Der Betrieb, ein Relikt im Arbeitsrecht?

Arbeitsrecht

Wenn arbeitsrechtliche Laien den Begriff „Betrieb“ hören, denken sie an das Bürogebäude mit Klingelschild oder die Produktionsstätte hinter dem Werktor. Ein Bild, das heute zwar häufig zutrifft, doch stellen es die neuen Arbeitsformen zunehmend infrage. Spätestens mit der pandemiebedingten Ausweitung des Homeoffice hat das Büro an Bedeutung für die Zusammenarbeit verloren. Ein Trend, der sich auch nach dem Ende der Pandemie nicht beziehungsweise nicht vollständig umkehren wird. Daneben führen neuere Organisationsformen wie agile Strukturen oder Matrixorganisationen zu einer dynamischeren Zusammenarbeit über Standortgrenzen hinweg.

Diese Entwicklung bringt verschiedene Fragen mit sich. Was oder wo ist zum Beispiel der Betrieb, wenn die Belegschaft im Homeoffice arbeitet oder mit Fahrrädern oder Pkw durch die Straßen fährt? Welcher Betriebsrat ist zuständig, wenn mein Schreibtisch in München steht, meine Führungskraft aber in Berlin sitzt? Teilweise kommt bereits die Frage auf, ob nicht die gesetzlichen Grundlagen für den Zuschnitt des Betriebs überarbeitet werden müssen.

Das bisherige Begriffsverständnis

Was versteht das Arbeitsrecht unter Betrieb? Eine Definition, die das gesamte Arbeitsrecht abdeckt, existiert nicht. Der Begriff findet sich etwa im Betriebsverfassungsgesetz als Bezugsgröße für die Mitbestimmung des Betriebsrats. Alle Beschäftigten, die einem Betrieb zuzuordnen sind, fallen unter die Zuständigkeit des dort gewählten Betriebsrats. Bei Betriebsübergängen nach § 613a Bürgerliches Gesetzbuch bezeichnet Betrieb, ob beziehungsweise welche Beschäftigten mit einem veräußerten Betrieb oder Teilen davon mitgehen. Im Kündigungsschutzgesetz bemisst sich anhand des Zuschnitts des Betriebs, zwischen welchen Beschäftigtengruppen eine soziale Auswahl stattzufinden hat. Die jeweilige Auslegung in den verschiedenen Gesetzen ist also unterschiedlich.

Selbst wenn es marginale Unterschiede gibt, ist jedoch ein Muster zu erkennen: Die Gerichte umschreiben den Betrieb in aller Regel als eine „organisatorische Einheit“, in der eine Gruppe von Beschäftigten – gegebenenfalls zusammen mit den zugehörigen Betriebsmitteln wie Arbeitsgeräten und Maschinen – einen gemeinsamen arbeitstechnischen Zweck verfolgt. Wer denkt, damit seien alle Antworten auf die Fragen der neuen Arbeitswelt beantwortet, irrt sich allerdings. Denn in der Praxis wird anhand dieser Definition üblicherweise reflexhaft der Betrieb mit dem Standort gleichgesetzt. Zum Betrieb gehört, wer seinen Schreibtisch in der Niederlassung hat. Bei Beschäftigten im Außendienst und anderen auswärts Tätigen wird ergänzend betrachtet, an welchem Standort die zuständige Führungskraft sitzt.

Dieser Reflex mag in der bisherigen Arbeitswelt nachvollziehbar sein. Denn wenn die Arbeit im Betrieb – also am Standort – stattfindet und das Kollegium nebenan auf dem Flur sitzt, entspricht die organisatorische Zuordnung dem Standort. Bevor sich die Gerichte mit Organigrammen und Berichtslinien beschäftigen, nehmen sie die physische Präsenz des Unternehmens als praktische Arbeitshilfe. Diskutiert wird dann oft lediglich, ob mehrere Standorte einen Betrieb bilden oder ob an einem Standort mehrere Betriebe nebeneinander existieren, obwohl alle Beschäftigten dort in dieselbe Kantine gehen.

Der Betrieb – gestern und heute

Bei aller Euphorie, die die Begriffe „New Work“ beziehungsweise „neue Arbeitswelt“ in Teilen der Arbeitswelt hervorrufen: Der räumliche Bezug des Betriebsbegriffs hat in Teilen weiterhin seine Berechtigung. In Produktionsbetrieben etwa ist die organisatorische Einheit zwangsläufig eng mit der physischen Präsenz auf dem Betriebsgelände verknüpft. Wer ein Lager betreibt, für den spielt die räumliche Anbindung der Belegschaft – und damit auch des Betriebsrats – an den Standort eine große Rolle.

Doch für die neuen Arbeitsformen hilft das räumliche Denken teilweise nicht mehr weiter. Heute arbeiten Teams standortübergreifend zusammen. Der Ort des Schreibtischs folgt häufig nicht mehr der Zuordnung in der Unternehmenshierarchie, sondern zum Beispiel dem Wohnort eines Teammitglieds. Wenn Menschen fast durchgängig im Homeoffice arbeiten, ist die strukturelle Anbindung an einen Standort mitunter nur noch Selbstzweck. An seine Grenzen kommt das physische Betriebsverständnis spätestens dort, wo es den Betrieb nicht mehr gibt. Fahrradkuriere, Paketlieferanten oder Mobilitätsdienstleister haben mitunter keine Homebase mehr. Allenfalls existiert eine Lagerhalle für Ware und Fahrzeuge. Oder es wird extra für den Betriebsrat ein Büro angemietet, damit die Betriebsratsmitglieder einen Ort zum Arbeiten haben und Beschäftigte dort mit dem Gremium sprechen können.

