EuGH schränkt gesetzliche Urlaubsverfallregeln weiter ein – auch Scheinselbständigkeitsrisiken steigen

Arbeitsrecht

Einmal mehr hat der EuGH mit einer Entscheidung zum Urlaubsrecht für Aufsehen gesorgt. Diese wird weitereichende Folgen für das deutsche Urlaubsrecht haben und auch die Scheinselbständigkeitsrisiken beim Einsatz von Freelancern & Co. weiter verschärfen.

So entschied er mit Urteil vom 29. November 2017 auf ein sogenanntes Vorlageersuchen des Court of Appeal (England & Wales), dass Ansprüche auf bezahlten Urlaub auch bei entgegenstehenden gesetzlichen Regelungen bis zum Zeitpunkt der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln sind, wenn die Ansprüche zuvor wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind (Rs. King / The Sash Window Workshop Ltd. u.a. (C-214/16)).

Über 24 Wochen (!) an angesammeltem Urlaub: Verfall oder Nicht-Verfall?

Die The Sash Window Workshop Ltd. („SWW“) hatte einen (vermeintlich) Selbständigen, Herrn King, seit 1999 für insgesamt 13 Jahre auf Provisionsbasis unter Vertrag. Ein zwischenzeitliches Angebot, als Arbeitnehmer tätig zu werden, lehnte Herr King ab. Ein Recht auf bezahlten Urlaub hatte Herr King nicht, so dass er einen solchen auch nicht nahm. Der Arbeit blieb er nur wenige Tage im Jahr fern.

Nachdem SWW den Vertrag mit Herrn King beendete, klagte er unter anderem für 13 Jahre die Vergütung des nicht gewährten beziehungsweise nicht bezahlten Urlaubs ein. Er berief sich darauf, Arbeitnehmer gewesen zu sein, so dass ihm nach dem nationalen Urlaubsrecht, welches die EU-Richtlinie 2003/88/EG umsetzt, bezahlter Urlaub zugestanden habe.

Die englischen Gerichte stellten fest, dass Herr King tatsächlich die Arbeitnehmereigenschaft erfüllte, also scheinselbständig war. Bis zuletzt blieb jedoch strittig, ob SWW auch den Urlaub vergüten muss, der eigentlich nach nationalem Recht verfallen ist (also ähnlich wie bei § 7 III BUrlG). Insgesamt standen über 24 Wochen (!) im Raum.

Herr King meinte, die Verfallregeln greifen hier nicht. Er habe den Urlaub nur deshalb nicht genommen, weil SWW diesen nicht vergütet hätte. Dazu berief er sich auf die Schultz-Hoff-Entscheidung, in welcher der EuGH im Jahr 2009 unter Bezugnahme auf die RL2003/88/EG entschieden hatte, dass nationale Verfallregeln gegen Unionsrecht verstoßen, wenn sie einen Verfall von Urlaubsansprüchen auch dann vorsehen, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub krankheitsbedingt nicht nehmen konnte (EuGH, Urteil vom 20. Januar 2009 – C-350/06 und andere). Der Court of Appeal rief schließlich den EuGH an und fragte ihn, inwieweit die englischen Urlaubsregeln vorliegend mit Unionsrecht vereinbar sind.

EuGH: Kein Verfall, auch nicht nach 15 Monaten!

Die Entscheidung kommt einem Paukenschlag gleich. Der EuGH entschied, dass sich der Arbeitgeber dann nicht auf die gesetzlichen Verfallregeln berufen kann, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub deshalb nicht nahm, weil der Arbeitgeber sich weigerte, den Urlaub zu vergüten. Weiter – und dies steigert die Brisanz – soll der Urlaub auch nicht etwa nach 15 Monaten verfallen, wie es der EuGH für den Fall der krankheitsbedingten Nichtnahme des Urlaubs später in der Rechtssache Schulte (EuGH, Urt. v. 22. November 2011 – C-214/10) präzisierte.

Der EuGH begründet die Entscheidung damit, dass der in der RL 2003/88/EG verankerte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts anzusehen sei. Wer im Unklaren darüber sei, ob er für Urlaub ein Entgelt bekomme, sei nicht in der Lage, den genommenen Urlaub zur Entspannung und Freizeit zu nutzen. Wer damit rechnen müsse, kein Urlaubsentgelt zu erhalten, werde ggf. auch davon abgehalten, Urlaub zu nehmen. Der Urlaubsanspruch verfalle auch nicht etwa nach 15 Monaten. Denn eine derartige Auslegung führe zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers und liefe dem Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwider.

7 III BUrlG hilft nicht; arbeitsvertragliche Klauseln schon – jedenfalls ein bisschen

Das Urteil wird erhebliche Auswirkungen für das deutsche Urlaubsrecht haben, v.a. bezüglich der Auslegung des § 7 III BUrlG, der nach seinem Wortlaut eigentlich spätestens zum 31.3. des Folgejahres einen Verfall von Urlaubsansprüchen vorsieht. Doch nicht nur wenn krankheitsbedingt der Urlaub nicht genommen wird, gilt etwas anderes, sondern nun auch im Falle der „Weigerung des Arbeitgebers, den Urlaub zu vergüten“. So können sich immense Urlaubsansprüche ansammeln. Die interessante Frage ist, wann sich ein Arbeitgeber in diesem Sinne weigert, Urlaub zu vergüten, insbesondere ob diese Voraussetzung sogar schon dann gegeben ist, wenn der Arbeitgeber nicht darauf hinwirkt, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub tatsächlich nimmt.

Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist dies ein Grund mehr, im Arbeitsvertrag zwischen zwingendem Mindesturlaub und übergesetzlichem Urlaub zu differenzieren. Denn die EuGH-Entscheidung betrifft nur den in der RL 2003/88/EG verankerten Mindestjahresurlaub (vier Wochen), so dass der zusätzlich gewährte Urlaub eigenen Regeln zu Verfall etc. unterworfen werden kann.

Bei Freelancern & Co.: Compliance, Compliance, Compliance

Beim Einsatz von Freelancern & Co. helfen derartige Klauseln nicht. So gehört es zum Wesen der Selbständigen, dass diese keinen Urlaubsanspruch haben. Denn ein solcher – das ist das Paradoxe – würde wiederum ihre Arbeitnehmereigenschaft und Abhängigkeit indizieren. Compliance ist also das A & O, wenn Risiken beim Einsatz von Selbständigen vermieden werden sollen. Nicht nur große, auch kleine Unternehmen sollten sich klare Vorgaben zum Einsatz von Selbständigen und anderem Fremdpersonal geben. Ohne solche Regeln zur Fremdpersonal-Compliance ist ein Einsatz von Freelancern & Co. kaum noch vertretbar, wie die EuGH-Entscheidung weiter untermauert. Brisant ist dabei auch, dass Fragen der Verjährung völlig ungeklärt sind. Es kann also durchaus auch ehemalige Selbständige geben, die noch für die Vergangenheit Urlaubsansprüche durchsetzen werden.

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Franziska von Kummer, Foto: Michael Fahrig Berlin

Franziska von Kummer

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht
BEITEN BURKHARDT Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Franziska von Kummer ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht bei Beiten Burkhardt.
Henrik Lüthge, Foto: Beiten Burkhard

Henrik Lüthge

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht
BEITEN BURKHARDT Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Henrik Lüthge ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Beiten Burkhardt.

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