Die Krise der Organisationen

Personalmanagement

Viele Menschen fühlen sich in ihrem Unternehmen fremdbestimmt. Die Sehnsucht nach einer anderen Art des Arbeitens ist groß. Eine Provokation.

Die Organisation ist in der Krise. Und das schon seit längerer Zeit. Ich spreche vor allem von Unternehmen – und zwar von denjenigen, die schon etabliert sind. Das durchschnittliche Unternehmen mit seinen festen Prozessen und hierarchischen Strukturen, mit seiner Bürokratie und den Richtlinien, den Stellenbeschreibungen, den Beurteilungssystemen und Mitarbeitergesprächen, den Meetings und dem ganzen Miteinander – das durchschnittliche Unternehmen, es ist in der Krise. Damit meine ich nicht, dass sie es schwer haben, weil die Märkte nun dynamisch sind und die Organisationen zu starr, sondern dass die Unternehmen, wie wir sie heute vorfinden, und der Mensch nicht zusammenpassen. Oder anders gesagt: Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit mit den Unternehmenssystemen, denn sie ignorieren die Individualität jedes Einzelnen, nehmen ihm Autonomie und überfordern ihn. Führungskräfte und Mitarbeiter fluchen über zu viele Meetings und Reports, zu viel Arbeit, unsinnige Prozesse und suchen mehr Erfüllung. Jahr für Jahr gibt es Studien mit dem Tenor: Die Mehrheit der Mitarbeiter ist unzufrieden mit ihrem Vorgesetzten. Und die Führungskräfte sagen laut Studien wie „Führungskultur im Wandel“ selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Sie kritisieren eine seit Jahren bestehende Fehlentwicklung der Führungskultur. Die Führungskräfte fühlen sich selbst ohnmächtig im Unternehmenssystem.

Wir reden viel von Selbstorganisation und flachen Hierarchien. Doch laut Aussage des Managementberaters Reinhard Sprenger hat die Verengung von Freiräumen in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. „Man kann fast von einem Vertreiben des Menschen aus der Organisation sprechen. Das Maß dessen, was genormt, normiert und ihm vorgeschrieben wird, spiegelt jedenfalls ein explodierendes Kontrollbedürfnis“, wie er einmal im Interview mit dem Human Resources Manager sagte. Sprenger spricht gar von einer „Erniedrigungsbürokratie“.

Übertreibt er? Vielleicht spitzt Sprenger zu. Doch es gibt bei einem großen Teil der Menschen eine Sehnsucht nach einer anderen Art des Arbeitens. Viele junge Menschen ziehen mittlerweile Startups den Konzernen vor, weil sie hoffen, dort diese andere Art zu finden. Sie folgen damit meist dem Wunsch, einer Arbeit nachzugehen, die ihnen mehr Freiheit ermöglicht und in die sie sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen können. Keine Maske tragen müssen, keine politischen Spielchen spielen. Eine Arbeit machen, in der man nicht nur der Stelleninhaber xy ist – eine Nummer, austauschbar. Sondern wo man mit anderen, egal ob Chef oder Kollege, auf Augenhöhe diskutiert und zusammenarbeitet, selbstbestimmt und ohne Angst. „Das Leben in Organisationen erfahren wir zunehmend als desillusionierend“, schreibt Frederic Laloux in „Reinventing Organizations“. Und auch er sagt, dass es keine Rolle spielt, wo man in der Pyramide steht. „Hinter der Fassade und dem Prunk besteht auch das Leben mächtiger Führungskräfte aus stillem Leiden. Ihre hektische Geschäftigkeit ist oft ein schlechter Deckmantel für ein tiefes Gefühl innerer Leere.“

Unternehmen versuchen die Quadratur des Kreises

Warum war das Buch „Reinventing Organizations“, als es 2014 erschien, eigentlich so ein großer Erfolg? Der Autor Frederic Laloux war zehn Jahre lang selbst als Unternehmensberater Teil einer Organisation. Danach machte er sich selbstständig, wie so viele, die die Organisationsstrukturen irgendwann eher als Belastung denn als Bereicherung empfunden haben. Das Buch, das er später schrieb, und das neue Formen der Organisationsführung aufzeigt, gibt besagter Sehnsucht eine Stimme. Eine Sehnsucht nach „beseelten Organisationen“, wie er schreibt.

