Eine Gefahr für die gute Führung

Leadership

Jedes Jahr aufs Neue müssen Führungskraft und Mitarbeiter antreten, um ein nach einem Leitfaden orientiertes Gespräch zu führen. Das passt kaum noch zu einer Arbeitswelt, in der es auf Vertrauen und die Kommunikation auf Augenhöhe ankommt.

Es ist gut, wenn Mitarbeiter und Führungskräfte miteinander sprechen. Es ist noch besser, wenn sie dies ab und an auf professionelle und halbwegs strukturierte Weise tun. Gespräche helfen, wechselseitiges Vertrauen aufzubauen und gegenseitige Erwartungen zu klären. Lernen erfordert Feedback. Feedback erfordert den Dialog. Wer als Führungskraft seine Mitarbeiter wertschätzt, spricht auch mit ihnen.

Und weil wir so sehr an all dies glauben, haben wir das jährliche Mitarbeitergespräch zur Pflicht erklärt. Nicht nur das. Wir haben definiert, wie Gespräche richtig zu führen sind, was relevante Inhalte sind und wie man Ergebnisse dokumentiert. Wir haben Führungskräfte mit Schulungen, Formularen, Leitfäden umfassend dazu befähigt, jährliche Mitarbeitergespräche so zu führen, wie wir uns das ausgedacht haben. Dabei haben wir uns von meist unausgesprochenen Annahmen leiten lassen: „Es ist eine zentrale Führungsaufgabe, Mitarbeitern regelmäßig Feedback zu geben“, „Erwartungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern müssen im Dialog bestimmt werden“, „Führungskräfte können die Leistung und Kompetenzen einzelner Mitarbeiter am besten beurteilen“, „Die Führungskraft ist am besten in der Lage mit einem Mitarbeiter seine Entwicklungsbedarfe zu klären“, „Es ist die Aufgabe einer Führungskraft, übergeordnete Ziele über den gemeinsamen Dialog nach unten zu übersetzen“.

Leitfäden machen Chefs zu Richtern

Steht hinter all dem nicht ein zutiefst hierarchisches Verständnis von Führung und Organisation? Der Boss mit formaler und fachlicher Überlegenheit. Zielvereinbarung gepaart mit Beurteilung – Weisung und Kontrolle. Die (arbeitsteilige) Ausrichtung der Einzelleistung auf die Gesamtstrategie, von oben nach unten. Die meisten von uns haben den großen Managementvordenker Douglas McGregor schätzen gelernt. Natürlich haben wir uns seiner Theorie Y verschrieben, wonach Menschen von Natur aus intrinsisch motiviert sind und selbstständig Verantwortung übernehmen wollen. Durch unsere gut gemeinten Führungsinstrumente wie dem jährlichen Mitarbeitergespräch handeln wir aber im gegensätzlichen Sinne. Wir zwingen Führungskräfte dazu nicht nur ihre Mitarbeiter zu beurteilen, sondern diese Urteile auch zu dokumentieren und an eine zentrale Stelle weiterzuleiten. Damit wird über das künftige Gehalt und sogar über die Zukunft des Mitarbeiters insgesamt entschieden. Indem wir Führungskräfte dazu zwingen, machen wir sie zu Richtern. Dabei wünschen wir uns zunehmend Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter coachen, partnerschaftlich, auf Augenhöhe. Wir wünschen uns ein Verhältnis zwischen Mitarbeiter und Führungskraft, dass auf wechselseitigem Vertrauen basiert und weniger auf formaler Macht und Überlegenheit.

Das sollten wir auch, weil unsere moderne Arbeitswelt aufgrund ihrer zunehmenden Komplexität, Unsicherheit und Dynamik nichts anderes mehr zulässt. Die Innovationskraft, Veränderungsfähigkeit und somit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen braucht weniger Bosse sondern mehr Coaches, Mentoren und Befähiger, die partnerschaftlich führen. Nun hat unser geschätzter McGregor schon vor über 50 Jahren zu Recht gesagt, dass die Rolle eines Coaches und die eines Richters nicht miteinander kompatibel sind. Indem wir mit dem jährlichen Mitarbeitergespräch Führungskräfte zu Richtern machen, verhindern wir Coaches, die unsere Unternehmen so dringend benötigen.

Formale Leistungsbeurteilung ist bedrohlich

Führungskräfte, die partnerschaftlich führen, spüren diesen Konflikt. An 364 Tagen im Jahr führen sie mit Vertrauen, auf Augenhöhe. Sie richten ihren Fokus weniger auf die individuelle Leistung Einzelner, sondern auf die gemeinsame Verantwortung im Team. Dabei sehen sie sich als Teil des Teams. Aber dann, an diesem einen Tag im Jahr, an dem das jährliche Mitarbeitergespräch ansteht, sind sie aufgefordert, sich das Gewand des Richters anzulegen. Sie wissen, dass sie am Ende ein ausgefülltes Formular abzuliefern haben, dessen Inhalte über die Zukunft des Mitarbeiters entscheiden. Wer das Jahr über partnerschaftlich führt, wird nun alle Energie darauf aufwenden, die Bedrohung dieser häufig als skurril erlebten Prozedur im Zaum zu halten. Man ist sich bewusst, dass eine formale Leistungsbeurteilung den offenen Dialog nicht nur im Moment verhindern, sondern auch dauerhaft gefährden kann. Sie wollen Coach sein, Partner, Befähiger, aber die Personalabteilung verlangt den Richter. Eine beinahe unlösbare Herausforderung. Es klingt grotesk, aber die Gefahr ist groß, mit einem gut gemeinten Führungsinstrument wie dem jährlichen Mitarbeitergespräch gute und zeitgemäße Führung zu gefährden.

Der traditionelle Boss oder Herrscher in einer hierarchischen Welt hat mit dem jährlichen Mitarbeitergespräch hingegen kein Problem. Das Gespräch so durchzuführen, wie es in den Leitfäden vorgegeben ist, entspricht seinem Führungsverständnis und seiner Gehorsamspflicht. Dem Coach hingegen entzieht schon der verpflichtende Charakter des jährlichen Mitarbeitergesprächs an sich jede Grundlage für ein vertrauensvolles Gespräch. „Tun wir das, weil wir es wollen oder nur weil wir es müssen?“

Eine kleine Analogie mag dies verdeutlichen:
In Deutschland lebt ein Mann, der seiner Frau seit vielen Jahren an jedem Wochenende Blumen schenkt. Er tut dies, weil er seine Frau von Herzen liebt. Seine Frau weiß diese Geste nicht nur zu schätzen, sondern ist besonders stolz darauf. Er müsste das nicht tun und sie weiß, dass er dies weiß. Das macht diesen wöchentlichen Liebesbeweis so besonders und wertvoll. In Berlin macht sich unterdessen die Bundesregierung zunehmend Sorgen über die wachsenden Scheidungsraten in Deutschland. Scheidungen sind ein gesellschaftliches und sozialpolitisches Problem. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Frage, was Lebenspartner in erfolgreichen Ehen anders machen als Partner in gescheiterten Ehen, beschließt die Regierung ein Gesetz. Das Gesetz schreibt allen Ehemännern in Deutschland vor, ihren Frauen einmal pro Woche einen Blumenstrauß zu schenken. Was wird der liebende Ehemann nun tun? Oder, was tut die Führungskraft als Coach, die von sich aus mit Mitarbeitern spricht und nun formal dazu gezwungen wird?

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