Fachkräftemangel: Wenn das Gras des Nachbarn grüner ist

Recruiting

1,1 Millionen offene Stellen gibt es aktuell in der deutschen Wirtschaft – Tendenz steigend. Der Hauptgrund: Fachkräftemangel. Doch wie kann man dem entgegensteuern? Hier hilft ein Blick nach Österreich.

Besonders Deutschlands kleine und mittelständische Unternehmen leiden unter dem wachsenden Fachkräftemangel. Sie kämpfen mit einer enormen Auftragslast, der sie aufgrund des fehlenden Personals nicht mehr entsprechen können. Laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sehen 56 Prozent der deutschen Unternehmen den Mangel an qualifizierten Mitarbeitern als das größte Geschäftsrisiko an. Zusätzlich gilt er für knapp die Hälfte als starkes Investitionshemmnis, so das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die Folge: Potenziale können nicht ausgeschöpft werden und das Wirtschaftswachstum wird gebremst.

Doch wo bleiben die gesuchten Arbeitskräfte? Heutzutage häufig noch in den Hörsälen der Universitäten. Immer mehr Schüler machen Abitur und nehmen anschließend ein Studium auf. Das klassische deutsche Ausbildungssystem hingegen wirkt insgesamt weniger attraktiv. Die fehlende Flexibilität und Durchlässigkeit sowie die geringen Weiterbildungs- und Aufstiegschancen halten viele Schüler davon ab, sich für einen Ausbildungsberuf zu entscheiden.

Österreichs durchlässiges Ausbildungssystem

Prinzipiell ähnelt das österreichische Ausbildungssystem dem deutschen, es eröffnet jedoch mehr Perspektiven und ist dadurch attraktiver. Die derzeit rund 200 Ausbildungsberufe werden mit Unterstützung der Politik stetig weiterentwickelt, um zukünftigen Anforderungen zu entsprechen. So sind ab Sommer 2018 sieben neue und sechs überarbeitete Lehrberufe mit dem Fokus auf Digitalisierung geplant, darunter der E-Commerce-Kaufmann/-frau und der Medienfachmann/-frau. Neben zeitgemäßen Inhalten locken die Lehrberufe in Österreich auch mit Initiativen, wie „Lehre mit Matura“. Damit kann jeder Auszubildende zusätzliche Kurse belegen und so eine Hochschulzugangsberechtigung erlangen. Die Lehre stellt so eine praktische Alternative zur klassischen Matura, dem österreichischen Pendant des deutschen Abiturs, über die höhere Schulausbildung dar.

Auch für Ingenieure ist das System flexibler. Anders als in Deutschland ist der Ingenieurstitel nicht nur Hochschulabsolventen vorbehalten. Zu erlangen ist er entweder über eine vierjährige technische Ausbildung an einer Fachschule oder mit Hilfe eines Abschlusses von einer Höheren Technischen Lehranstalt (HTL). Dort erhalten Schüler von den Klassen 9 bis 13 eine praxisnahe Ausbildung durch Lehrer aus der Wirtschaft, die mit einer Reife- oder Diplomprüfung abschließt und in ganz Europa mit einer universitären Ausbildung gleichgesetzt ist. Nach drei Jahren Berufspraxis kann den Absolventen einer HTL schließlich der Ingenieurstitel verliehen werden.

Noch mehr Ausbildungsformate können in Österreich an die Hochschule führen, zum Beispiel der Meistertitel: Neben der Übernahme von Führungspositionen und der Gründung von Unternehmen qualifiziert er auch zur Aufnahme eines Studiums. Weil der Meister seit 2016 europaweit mit dem Bachelorabschluss gleichgestellt ist, gilt das auch für Deutschland. In Österreich berechtigt aber zusätzlich auch der Abschluss an einer berufsbildenden höheren Schule (BHS), an der innerhalb von fünf Jahren fundiertes Allgemein- und Berufswissen vermittelt wird, neben dem direkten Berufseinstieg auch zum Zugang zur Universität.

Den Erfolg des österreichischen Ausbildungssystems belegen die Zahlen. Während laut IW in Deutschland viele Jugendliche nach ihrer Ausbildung nicht direkt in die Berufswelt integriert werden, finden 75 Prozent aller Lehrlinge in Österreich nach ihrem Abschluss sofort einen Arbeitsplatz. Die Arbeitslosenquote bei Lehrabsolventen liegt dort bei gerade einmal 5,3 Prozent, so Statistik Austria.

Was kann Deutschland davon lernen?

Das österreichische Ausbildungssystem ist ein generell durchlässigeres System, das von der gezielten Zusammenarbeit zwischen Schulen und Wirtschaft stark profitiert. Es ermöglicht nicht nur ein breites Spektrum an Berufsmöglichkeiten, sondern eröffnet vielmals den Zugang zur Universität. Deutschlands System dagegen ist konservativ und bietet neben der klassischen betrieblichen Ausbildung kaum Alternativen. Was früher einmal gut funktioniert hat, wirkt heute zu festgefahren und wenig attraktiv. Nicht nur, dass einige Ausbildungsberufe eine geringe Wertschätzung erfahren, sie bieten in der Regel auch begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist es längst nicht mehr so, dass man ein Leben lang den gleichen Beruf im gleichen Unternehmen ausübt. Die sich wandelnde Wirtschaft fordert flexible Arbeitskräfte, die zudem ihren Arbeitsplatz sowohl in der physischen als auch der digitalen Welt verorten.

Um dem steigenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, müssen auch die Unternehmen aktiv werden. Die Digitalisierung der Wirtschaft und komplexere Wertschöpfungsketten stellen berufliche Anforderungen auf den Kopf – Interdisziplinarität ist gefragt. Darauf reagieren die österreichischen Unternehmen konsequent: Betriebliche Weiterbildungen, geförderte Auslandsaufenthalte oder sogar Spezialisierungsmaßnahmen in zukunftsorientierten Bereichen wie Robotik machen Mitarbeiter für die digitale und vernetzte Wirtschaft fit. Große Unterstützung bietet hier mit maßgeschneiderten Kursen der Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFI) der Wirtschaftskammer. Insgesamt leisten die österreichischen Wirtschaftskammern hier einen wichtigen Beitrag: In enger Zusammenarbeit mit dem Arbeitsmarktservice Österreich, dem führenden Arbeitskräftevermittler im Land, helfen sie Unternehmen dabei, die passenden Fachkräfte zu rekrutieren. Diesem Beispiel folgend sollten deutsche Unternehmen investieren und etwa mit Förder- und Weiterbildungsmöglichkeiten nicht nur die Attraktivität der Berufsbilder, sondern insbesondere deren Perspektive und Entwicklungspotenzial steigern. Auf diese Weise können sich Deutschlands Unternehmen ihre qualifizierten Mitarbeiter selbst schaffen und so dem Fachkräftemangel entgehen.

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Friedrich Schmidl, Foto: ABA-Invest in Austria

Friedrich Schmidl

Direktor Deutschland Nord
ABA – Invest in Austria
Friedrich Schmidl ist Direktor Deutschland Nord bei der österreichischen Betriebsansiedlungsagentur ABA – Invest in Austria.

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