Man mag sein Werk als etwas esoterisch abtun. Doch Laloux hat womöglich Recht, wenn er sagt, dass etwas in der Luft liegt, was Organisationsformen und Unternehmensführung betrifft. Gibt es einen Gegentrend? Dies kann man eindeutig bejahen, wenn man den Verlautbarungen der Vorstände deutscher Unternehmen Glauben schenkt. Schließlich ist viel die Rede von Dezentralisierung, unternehmerischem Denken und Freiheit. Doch häufig versucht man die Quadratur des Kreises: die Verbindung einer auf Autonomie und Zusammenarbeit basierenden Unternehmenskultur mit Prozessen und Richtlinien, die eine von Effizienz und Kontrolle geprägte Unternehmensführung unterstützen. Hoffnung ist trotzdem berechtigt. Doch die Veränderung, die in der Luft liegt, wird nicht aufgrund der Einsicht passieren, endlich beseelte Organisationen zu schaffen. Sondern einzig und allein aus dem Verlangen heraus, nicht unterzugehen als Unternehmen.

Führung war niemals wichtiger als heute

Google, Facebook und andere digitale Kreativunternehmen machen Eindruck auf deutsche Firmenlenker, unter anderem weil sie ihren Techies viele Freiheiten geben – wenn diese bereit sind, alles für die „Familie“ zu geben, für die Google- oder Facebook-Familie. Die Digitalisierung der Geschäftsmodelle macht es in der Regel nötig, Entscheidungen so dezentral wie möglich zu treffen. Und ja, Mitarbeiter können häufiger als früher auch mal von zuhause arbeiten. Doch der Arbeitsdruck – das lässt sich von verschiedenen Seiten vernehmen – ist weiterhin hoch. Und die Gefahr, in die Beschleunigungsfalle zu tappen als Unternehmen, und den Druck der Märkte einfach nach unten weiter zu reichen, ist größer denn je. Alles wird schneller, wir müssen lernen, noch flexibler zu sein.

Deshalb ist die Bedeutung von Führung niemals so groß gewesen wie heute. Eine Führung, die erkennt, wann eine Organisation gefordert ist und wann Tempo herausgenommen werden muss. Leider kennen die zweite Alternative nur die wenigsten CEOs.

Oft ist unklar, was sich hinter dem viel zitierten Begriff der Agilität eigentlich verbirgt. Doch richtig ist: Es gibt eine agile Bewegung. Und agile Methoden wie Scrum, Design Thinking, Kanban oder zumindest hybride Formen davon, verbreiten sich in der deutschen Unternehmenslandschaft rasant – längst über die Softwareentwicklung hinaus. Vergessen wird dabei häufig aber, dass agile Methoden mit bestimmten Werten einhergehen und die Grundlage ein positives Menschenbild ist. Zum Beispiel spielt Vertrauen eine zentrale Rolle.

Sie kennen vielleicht das agile Manifest? In diesem sind zwölf Prinzipien der agilen Softwareentwicklung verfasst und eines davon lautet: „Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgaben erledigen.“ So lautet zumindest die reine Lehre. In deutschen Unternehmen ist es sicherlich auch möglich, agil Software zu entwickeln und dennoch komplizierte Freigabe- und Genehmigungsprozesse für wichtig zu halten.

Nichtsdestotrotz denke ich, dass die agile Herangehensweise hinsichtlich der Lösung komplexer Probleme den Menschen mit der Organisation versöhnen könnte – wenn der Mensch fähig ist, eigenverantwortlich und selbstorganisiert zu arbeiten. Wichtig ist gleichzeitig eine Unternehmensführung, die nicht nur die Umsatz- und Renditesteigerung als Vision ausgibt, sondern sich bemüht, wirklichen Sinn zu stiften. Und die ihren Unternehmenszweck nicht nur in der Befriedigung von Kundenbedürfnissen sieht, sondern auch in zufriedenen Mitarbeitern. Dann besteht Hoffnung – zumindest für Entwickler, Ingenieure und andere gefragte Wissensarbeiter, von deren Können der Firmenerfolg abhängt. Für die Mehrheit der anderen gilt: Nicht verzagen. Nach 17 Uhr gibt es auch ein Leben.

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Jan C. Weilbacher

Jan C. Weilbacher

Head of Communications
HRpepper
Jan C. Weilbacher ist Senior Consultant und Kommunikationsmanager bei HRpepper Management Consultants. Davor war er sieben Jahre Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager. Vor kurzem erschien sein Buch „Human Collaboration Management. Personalmanager als Berater und Gestalter in einer vernetzten Arbeitswelt“. Twitter: @JWeilbacher

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