Dabei handelt es sich im Übrigen um kein vollständig neues Phänomen. Für Beschäftigte im Außendienst, Pilotinnen, Taxifahrer und ähnliche mobil arbeitende Beschäftigte war der physische Betrieb schon in der Vergangenheit ein Kunstbegriff, der eine Struktur suggerieren sollte, die so eigentlich nicht existiert. Die Folge sind Betriebsratsstrukturen, die dem Ziel einer sachgerechten Repräsentation und Ausübung der Mitbestimmung nicht gerecht werden. Im Kündigungsrecht wird gegebenenfalls eine Vergleichbarkeit von Beschäftigten konstruiert, die funktional keinerlei Berührungspunkte haben. Dieses Ergebnis entspricht nicht dem ursprünglichen Gedanken des Kündigungsschutzgesetzes.

Ist die Gesetzeslage noch zeitgemäß?

Braucht es eine Änderung der Gesetzeslage, um die neue Realität abzubilden? Die Antwort lautet „Jein“. Die juristische Definition des Betriebs fokussiert sich bereits seit Langem auf die organisatorische Einheit, nicht auf die physische Präsenz. Damit lassen sich – bei korrekter Anwendung der Definition – auch die neuen Fälle gut lösen. Wenn eine organisatorische Einheit, wie der Einkauf, im Homeoffice arbeitet und nur die Leitung ihren Schreibtisch am Firmensitz in Hamburg hat, müssen wir künftig nur von dem Betrieb „Einkauf“ sprechen, nicht von dem Betrieb „Hamburg“. Und wenn Kuriere in mehreren Städten von einem zentralen Management gesteuert werden, definiert sich der Betrieb nicht an der Stadt, sondern an der Zuständigkeit des Managements. Sitzt das Management für Deutschland – oder jedenfalls für bestimmte Regionen – zentral an einem Ort, gibt es keinen Grund, je Stadt einen eigenen Betrieb zu konstruieren und damit einen eigenen Betriebsrat gründen zu müssen.

Das setzt aber voraus, dass die Gerichte – aber auch Arbeitgeber und Betriebsräte – nicht mehr von dem physischen Betriebsbegriff als Regelfall ausgehen. Denn wenn die physische Präsenz der betrieblichen Einheit (zum Beispiel des Außendienstes) für deren Arbeit keine Rolle spielt, warum sollen die Beschäftigten über eine nur auf dem Papier bestehende Anbindung einem Standort zugeordnet werden?

In einzelnen Bereichen bedurfte oder bedarf es darüber hinaus dennoch einer Änderung der Rechtslage. Hier ist das Recht schon relativ weit. So dürfen schon heute Beschäftigte, die ausschließlich mobil arbeiten, Klagen aus dem Arbeitsverhältnis bei ihrem Heimatgericht anhängig machen – selbst wenn sie funktional einem Betrieb in einer anderen Stadt zugeordnet sind. Nach den Erfahrungen des Lockdowns wurde auch die gesetzliche Regelung zu Arbeitsunfällen im Homeoffice geändert. Mit der Änderung des Sozialgesetzbuches VII ist der Schutz der Beschäftigten im Homeoffice an den Schutz im Betrieb im klassischen Sinne angeglichen. Man könnte zwar hinterfragen, warum es überhaupt einer begrifflichen Differenzierung zwischen der Arbeit im Betrieb – das Sozialgesetzbuch VII spricht genauer von der „Unternehmensstätte“ – und der Arbeit zu Hause bedarf. Jedenfalls im Ergebnis sind die Fälle aber nun gleichgestellt.

Noch nicht in allen Details auf der Höhe der Zeit ist allerdings das Betriebsverfassungsgesetz. So zählen etwa sogenannte Betriebsteile nach § 4 Absatz 1 Betriebsverfassungsgesetz dann nicht mehr zu dem Betrieb, wenn sie räumlich weit entfernt sind. Dahinter steckt die Idee, eine zu große räumliche Distanz mache eine effektive Betriebsratsarbeit unmöglich. Ein Konstrukt, das in Zeiten von Homeoffice nicht mehr schlüssig ist. Auch die Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz mit ihrem Primat der Präsenzwahl und der Pflicht zum physischen Aushang des Wahlausschreibens im Betrieb stellt organisatorische Einheiten ohne nennenswerte physische Präsenz vor Schwierigkeiten. Hier hätte das Mitte 2021 in Kraft getretene Betriebsrätemodernisierungsgesetz oder die im Oktober 2021 verabschiedete Reform der Wahlordnung Gelegenheit gegeben, die neue Realität besser abzubilden. Doch dafür reichte der politische Wille offenbar nicht aus.

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Christoph Seidler

Osborne Clarke
Christoph Seidler ist Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Osborne Clarke in Hamburg. Sein Beratungsschwerpunkt liegt in betriebsverfassungs-rechtlichen Fragen, insbesondere im Kontext von New Work und Arbeitsrecht 4.0.

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