Diagnose: Ihr Unternehmen ist krank

Leadership

Die meisten Organisationen weisen Symptome wie Machthysterie oder Führungsschizophrenie auf. Es wird Zeit, die Ursachen zu behandeln.

Gesunde Mitarbeiter – Gesundes Unternehmen“ – so einfach ist es leider nicht. Doch dieser alte Glaube wirkt. So wird seit Jahrzehnten zunehmend daran gewerkelt, dass Menschen gesund werden und gesund bleiben – von betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) über Yoga-Kurse bis zum Einsatz von Feelgood-Beauftragten. Auch wenn diese Maßnahmen und Strategien mit guter Absicht aufgesetzt sind, vergessen ihre Initiatoren eines: die kranke Organisation.

Es gibt kaum eine Organisation, die nicht infiziert oder zumindest akut gefährdet ist: Kontrollzwang, Machthysterie und Besprechungsdiarrhöe finden sich allerorten. Dabei, so meine Hypothese, müssen wir nur gesunde Organisationen gestalten, dann können auch die Menschen gesund sein, und zwar ohne BGM und Co. Gerade der Personalbereich kann darauf hinwirken, trägt er doch maßgeblich zur Sympto­matik vieler Leiden bei. Ein paar Beispiele gefällig?

1. Führungsschizophrenie

Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen „wie Führung sein sollte“ und „wie Führung gelebt wird“. Eine kleine Gruppe Menschen, angeführt von erfahrenen Personalern, erarbeiten den „richtigen“ Führungsstil und rufen ihn dann aus. Welches Prinzip darf es sein, das dem Unternehmen einen hübschen, modernen Anstrich verleiht? Partizipativ, digital, agil, transaktional oder doch lieber disruptiv?

Was dann passiert, folgt meist einem einfachen Schema. Es werden Folien gestaltet, Schulungstermine gefunden und alle Führungskräfte auf den Führungsstil eingeschworen. Einer für alle, damit die Mitarbeiter wissen, wie hier geführt wird. Die Führungskräfte verinnerlichen die Theo­rie, treffen dann allerdings auf die Realität. Formale und informale Strukturen, Überzeugungen und Menschenbild, alles in der Organisation bleibt beim Alten. Die Art zu führen aber soll anders werden.

Dieser Anspruch macht schizophren. Zum einen setzt er die Führungskräfte in eine ständige Ambivalenz zwischen dem Geforderten und dem Möglichen, zum anderen verringert er das Vertrauen der Mitarbeiter ins Unternehmen, denn es wird (mal wieder) nicht getan, was gepredigt wird. Und drittens folgt das Ganze der Idee, es gäbe den einen richtigen Führungsstil für die gesamte Organisation. Dabei ist Führung ein sozialer Prozess, niemals ein Stil.
Denken Sie lieber über ein komplexitätsgerechtes Verständnis von Führung nach:

  • Schaffen Sie eine Umgebung, in der die Menschen erfolgreich auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten können. Geben Sie ihnen Entscheidungs- und Spielräume, statt auf Vorgaben und Prozesseinhaltung zu pochen. Stellen Sie von individuellen Zielvorgaben auf Teamziele um.
  • Beobachten Sie das System, um Zusammenhänge zu verstehen und Muster zu erkennen.
  • Intervenieren Sie, um Resonanz zu erzeugen, statt zentral steuern zu wollen. Etablieren Sie echte Partizipation und einen offenen Diskurs, um Veränderungsmaßnahmen gemeinsam zu gestalten.
  • Nutzen Sie Feedback als Regelungsinstrument.
  • Setzen Sie auf kollektive Intuition und Intelligenz zur Entscheidungsfindung.
  • Etablieren Sie wenige, aber glasklare Prinzipien, um das Wie der Zusammenarbeit zu regeln.

2. Wertschätzungs-Tourettesyndrom

„Wir gehen respektvoll und wertschätzend miteinander um.“; „Partnerschaftliche und wertschätzende Zusammenarbeit sind uns wichtig.“ So und ähnlich lauten die hoffnungsfrohen Formulierungen, die sich gerne in Leitlinien wiederfinden. In all den vielen Ziele-, Werte- und Kulturworkshops fällt das Wort „Wertschätzung“ mindestens so oft wie „Mahlzeit“ um 12.30 Uhr. Dabei erleidet der Begriff das Schicksal vieler Schlagwörter, denn er ist meist weder definiert noch ernst gemeint.

So verkommt Wertschätzung zum Platzhalter für Ich-Botschaft, Weichspülerei statt Klartext und das Vermeiden von Konflikten und Diskussionen. Wertschätzung ist eine Haltung, kein Rhetorikspiel. Wenn Sie wissen wollen, wie es bei Ihnen wirklich darumbestellt ist, gehen Sie in die Kaffee­küche und beobachten Sie die tatsächliche Kommunikation. Statt Wertschätzungs-Pflaster auf Diskussionen zu kleben, versuchen Sie es doch mal mit Klartext:

  • „Practice what you preach.“
  • Bei allem, was Sie beitragen, fragen Sie sich:
    Ist es relevant?
  • Lassen Sie Konjunktive weg.
  • Klären Sie Begriffe, geben Sie ihnen eine Bedeutung.
  • Besprechen Sie immer nur ein Thema, nicht mehrere gleichzeitig.
  • Argumentieren Sie und vertreten Sie Ihren Standpunkt.
  • Verfolgen Sie das Ziel, Diskussion zu erzeugen.

