Warum hat der Kompromiss einen schlechten Ruf?

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Der faule Kompromiss ist wie das Haar in der Suppe. Ungenießbar. Der Philosoph und Biologe Andreas Weber hatein Buch über die Beschaffenheit des Kompromissesgeschrieben und rehabilitiert ihn als rebellische Lebensklugheit.

Herr Weber, es gibt den faulen, aber auch den fairen Kompromiss. Weshalb braucht das Wort Adjektive zur Einordnung?
Andreas Weber: Der Kompromiss hat leider einen schlechten Ruf. Eigentlich bräuchten wir das qualifizierende Attribut faul gar nicht. Denn wenn eine Person sagt: „Ich musste in meinem Leben einige Kompromisse machen“, klingt es so, als hätte sich jemand mit vielen Dingen abfinden müssen, auf die er oder sie keine Lust hatte. In westlichen Gesellschaften wird ein Handeln, in dem nicht zu hundert Prozent die eigenen Interessen durchgesetzt werden, per se für schlecht, falsch oder deprimierend befunden. Doch damit zerstören wir unsere Beziehungsfähigkeit. Beziehung bedeutet, dass man sich in einer Mitte trifft, die für beide Seiten vertretbar ist. Wird der Kompromiss als „fair“ eingestuft, rettet man ihn etwas vor der Negativität. Dennoch, ein Beigeschmack bleibt daran haften.

Woher kommt unser Unwille an der Auseinandersetzung mit anderen Ansichten?
Das hat damit zu tun, dass wir schon lange in einer Optimierungsideologie leben, in der es die Illusion gibt, dass alle hundertprozentig gewinnen können; dass wir das sogar anstreben müssen. Das läuft dann auf einen permanenten Kampf hinaus. Unsere Kompromissfähigkeit hängt grundlegend von unserer Fähigkeit ab, in Gemeinschaft zu sein. Wenn wir nicht wiederentdecken, was am Aufeinanderzugehen konstruktiv sein kann, und lernen, mit Abstrichen vom Absoluten zu leben, werden wir immer kriegerischer und gewalttätiger sein.

Wie ist der Kompromiss in der deutschen Seele verortet?
Historisch sind wir Deutschen tendenziell eher dem Absoluten zugetan, wir haben unsere Schwierigkeiten mit dem Kompromiss, was natürlich auch zu radikalen Innovationen wie der Reformation geführt hat. Schon der Reformator Martin Luther war eine kompromisslose Gestalt. Andererseits müssen wir uns auch den Kapitalismus anschauen, der dem Kompromiss fundamental abhold ist. Er vertritt die globale Idee, dass der Stärkere den Schwächeren verdrängt. Das ist ein Energiefeld, das sich auch auf unsere Selbstwahrnehmung und Handlungsrationalität auswirkt. Die Alliierten haben nach dem Krieg versucht, den Deutschen zu vermitteln, dass ein Sich-in-der-Mitte-Finden durchaus gut sein kann. Mit der Apotheose, der Verherrlichung des Nichtkompromisses, im deutschen Faschismus war diese Haltung aus dem Denkbaren verschwunden. Menschen mussten erneut lernen, dass Handeln auch implizieren kann, dass man eben nicht alles bekommt, was man haben will. Wir bekommen also etwas, indem wir auch auf etwas verzichten. Mittlerweile haben viele jedoch die Nase voll von der deutschen Konsenspolitik, und kompromisslose Menschen sind in der Politik wieder beliebt.

Die Schriftstellerin Eva Menasse legt in ihren Gedankenspielen zum Kompromiss nahe, dass die Digitalmoderne mit ihrer vereinfachten Kommunikation unsere Toleranz für komplexe Sachverhalte nachhaltig beschädigt habe.
Die Beziehungen in der Digitalmoderne sind indirekt, oder vielleicht sind es auch gar keine. Normalerweise ist es so, dasswir, damit wir überhaupt mit jemanden friedlich in einem Raum bleiben können, Kompromisse eingehen müssen. Als Forumstroll oder für Hassrede auf Twitter brauchen wir das nicht. Die sozialen Medien offerieren uns also eine sehr prekäre Form von In-Beziehung-Sein.

Hannah Arendt sprach vom Kompromiss als „Zusammenhandeln“. In Ihrem Essay Warum Kompromisse schließen? haben Sie sich intensiv mit der Philosophin befasst. Was lehrt sie uns über den Kompromiss?
Hannah Arendt sagt, dass Beziehungen ein praktischer Umgang mit Konflikten, Polaritäten und Gegensätzlichkeiten sind. Beziehungen sind also ein polares Phänomen. Das Konflikt­hafte gehört also nicht hinaus, sondern hinein in diese Beziehungen. Sie finden nur deswegen statt, weil sie sich zwischen verschiedenen Seiten und unterschiedlichen Bedürfnissen ereignen. Das setzt eine kreative Dynamik in Gang. Beziehungen sind also nicht einfach da, sondern sie müssen erschaffen werden von zwei Menschen aus ihrer Ungleichheit heraus. Der Kompromiss ist dann ein Zeichen von In-Beziehung-Sein. Auch die Beziehung zu uns selbst ist eine Polarität. Wir müssen ständig mit uns selbst Kompromisse schließen. Deshalb ist es naiv, sich Beziehung so ideal vorzustellen, wie unsere Gesellschaft es aktuell tut.

