Chancengleichheit ist ein Märchen

Leadership

Jeder ist seines Glückes Schmied und ohne Fleiß kein Preis? Von wegen. Jahrhundertelang gewachsene Ungerechtigkeit löst sich nicht auf, wenn wir alle soziale Durchlässigkeit nur irgendwie gut finden. Wir brauchen ein neues Narrativ – eines, das uns Eliten zwingt, unser Handeln gegenüber Minderheiten zu ändern.

Theoretisch kann in Deutschland jeder seine berufliche Biografie unabhängig seiner Herkunft oder des Berufs der Eltern gestalten. In der Praxis scheitert sozialer Aufstieg aber an genau diesen Punkten. Und bei denjenigen, die sich einen Platz am Tisch erkämpft haben, bleibt ein Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens zurück. Egal wie sehr man den Bildungsbürgerslang der anderen angenommen und sich von der eigenen Herkunft entfernt hat. Dieses Gefühl, zu den Abgehängten zu gehören, verschwindet bei Aufsteigern auch nach Jahren nicht. Und das ist fatal.

Denn bekanntermaßen können vor allem die Ränder einem etablierten System zusätzliche Perspektiven, neue Aspekte und disruptive Impulse geben – wenn sie sich im ausreichenden Maße einbringen können. Wir sollten zukünftig also nicht nur aktiv werden, weil das nett wäre, sondern weil sonst eine große Chance unserer Wirtschaftskraft verpufft.

Es braucht drei konkrete Maßnahmen, um das Poten­zial von Minderheiten nutzen zu können. Wir müssen eine Willkommenskultur etablieren, Mediation und Versöhnung ermöglichen und wir brauchen eine neue Rolle für Eliten.

1. Wir brauchen eine Willkommenskultur für Auf- und Einsteiger in Wirtschaft und Wissenschaft

Unter Willkommenskultur verstehe ich keine bunten Fähnchen und auch keine Plakatkampagne mit motivierenden Sprüchen. Damit ist das Zusammenspiel von Akzeptanz für das Neue und Hilfsbereitschaft gegenüber dem Neuen gemeint. Oder anders gesagt: Die Mehrheit muss der Minderheit das Gefühl geben, ihre Herkunft nicht verstecken zu müssen. Dazu ist es zum einen notwendig, die Belange aller proaktiv und gleichwertig zu diskutieren. Zum anderen ist es wichtig, Neuankömmlingen zu helfen, ohne eine Gegenleistung zu fordern und im Zweifel auch – das ist der wichtige Kniff – zum Nachteil der eigenen Gruppe. Damit Willkommenskultur funktioniert, muss sie vor allem bei denen, die willkommen heißen, sicht- und spürbar sein. Wir Eliten müssen in unserem Arbeitsalltag fühlen, dass sich etwas ändert. Dazu braucht es die richtige Hard- und Software.

Die Hardware besteht aus Regeln, Gesetzen, Anreizen und Sanktionen. Hier erleben wir aktuell eine verstärkte Dynamik in puncto Frauenquoten und Female Leadership. Debatten rund um Maßnahmen für soziale Diversität sollten den Gerechtigkeitsdiskurs dringend ergänzen.
Software ist das Mindset, mit dem unser Zusammenleben abläuft. Damit das funktioniert, muss klar kommuniziert und vorgelebt werden, dass Minderheiten der Mehrheit nicht gezwungenermaßen etwas vom Kuchen wegnehmen. Unser neues Mindset muss darauf bauen, dass Minderheiten vor allem einen Nutzen für das etablierte System haben.

Deutlich wird dieser Nutzen zum Beispiel beim Thema Zukunftssicherung: Innovationen lösen relevante Nutzerprobleme. Ein zentraler Grund, warum etablierte Unternehmen daran scheitern, echte Innovationen zu entwickeln, ist der fehlende Zugang zu relevanten Problemen, also zur Realität außerhalb von Trendanalysen. Es braucht mehr als ein paar Nutzerinterviews, um aus dem echten Leben heraus Innovationsimpulse zu generieren. Es braucht Unterstützung beim Transfer. Mitarbeiter, die den Rändern der Gesellschaft entstammen, können diese Kommunikationslücke schließen – und so helfen, dringend benötigte Potenziale zu heben.

Kommen wir zu Maßnahme zwei. Warum wird eigentlich keine Seite wirklich aktiv – obwohl alles so logisch und offensichtlich klingt?