Verzichten Sie in Ihrer Kommunikation auf „Medikamente“ wie Lob, Feedback-Kultur oder ähnliche Rhetorikspiele, die leicht zum Selbstzweck verkommen und von den Menschen ohnehin durchschaut werden. Halten Sie stattdessen die Gruppendynamiken aus, die entstehen, wenn Sie Diskurs ermöglichen und zulassen. In jeder Organisation sollten die notwendigen Kompetenzen erlernt werden, um offen, konstruktiv, konfliktfähig und diskussionsfreudig miteinander zu arbeiten.

3. Medikamentenmissbrauch

Personalentwicklung, also die vermeintliche Potenzialentfaltungshebamme, bietet gerne viele Seminare, Workshops und Zertifizierungen. Egal ob Führungskraft, Mitarbeiter oder Teams, sie alle scheinen entsprechenden Bedarf zu haben. Dieser wird oft in Jahresgesprächen von der jeweiligen Führungskraft verkündet und dann in Standard­seminaren beim Standardanbieter vermeintlich individuell ausgebessert. Und wenn dann am Jahresende die Personalentwicklung ihre KPIs (Anzahl Seminartage, Besucher der Entwicklungsprogramme oder Ähnliches) erfüllt, sind alle zufrieden. Oder?

Die so „Entwickelten“ meistens nicht. Erstens funktioniert Lernen nicht nach einem Standardschema, und zweitens steht auch hier meist eine falsche Grundannahme dahinter: Wenn jeder Einzelne funktioniert, dann tut es auch das große Ganze. Leider ist das Bild von der Organisation als Maschine mit den Menschen als Rädchen, die nur gut geölt sein müssen, noch in vielen Unternehmen tief im mentalen Modell verankert. All diese Maßnahmen und Schulungstage sorgen für viel Beschäftigung (bitte nicht mit Arbeit verwechseln), verfehlen aber das eigentliche Ziel.

Hören Sie auf zu sinnieren, wie Sie die einzelnen Menschen „funktionstüchtig“ machen können. Schaffen Sie stattdessen Rahmenbedingungen, die Erfolg ermöglichen, und zwar für die Teams. Das ist leichter gesagt als getan, denn es bedarf eines fundamentalen Umdenkens. Dazu hier ein Vorschlag: Misten Sie aus. Dinge, die wegkönnen:

  • Seminarkataloge
  • Weiterbildungsbudgets
  • Auftragscoaching
  • Feelgood Management
  • Standardisierte Teamentwicklungsmaßnahmen
  • Entwicklungsprogamme

Finden Sie gemeinsam mit den Mitarbeitern eine Vereinbarung, die beispielsweise zwei Weiterbildungen pro Jahr und Mitarbeiter vorsieht. Es bleibt dann jedem allein überlassen, wann wo welches Angebot genutzt wird. Es sollte transparent und offen sein, dann ergibt sich innerhalb der Gruppen automatisch eine Regulierung, und vermeintliche „Ausreißer“ werden eingefangen. Behandeln Sie die Menschen wie Erwachsene und lassen Sie sie selbst entscheiden, was zu ihrer Entwicklung notwendig ist.

Gibt es denn eigentlich kein Medikament, das alle Symptome lindert, ein Aspirin Complex für Organisationen? Jein. Nein, weil es kein einfaches Rezept für gesunde, erfolgreiche Zusammenarbeit gibt. Es ist immer eine Frage des konkreten Kontexts. Ja, weil eine Grundmischung „komplexes Denken“ viele Krankheiten lindern beziehungsweise verhindern kann. Konkret bedeutet das: Beobachten Sie Ihre Organisation. Schauen Sie auf Dynamiken, Zusammenhänge und Wechselwirkungen und ermöglichen Sie dann den Diskurs, um Einsichten zu erlangen. Eine gemeinsame Reflexion auf das „Wie wir hier was tun“ ist eine gute Prophylaxe, um eine gesunde Organisation zu gestalten.

Übrigens: Auch “Reputations-Osteoporose” ist eine häufige Unternehmenskrankheit. Hier erfahren Sie, wie sie entsteht und wie Sie ihr vorbeugen.

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Stephanie Borgert, Rednerin, Autorin und Beraterin

Stephanie Borgert

Stephanie Borgert ist Diplom-Informatikerin, Rednerin, Autorin und Beraterin mit Fokus auf komplexe Organisationen und Projekte. In ihrem aktuellen Ratgeber „Die kranke Organisation“ analysiert sie die Grenzen althergebrachter Managementmethoden anhand von Bei­spielen aus der Unternehmenspraxis und liefert Behandlungsansätze.

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