Was meinen Sie damit?
Die Paarbeziehung gibt uns Aufschluss darüber. Viele Paare hegen die Illusion, wenn der oder die Richtige gefunden ist, läuft der Rest von allein. Diese Einstellung ist der Mainstream, aber das müssen wir komplexer denken.


Der Kompromiss als Lebenskunst

© Dudenverlag

Das Nachdenken über den Kompromiss berührt alle existenziellen Bereiche. Es betrifft die Frage nach dem Menschen (Was sind unsere zentralen Bedürfnisse?), die Ethik (Wie lassen sich diese Bedürfnisse so erfüllen, dass andere nicht geschädigt werden?), die Politik (Wie lässt sich eine produktive Bedürfniserfüllung organisieren?), die Wirtschaft (Wie lässt sich das zum Leben Nötige unter den Teilnehmern an diesen Beziehungen verteilen?) und letztlich die Ökologie, das System der Systeme, das Gesamtnetz der Beziehungen, das alle Wesen verbindet (Wie kann ich so leben und sterben, dass Leben weiter möglich bleibt?). Mithilfe des Kompromisses können wir tiefer erfassen, wie Individuum und Gesellschaft (das Subjekt und die Wirklichkeit) miteinander verbunden sind.

Andreas Weber
Warum Kompromisse schließen?
128 Seiten, Dudenverlag, 14 Euro. Erschienen im Oktober 2020.


Im Buch nennen Sie das immer wiederkehrende Austarieren der Bedürfnisse wilden Frieden, angelehnt an das paartherapeutische Konzept von Anna Finne-Teschke und Dieter Teschke. Wie gelingt es uns, diesen zu leben?
Wir müssen versuchen, ehrlich zu sein. Wir müssen uns über unsere Wünsche und Bedürfnisse im Klaren sein. Das fällt uns jedoch sehr schwer. Wenn zwei Personen einen Kompromiss finden wollen, müsste die eine sagen: „Dies oder jenes ist mein Bedürfnis, das ist es, was ich gern hätte. Und jetzt sage du mir, was du gern möchtest.“ Aber das findet so nicht statt. Die Menschen wissen oft nicht, was sie wirklich wollen, und sie scheuen sich davor, es auszusprechen. Wir erwarten dann entweder still und heimlich vom Gegenüber, dass erraten wird, was wir wollen, oder dass wir beginnen, uns gegenseitig zu ­erpressen.

Bevor wir nach innen schauen, greifen wir eher an.
Dieses polarisierende Handeln ist im Grunde vernichtendes Handeln, weil ich dadurch Gegnerschaft identifiziere und dann versuche zu eliminieren. Das ist unsere eingeübte Standardreaktion. Meine Meinung ist, dass diese Reaktion nicht in uns angelegt ist, sondern sie wurde erlernt. Die Maxime lautet: „Ich beiße jetzt erst mal zu, alles andere führt zu nichts.“ Den Kompromiss hinter diesem Verhalten hervorzulocken, hat dabei schon etwas nahezu Mystisches.

Nämlich?
Er beherbergt zwei Entdeckungen: einerseits das, was mir eigentlich wichtig ist. Und als zweite Entdeckung die Erkenntnis, dass ich das Bedürfnis meines Gegenübers erfüllen will, wenn ich die Person ganz ungeschützt sehe und erfahre. Zwei Menschen treffen sich dann auf der Ebene des Lebens. Wir wollen dann, wenn jemand wahrhaftig und aufrichtig zu uns ist, dass das Leben, die Menschlichkeit manifest sein, also sich ausbreiten können.

Wo ist die Rebellion verortet in dieser Form der Kompromissfindung? Spielt sie überhaupt eine Rolle?
Sie hängt fundamental mit der Kompromissfindung zusammen. Rebellion hat damit zu tun, dass jemand feststellt, dass eine Form von Produktivität in einem System nicht erwünscht ist oder keinen Platz hat. Die Rebellion ist also ein Akt, in dem sich Wirklichkeit versucht zu zeigen. Daher hat das viel mit der Authentizität zu tun, die im wahrhaftigen Kompromiss liegt. In einer erdrückenden Beziehungsstruktur ist die Rebellion die Ausdrucksform des Lebens. Bereits der französische Denker Albert Camus verortet in seinen Essays Der Mensch in der Revolte die Rebellion als kreativen Akt in der Mitte zwischen blutiger Revolution und stoischem Mitmachen. Wenn jemand einen Kompromiss schließen will, muss er demzufolge auch rebellieren. Er will schließlich, dass alle Karten auf den Tisch kommen. Der israelische Politikforscher Avishai Margalit nannte die Kompromissfindung das Handeln um des Friedens willen. Ich habe das etwas abgewandelt. Der Kompromiss ist für mich das Handeln um des Lebens willen. Sie sehen schon, ich bin ein Rebellions­romantiker.

Zum Gesprächspartner:

Andreas Weber © Florian Büttner

Andreas Weber ist promovierter Biologe und Philosoph und arbeitet als freier Autor und Journalist für Geo, Die Zeit und National Geographic. Er ist Dozent an der Universität der Künste Berlin. Im Oktober 2020 erschien sein Essay Warum Kompromisse schließen? im Dudenverlag.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Rebellion. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

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