, dass die Intelligenz von Kindern etwas mit der sozialen Herkunft zu tun habe. Beim Lesen spürt Nepomnyashcha: Sie hat die Situation genauso empfunden und erlebt. „Es kann nicht sein, dass Menschen aus finanzschwachen Familien kein Netzwerk haben, in der Schule mehr Hürden bewältigen müssen, niemand an sie glaubt und sie im Beruf schlechter vorankommen“, sagt sie. Sie entschied, dass sie ehrenamtlich neben ihrem Beruf aktiv werden möchte, und gründete im Jahr 2016 das soziale Unternehmen Netzwerk Chancen.
Bei der Organisation handelt es sich um ein ideelles Förderprogramm – sie fördert nicht mit Geld, sondern mit kostenfreien Angeboten. Die Unterstützung richtet sich an Menschen im Alter von 18 bis 39 Jahren – mit und ohne Migrationshintergrund. „Die häufige Assoziation von unterer sozialer Schicht und Migrationshintergrund halte ich für eindimensional gedacht“, sagt Nepomnyashcha. Natürlich komme das manchmal zusammen, wie in ihrem Fall. Aber genauso gebe es unter reichen Menschen welche mit Migrationshintergrund wie auch unter armen Menschen solche ohne Migrationshintergrund. Von den geförderten Mitgliedern verfügen etwa 90 Prozent über einen akademischen Abschluss oder befinden sich im Studium. Das führt sie darauf zurück, dass Netzwerk Chancen zu Beginn meist an Universitäten und Vereinigungen für sich geworben hat. Die Organisation unterstützt Personen kostenfrei – unter anderem mit Workshops zu Rhetorik, Mindset oder Networking sowie auch mit Einzelcoachings und Mentoring. Im Kern steht der Netzwerkgedanke – sei es der Austausch untereinander, mit Coaches und Mentorinnen oder Unternehmen.
Bildungschancen für alle
„Die Tatsache, dass jemand einen hohen Bildungsabschluss hat, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Person auch intelligent ist“, sagt die Wahlberlinerin. So können auch Privilegien einen hohen Bildungsabschluss begünstigen. Als Beispiel nennt sie, dass jemand das Abitur auch dadurch schaffen kann, weil die Person privilegiert aufwächst und viel Unterstützung bekommt. Entweder sie kommt einfacher durch das Studium, weil sie nebenher nicht arbeiten muss, oder sie promoviert in einem Fach, in dem schon ein Elternteil promoviert hat, und greift auf ein Netzwerk in dem Bereich zurück. „Menschen mit Hartz-IV-Hintergrund kommt es oftmals gar nicht in den Sinn, überhaupt studieren zu gehen – egal, wie intelligent sie vielleicht sind“, sagt die Gründerin.
Für mehr Chancen braucht es ein durchlässigeres Bildungssystem. Das bedeutet für Natalya Nepomnyashcha: weg mit der Mehrgliedrigkeit der Schulen! Sie spricht sich für Gemeinschaftsschulen mit individueller Förderung aus. Den Vorwurf, damit alle Kinder in einen Topf zu werfen, lässt sie nicht gelten. Sie möchte Barrieren abbauen, damit jedes Kind bis zum Abitur auf der Schule bleiben kann – oder zumindest die Chance dazu bekommt. Nach einem Haupt- oder Realschulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen und zu studieren, sei zigmal schwieriger. Ein weiterer Schlüssel ist die Berufsberatung. Es gibt private Institutionen, die sich Zeit nehmen, Stärken und Talente zu erarbeiten, um herauszufinden, welcher Beruf oder Studiengang zu einem Kind passt. Solche Individualberatungen können laut Nepomnyashcha um die 2.000 Euro kosten. Das müssen sich Eltern leisten können. An die kostenfreie Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit hat sie keine guten Erinnerungen: Die Jugendliche saß am Computer, machte Angaben zu Interessen und am Ende spuckte das Programm die Berufsempfehlung „Sekretärin“ aus. Ihr Vorschlag: eine staatliche Berufsberatung, die den Namen auch verdient.
