Um den neuen Herausforderungen begegnen zu können, reicht es für Unternehmen nicht aus, ein paar agile Methoden einzuführen. Es braucht ein völlig anderes Denken und Handeln – nach einer neuen Logik. Dass die Führungskräfte sich einer Wahl stellen, ist Teil des neuen Denkens.
Der häufigste Kündigungsgrund für Mitarbeiter ist eine schlechte Beziehung zum Vorgesetzten. „Menschen kommen zu Unternehmen, aber verlassen Vorgesetzte.“ Das bekannte Zitat von Reinhard Sprenger wird in der Realität seit Jahrzehnten immer wieder bestätigt.
Vorgesetzte verfügen in klassischen Organisationen über eine weitreichende Macht über die Mitarbeiter: ihren Aufgaben, ihren Lohn, ihre Entwicklung, ihren Einsatzort, ihre Karriere. Im Idealfall entsprechen Vorgesetzte in solchen Konstellationen wohlwollenden Eltern oder Lehrern, die ihren Schützlingen das Beste ermöglichen wollen. Wir alle kennen diese, aber leider auch andere Fälle, in denen dies zumindest bei Mitarbeitern so nicht ankommt.
Die massiven Paradigmenwechsel in der VUCA-Welt bringen noch mehr Unsicherheit in die Unternehmen. Es gibt kein Unternehmen, das die Digitale Transformation nicht auf der Agenda hat – mit weitreichenden Auswirkungen auf die Führungskräfte, die Managementmethoden, die Organisationsstrukturen und die Unternehmenssteuerung.
Während wir in der Digitalisierung, zum Beispiel Industrie 4.0, Internet of Things (IoT) oder künstliche Intelligenz, teilweise große Entwicklungsschritte wahrnehmen, sehen wir in den meisten Unternehmen noch ein unverändertes Organisations- und Führungsverständnis basierend auf den Mechanismen der letzten Jahrhunderte. Es gibt zwar bereits einige Firmen, die mit agilen und humanzentrierten Methoden agieren. Oder sich mit „Digital Leadership“-Programmen langsam in die neue Welt vortasten: Die einen schwören auf den Wandel zur transformationalen Führung. Andere rufen gar eine horizontale Führung aus. Und alle Führungsinitiativen kommen aus der Erkenntnis, es muss sich etwas ändern – bestmöglich sehr schnell.
Die Grundlage ist aber immer noch die gleiche Denkweise nach der wir unsere alten Muster erschaffen haben. Das reicht für nachhaltige Veränderung nicht aus. Albert Einstein hat es treffend formuliert. „Wir können ein Problem nicht mit derselben Denkweise lösen wie es entstanden ist“.
Wir müssen mutiger unser Verständnis von Führung und Organisationsdesign in Frage stellen, wenn wir unsere Unternehmen in die nächste Generation entwickeln wollen.
Wichtiger kultureller Baustein
Mit der Wahl von Führungskräften beschreibe ich hier ein Modell und unsere Erfahrungen im Experimentieren von neuen Führungsmechanismen.
Jeder Mitarbeiter wählt seine Führung bereits heute auch in klassischen hierarchischen Unternehmen. Das nennt man „Abstimmung mit den Füßen“: Wenn mir eine Umgebung nicht gefällt, dann wechsle ich in eine andere. Diese Art der Abstimmung ist heute in Unternehmen an der Tagesordnung – insbesondere bei gefragten Talenten. Und das ist gut so.
Wir bei Haufe-umantis AG wählen im fünften Jahr unsere Führungskräfte. Einmal jährlich wird jede Führungsrolle vom Verwaltungsratsvorsitz, dem Top-Management, den Teamleitern bis hin zu Scrum Mastern und Produkt Ownern in den agilen Teams gewählt. Dies ist ein wichtiger kultureller Baustein, der unsere People Performance und somit den Geschäftserfolg ausmacht.
Die wesentlichen Vorteile von Vorgesetzten-Wahlen gehen weit über die eigentliche Wahl – also ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel zu machen – hinaus.
Eine gewählte Führungskraft hat Rückhalt aus dem Team
Sie wurde von den eigenen Mitarbeitern gewählt. Je nach Modus mit bis zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Somit haben die Mitarbeiter selbst großes Interesse daran, die Führungszusammenarbeit erfolgreich zu gestalten.
