Angst hat Natalya Nepomnyashcha noch immer. Angst, alles zu verlieren. Das schreibt die Gründerin von Netzwerk Chancen direkt auf den ersten Seiten ihres Buches. In Wir von unten wird schnell deutlich, warum dem so ist. Obwohl sich ihre Lebensgeschichte auf dem ersten Blick wie das perfekt eingelöste Leistungsversprechen lesen lassen könnte – von Hartz IV zur erfolgreichen Unternehmensberaterin – ist es das nicht. Denn um da zu stehen, wo sie heute ist, brauchte es neben Fleiß, Können und immensem Durchhaltevermögen auch Kontakte und eine Prise Glück. Und obwohl Nepomnyashcha nun sehr erfolgreich und „oben“ angekommen ist, überwiegt das Gefühl der Angst, nicht der Sicherheit. „Ich lebe innerlich nach wie vor im Mangelzustand, so, als könne alles gleich weg sein, obwohl es äußerlich keinen Grund dafür gibt“, schreibt sie. Als Folge dessen vermeidet sie Abhängigkeiten und scheint viele Entscheidungen von der Katastrophe aus zu planen, da sie weiß, wie es ist, kaum etwas zu haben.
Nepomnyashcha macht die Strahlkraft ihrer eigenen Geschichte sogar als Teil eines übergeordneten Problems aus: „Denn indem sich die Scheinwerfer auf mich richten, werden andere durch den Schatten verdeckt. Und es sind viele.“ Dabei seien die härtesten Zeiten für sie längst vorbei. Deshalb ist es ihr ein Anliegen, der Leserschaft neue Protogonistinnen und Protagonisten vorzustellen. Mary, Jörg, Sebastian, Pauline, Ulrike, Romy, Sven, Sabine und Osman sind alle ebenfalls unterprivilegiert aufgewachsen. Ihre Erlebnisse zeigen einmal mehr, dass Ausbildungssysteme und Arbeitsmarkt nur selten ungrade verlaufende Biografien verzeihen. Sie alle sind die vielfach zitierte Extrameile gegangen, doch das Leistungsversprechen blieb ungültig. Mit ihren einbezogenen Lebensgeschichten gelingt es Nepomnyashcha glaubhaft, dass aus einem Ich ein Wir von unten werden kann.
Klassismus in verschiedenen Lebensphasen
Die Erlebnisse ihrer Gesprächspartner verwebt Nepomnyashcha in der Ich-Perspektive auf 272 Seiten zu einer komplexen Geschichte über Klassismus in verschiedenen Lebensphasen. Sie spannt anfangs einen definitorischen Bogen von Bourdieus Klassentheorie zum zeitgenössischen Soziologen Aladin El-Mafaalani, bleibt dabei stets bildhaft und verständlich. Nepomnyashcha beschreibt Abgrenzungs- und Abwertungsmechanismen in unserer Sprache und legt zahlreiche Paradoxien und Ungerechtigkeiten offen. Etwa wenn „Arbeitslosigkeit“ an der Spitze der Pyramide als etwas Erstrebenswertes gilt – ganz anders als bei armen Menschen, die schnell als arbeitsfaul abgestempelt werden. Oder wenn bei einem Kind von Eltern mit Hochschulabschluss die Wahrscheinlichkeit 2,5 mal höher ist, dass es eine Gymnasialempfehlung erhält, als bei einem Kind aus der Arbeiterklasse. Bei gleichen Leistungen und Fähigkeiten.
Bildungsgerechtigkeit ist ein zentrales Thema bei Nepomnyashcha: Wie könnte das Bildungssystem verändert und gerechter werden? Dabei kritisiert sie nicht nur Bestehendes, sondern bemüht sich um konkrete Verbesserungsvorschläge. Dafür spricht sie mit zahlreichen Fachleuten aus Pilotprojekten oder alternativen Schulmodellen. Diese Expertise bettet sie erzählerisch in ihre Lebensgeschichte und die der anderen ein, zieht zusätzlich zahlreiche Studien als Informationsgrundlage hinzu. Dadurch ergeben sich viele verschiedene Erzählstränge und Perspektivwechsel, die manchmal sehr abrupt und temporeich durch das Buch führen.
Perspektivwechsel für HR
Ein für HR sehr relevanter Perspektivwechsel findet statt, als Nepomnyashcha aus der Sicht einer Recruiterin für ihre Stiftung schreibt. So schildert sie, warum Noten und Arbeitszeugnisse für sie weitgehend uninteressant sind oder warum sie Small Talk vermeidet. Mit zukunftsgerichteten Fragen rückt sie Kompetenzen und Ziele in den Fokus, nicht die Vergangenheit oder – wie so oft – die Herkunft. Für die Netzwerk-Chancen-Gründerin ist nämlich klar: Führungsebenen, Personalabteilungen und die Gesellschaft allgemein sortieren systematisch Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft aus. Und das sei nicht nur für jeden einzelnen der ausgeschlossenen Menschen tragisch. Denn letztendlich schade fehlende Repräsentation auch unserer Demokratie, wenn nur die Interessen von einigen wenigen vertreten werden.
Informationen zum Buch:
Natalya Nepomnyashcha: Wir von unten. Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet. Ullstein, 272 Seiten, 19,99 Euro. Erschienen im Mai 2024.
Weitere Artikel zum Thema:
- Die Wirkmacht der sozialen Herkunft am Arbeitsplatz
- Die Entschlossene: Annahita Esmailzadeh im Porträt
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Branding. Das Heft können Sie hier bestellen.