2. Wir brauchen Mediation und Versöhnung

Alte Machtstrukturen haben in unserer Gesellschaft Generationen von Tätern und Opfern geschaffen. Keiner von uns heute kann persönlich etwas für diesen Umstand. Trotzdem ist es unsere Aufgabe, zusammen einen Weg zu finden, dieses Dilemma aufzulösen.

Neue Forschungen gehen davon aus, dass Versöhnung in der Regel daran scheitert, dass beide Seiten sich in ihrer Identität bedroht fühlen. Täter sorgen sich um ihr moralisches Ansehen, Opfer haben Angst, als inkompetent und handlungsunfähig zu gelten. Das bedeutet in unserem Fall: Aufsteiger müssen über ihre Scham, ihre Unsicherheit und über ihre Wut hinauswachsen und aufhören, unsichtbar zu sein. Sie sollten dafür einstehen, wer sie sind, ihre persönlichen Hintergründe aktiv in Diskussionen und Projekte einbringen und Disruption wagen.

Mitglieder der etablierten Elite auf der anderen Seite müssen deutlich machen, dass Aufsteiger keine Schuld an ihrer Sozialisation tragen. Dass diese vor allem nichts Minderwertiges ist. Dafür ist der erste Schritt: Verständnis zeigen, ohne sich selbst zu verteidigen.

Ich will es konkret machen: Chancengleichheit ist ein Märchen. Wer daran glaubt, dass mit Fleiß und Talent jeder den Aufstieg in die gesellschaftliche Oberliga schaffen kann, schiebt den Minderheiten selbst die Schuld zu, wenn der Aufstieg scheitert. Er stellt ihre Kompetenz infrage. Und negiert vor allem die eigene Rolle in diesem ungleichen Spiel.

Ein Schritt in Richtung Versöhnung könnte daher folgender sein: Etablierte Eliten fangen an, ein neues Märchen zu erzählen. Eines, in dem sie den Fakt, zufällig in eine priveligierte Herkunft hineingeboren worden zu sein, als persönlichen Erfolgsfaktor anerkennen. Und zugleich eines, in dem sie wertschätzen, was die geleistet haben, die es trotz privilegienfreier Startbedingungen auf die gleiche Ebene geschafft haben.

Denn erst wenn ein souveränes Miteinander gelingt, können gesellschaftliche Aufsteiger wirklich integriert werden. Erst dann werden sie anfangen, im Arbeitsalltag ihren Back­ground mit Stolz einzubringen. Und erst dann können Unternehmen davon profitieren, dass in ihren Reihen Menschen mit unterschiedlichen Historien nebeneinandersitzen.

3. Wir brauchen eine neue Rolle für Eliten

Kommen wir zur dritten und letzten Maßnahme: Wir Eliten sind die Führungsmannschaft unserer Gesellschaft. Und diese Gesellschaft steckt in einem Transformationsprozess. Transformation gelingt bekanntlich nur, wenn Top-down und Bottom-up zusammen arbeiten. Dafür darf Kollaboration nicht weiter horizontal, also unter Gleichen, angegangen werden: Sie muss vertikal praktiziert werden, also mehr Hintergründe, Kontexte und Lebensentwürfe an der Lösungsfindung mitwirken lassen.

Wir Eliten können Minderheiten für die Aufgaben, die vor uns liegen, nicht weiter nur gedanklich die Tür aufhalten, sondern müssen sie aktiv und nachhaltig hereinbitten. Unsere neue Rolle ist also die des „Servant Leaders“. Wir müssen Wandel befähigen und gleichzeitig den Laden am Laufen halten. Und ja, das bedeutet für eine Weile doppelten Stress. Aber ich verspreche Ihnen: Wir werden am Ende Gewinner sein. Wir gewinnen ein Umfeld ohne Populismus, ohne Misstrauen, ohne Angst. Wir gewinnen Ideen, Perspektiven und Möglichkeiten. Wir gewinnen Sinnhaftigkeit. Purpose. Jede und jeder einzelne von uns wird zum Baumeister einer neuen, kooperativen Welt.

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Silke Kreiling

Silke Kreiling

Silke Kreiling ist Director bei Diffferent und verfügt über langjährige Expertise in Innovations- und Purposefindung, Mindful Leadership und der Transformationsbegleitung international agierender Konzerne. Sie gibt Trainings, hält Konferenzvorträge und ist Dozentin für agiles Projektmanagement und Selbstmanagement an der Design Akademie Berlin. Als Erststudierende ihrer Familie mit Migrationshintergrund schreibt sie diesen Gastbeitrag auch aus persönlichem Erfahrungswissen.

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