Wahlen fördern den Dialog zum Abgleich von Erwartungen
Kandidaten müssen durchdenken, welche Vorstellungen sie von ihrer Führungsaufgabe haben und diese gut verständlich im Vorfeld mitteilen. Mitarbeiter müssen überlegen, welche Erwartungen sie an die zu besetzende Rolle und die Führungskraft haben, dies abgleichen und ebenfalls formulieren. Durch diese intensive Auseinandersetzung werden implizite Erwartungen sichtbar, können untereinander diskutiert und miteinander abgeglichen werden.
Die Rolle von Führungskräften wird allen klarer
Führungskräfte fungieren nicht selten als Ventil und Projektionsfläche für Frust bei Problemen. Gewählte Vorgesetzte eignen sich dafür weniger, da die wechselseitigen Erwartungen im Vorfeld geklärt und von den Mitarbeitern durch die Wahl bestätigt und akzeptiert wurden. Zudem haben gewählte Führungskräfte eine größere Legitimität zu führen.
Wahlkampf ist Feedback zu Führungsqualitäten
Wahlen sind ein Stimmungsbarometer: Einige Führungskräfte werden zwar wiedergewählt, schneiden aber schlechter ab als das letzte Mal oder als andere Kandidaten. Dies ist ein klares Feedback, teilweise eine Art Verwarnung und spornt dazu an, besser zu werden. Zudem können die Kandidaten voneinander lernen.
Wahlen stärken die Eigenverantwortung für die Karriere
Jeder Mitarbeiter kann sich selbst zur Wahl nominieren. Somit kann er oder sie die eigene Karriere selbst lenken und ist nicht auf das Wohlwollen politischer Spielchen, Machtkämpfe oder den Launen von Vorgesetzten angewiesen. Das Feedback im Vorfeld der Wahl gibt eine gute Einschätzung, was er oder sie benötigt, um eine reelle Chance zu haben.
Auch eine Nicht-Wahl ist eine Wahl
Selbst wenn es nur einen Kandidaten für eine Position gibt, bleibt eine Wahl eine Wahl. Die Mitarbeiter könnten dem Kandidaten ihre Stimme verweigern. Eine solche Abwahl eines Kandidaten hat sich als das wichtigere Werkzeug herausgestellt. Stößt eine Führungskraft an ihre Grenzen, wird das Problem auf diese Weise mit offenem Feedback gelöst.
Abwahlen und Rücktritte werden zur Normalität
Eine Abwahl oder Nicht-Wahl ist für Führungskräfte nicht leicht zu verkraften, da sie diese zunächst als Gesichtsverlust empfinden. Im Laufe der Zeit wird es jedoch zu einem natürlichen Vorgang im Unternehmen und ein freiwilliger Rücktritt zu einer selbstbestimmten Alternative. Bei uns ist es kein Stigma zurückzutreten, es ist kulturell nicht mit Gesichtsverlust verbunden. In klassischen Strukturen mit Kaminkarrieren (up or out), bin ich sicher, verlassen wertvolle Mitarbeiter das Unternehmen, die wichtiges Know-how mitnehmen.
Mit neuen Methoden experimentieren
Um mehr zum persönlichen Erleben einer Wahl aus Sicht eines CEOs zu erfahren, empfehle ich den TEDx Talk aus Zürich von Marc Stoffel, dem CEO von Haufe-umantis, zum Thema „Why it’s time to elect your boss“.
Besonders stolz bin ich, dass wir Ende 2016 die Deutsche Telekom als ersten DAX-Konzern bei der Wahl von Mitarbeitern begleiten durften. Ich finde, das ist eine sehr mutige Entwicklung für ein Unternehmen der Deutschland AG. Der Leiter von Corporate Communication, Philipp Schindera, hat mit seinem Team beschlossen, in dieses Experiment zu gehen.
Unsere eigenen Erfahrungen und die Zusammenarbeit mit der Deutschen Telekom zeigen, dass es Zeit ist, noch mehr und breiter mit neuen Methoden und Vorgehensweisen zu experimentieren – sowohl in kleineren Unternehmen als auch in großen Konzernen. Einige haben schon begonnen, es reicht nur noch lange nicht, um alte Paradigmen in unserer Wirtschaft wirklich zu brechen, zu lernen und neue Managementmethoden der nächsten Generation zu verankern. Seid mutig! Die Zeiten ändern sich. Schön, wenn man zu denen gehört, die das merken.