Als Natalya Nepomnyashcha nach ihrem Masterabschluss auf Jobsuche geht, fehlt ihr ein Netzwerk. Mit dem sozialen Unternehmen Netzwerk Chancen möchte sie Menschen aus finanzschwachen Familien genau dazu verhelfen. Mehr als 1.600 Menschen sind Mitglied der Organisation und profitieren von dem ideellen Förderprogramm.
Diskriminierung entgegenwirken
Die soziale Herkunft prägt nicht nur den Bildungsweg, sondern ebenso den beruflichen Werdegang. Die Unternehmensgründerin berichtet über die Ergebnisse einer Umfrage, die Netzwerk Chancen kürzlich durchgeführt hat. Die Mehrheit der Befragten gibt an, dass Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft am Arbeitsplatz vorkommt. Nepomnyashcha spricht sich dafür aus, dass soziale Herkunft als eine Dimension in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen wird. Das ist eine wesentliche politische Forderung ihrer Organisation – auch in dem Bewusstsein, dass Verstöße dieser Art nur schwer nachzuweisen sind. „Es hat eine unglaubliche symbolische Wirkung, wenn Menschen aufgrund des sozialen Status oder der sozialen Herkunft nicht diskriminiert werden dürfen“, sagt Nepomnyashcha.
Die Ehrenamtlerin hält es gerade bei Human Resources für wichtig, Schulungen durchzuführen, damit Recruiting- und Hiring-Verantwortliche an ihrem Mindset arbeiten. Warum stellen Recruiting-Verantwortliche eine bestimmte Person ein? Ist es, weil sie ihnen sympathisch oder ähnlich ist? Um das festzustellen, helfen Reflexionsprozesse. Nepomnyashcha rät außerdem dazu, formale Qualifikationen und geforderte Abschlüsse zu überdenken. Der Grund: Für Menschen aus bestimmten sozialen Schichten ist es einfacher, einen bestimmten Abschluss zu erreichen, als für Menschen aus anderen Schichten. Im Recruiting sei zudem die Angabe von persönlichen Ansprechpersonen von Bedeutung. Denn gerade für Menschen, die vielleicht an sich zweifeln oder daran, sich überhaupt zu bewerben, kann ein direkter Kontakt helfen. Unternehmen, die divers und inklusiv sein möchten, empfiehlt sie, neben Role-Model-Kampagnen vor allem auch bei Events über das Thema „Sozialer Aufstieg“ zu sprechen. Für den Arbeitsalltag findet sie interne Netzwerke hilfreich – sozusagen ein Safespace, in dem sich Menschen über soziale Herkunft und ihre Karrierewege austauschen können. Und: Es müsse soziale Diversität auf allen Ebenen geben, sagt sie. Dementsprechend sollte sich nicht nur das Recruiting hinterfragen, sondern alle Menschen mit Entscheidungsverantwortung im Unternehmen. Welche Karrierepfade und welche Menschen werden überhaupt gefördert? Wie entscheiden Verantwortliche darüber, wie Angestellte im Unternehmen vorankommen?
Auch wenn Nepomnyashcha von Menschen viele Nachrichten bekommt, dass sie ihnen ein Vorbild ist, sieht sie sich nicht als solches – sie will vielmehr Anderen Möglichkeiten aufzeigen. Ihr Beispiel zeigt, dass man auch über einen schlangenförmigen Weg am Ziel ankommen kann. Und bei einem Pfad mit Umwegen und Stolpersteinen braucht es hin und wieder Unterstützung. Ein Wegbereiter war dabei stets ihr bester Freund. Er hat sie durch Höhen und Tiefen begleitet – und auch mal den Spiegel vorgehalten und offen seine Meinung geäußert. Ein weiterer Wegbereiter ist der Leiter einer Stiftung, den sie im Rahmen eines Stipendiums kennenlernte. Er hat an sie geglaubt, sie als Freund unterstützt und sie für Jobs empfohlen. Wenn Natalya Nepomnyashcha ihrem jüngeren Ich einen Ratschlag zum Berufseinstieg geben müsste, wäre es ehrenamtliches Engagement. Denn damit tue man nicht nur Gutes, sondern vernetze sich auf eine positive Weise – mit Menschen aus Gremien und Wirtschaft. Und genau das ist es, was je nach sozialer Herkunft fehlt: ein Netzwerk.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.