Fahrzeit ist Arbeitszeit

Arbeitsrecht

Nach einem Entscheid des Europäischen Gerichtshof (EuGH) sind Fahrten von Arbeitnehmern ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort von ihrem Wohnort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück zum Wohnort Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Damit wurde die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bestätigt.

Das hat der EuGH mit Urteil vom 10.9.2015 (Az. C-266/14, „Tyco“) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens auf Vorlage des spanischen Audiencia Nacional (Nationales Gericht, das unter anderem für arbeitsrechtliche Angelegenheiten, die das gesamte Staatsgebiet betreffen, zuständig ist) entschieden.

Bis zu hundert Kilometer täglich

Tyco beschäftigt Servicetechniker, die in ganz Spanien Sicherheitssysteme in privaten und gewerbichen Einrichtungen installieren und warten. Zunächst betrieb Tyco mehrere Regionalzentren; dort übernahmen die Servicetechniker morgens ihre Firmenfahrzeuge und fuhren zu den jeweiligen Einsatzorten bzw. Kunden; abends stellte sie die Fahrezeuge wieder im Regionalzentrum ab. 2011 schloss Tyco alle Regionalzentren und konzentrierte jegliche Administration in Madrid. Seitdem erhalten die Servicetechniker ihre Anweisungen für die einzelnen Arbeitstage am Vortag elektronisch aus Madrid; mit ihrem Firmenfahrzeug fahren sie direkt von zuhause zum ersten Kunden und vom letzten Kunden wieder nach Hause zurück. Dabei bewältigen sie manchmal Distanzen von über 100 Kilometer; verkehrsabhängig können die Reisezeiten zwischen Wohnort und Kunde bis zu drei Stunden betragen.

Vor Schließung der Regionalzentren hatte Tyco die Fahrzeiten von dort zum ersten Kunden des Tages beziehungsweise vom letzten Kunden zurück in das Regionalzentrum als Arbeitszeit berechnet, nach der Schließung jedoch nur noch die Zeit zwischen dem Beginn des ersten Kundentermins bis zu dem Ende des letzten Kundentermins. Streitig war, ob die Fahrzeit von zuhause zum ersten Kunden sowie abends vom letzten Kunden zurück nach Hause Ruhezeit sei – so Tyco – oder Arbeitszeit.

Definition laut EU-Richtlinie

In ständiger Rechtsprechung defininiert der EuGH Arbeitszeit im Sinne der EU-Arbeitszeitrichtlinie als „jede Zeitspanne […], während deren ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Davon ausgehend hat er im hier entschiedenen Fall das Vorliegen von Arbeitszeit bejaht. Erstens seien die Fahrten das notwendige Mittel, damit die Servictechniker ihre Leistungen bei den Kunden erbringen können. Daran habe sich nach Schließung der Regionalzentren nichts geändert, nur der Ausgangspunkt der Fahrten habe sich verändert. Beschränke man die Arbeitszeit auf die reine Tätigkeit beim Kunden, würde der Arbeitszeitbegriff verfälscht und das Richtlinienziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Abeitnehmer beeinträchtigt.

Zweitens unterstünden die Techniker während der Fahrten dem Weisungsrecht von Tyco, die Kundenreihenfolge könne jederzeit geändert und Termine gestrichen oder hinzugefügt werden. Während der erforderlichen Fahrzeit hätten die Arbeitnehmer keine Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und eigenen Interessen nachzugehen. Demnach stünden sie Tyco zur Verfügung, weshalb Arbeitszeit vorliege. Dass ein Techniker während der Fahrzeit persönlichen Beschäftigungen nachgehen könne, ändere hieran nichts; es sei Sache von Tyco, etwaige Missbräuche durch erforderliche Kontrollinstrumente zu verhindern.

Drittens gehörten Fahrten untrennbar zum Wesen eines Arbeitnehmers ohne festen Arbeitsort, so dass der Arbeitsort nicht auf die Orte physischer Tätigkeit beim Kunden beschränkt werden könne. Beginn und Ende der Fahrten am Wohnort stünden dem nicht entgegen, dies sei unmittelbare Folge der Schließung der Regionalzentren und keine eigene Willensentscheidung der Techniker.

Abschließend hebt der EuGH hervor, dass Tyco die Vergütung für die Fahrzeit Wohnort – Kunde frei bestimmen könne, da die Arbeitszeit-Richtlinie grundsätzlich keine Anwendung auf die sich nach nationalem Recht bestimmende Vergütung der Arbeitnehmer finde.

Hinweise für die Praxis

Das Urteil entspricht der Rechtsprechung des BAG zu Außendienstmitarbeitern (vgl. zuletzt BAG, Urt. v. 22.4.2009, 5 AZR 292/08). Danach gehört die Reisetätigkeit insgesamt zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten, wenn das wirtschaftliche Ziel der gesamten Tätigkeit darauf gerichtet ist, verschiedene Kunden zu besuchen.

Arbeitszeitrechtlich folgt daraus, dass die Fahrzeiten bei dieser Arbeitnehmergruppe Teil der täglich zulässigen Höchstarbeitszeit sind. Das ist, auch mit Blick auf die zwingenden Ruhepausen nach dem Arbeitszeitgesetz, bei der Auftragsplanung ebenso zu berücksichtigen wie bei der Kosten- und Personalkalkulation.

Vergütungsrechtlich können die Fahrzeiten niedriger vergütet werden als die eigentliche (Haupt)Tätigkeit, doch bildet der seit dem 1.1.2015 geltende Mindestlohn auch für diese Fahrzeiten die Untergrenze.

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Axel J Klasen, Foto: Privat

Axel J. Klasen

Axel J. Klasen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei GvW Graf von Westphalen.

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