Flache Hierarchien und bedrohte Platzhirsche

Leadership

Flache Hierarchien gelten als das Nonplusultra der modernen Personalführung. Mit dem Chef per Du zu sein, ist jedoch nicht für jeden etwas. Manch altgedienter Mitarbeiter verweigert sich der neuen Unternehmenskultur – aus Furcht vor dem Statusverlust.

Im Jahr 2007 befasste sich das Landesarbeitsgericht Hamm mit einer kuriosen Klage: Ein 45-jähriger H&M-Mitarbeiter hatte gegen seinen Arbeitgeber geklagt, weil er nicht mehr geduzt werden wollte. Er arbeitete als Abteilungsleiter in einem Geschäft für Herrenoberbekleidung. Das schwedische Unternehmen hatte den Laden übernommen und die Umgangsformen gelockert. Zunächst ertrug der Mitarbeiter die Umstellung aufs Du – bis es ihm reichte und er vor Gericht zog: Das Duzen verletze sein Persönlichkeitsrecht.

Das Landesarbeitsgericht Hamm wies die Klage ab. Zwar ist der Fall zwölf Jahre alt, aber er zeigt: Nicht jede Führungskraft kommt damit klar, wenn im Unternehmen ein frischer Wind weht. Das ist auch heute noch aktuell. Alle reden von flachen Hierarchien, Agilität, kurzen Entscheidungswegen. Die Realität in der deutschen Unternehmenslandschaft sieht in so manchem großen Konzern oder alteingesessenem Mittelstandsbetrieb aber immer noch ganz anders aus: Dort gibt es oft feste Strukturen, die über Jahrzehnte gewachsen und nahezu in Stein gemeißelt sind. Die Hierarchieebenen sind festgelegt, Führungskräfte sitzen in Einzelbüros und wenn eine Entscheidung ansteht, kann der einfache Angestellte diese nur an seinen Abteilungsleiter weiterreichen. Der muss sich im Zweifel mit einem Manager abstimmen, der bei großen Deals wiederum die Zustimmung der Geschäftsleitung braucht. Interne Abstimmungen ziehen sich so oft über Wochen hin – so lange, bis sie auch die letzte und höchste Führungskraft abgenickt hat.

Nicht jeder ist gern per Du

Solche Strukturen aufzubrechen und einen Hauch von Silicon Valley ins Unternehmen zu bringen, wird oft zur Herausforderung: Wenn aus Einzelbüros in der Führungsetage Großraumbüros auf der Open-Space-Fläche werden, aus voneinander abgeschotteten Abteilungen flexible Teams entstehen und sämtliche Kollegen den Geschäftsführer nicht mehr mit „Herrn Dr. Meier“, sondern als „Peter“ anreden, gefällt das nicht jedem.

Ein fiktiver Fall: Ein großer, internationaler Konzern will seine Unternehmens- und Führungskultur radikal ändern. Die Hierarchien verflachen sich. Alle sollen lockerer werden und die Verantwortung untereinander aufteilen statt auf einige wenige Personen. Nur der Abteilungsleiter Karl Schneider hat damit ein Problem. „Es hat doch bisher gut geklappt, warum sollen wir nun alles ändern?“, denkt sich Schneider. Er gibt weiterhin den Platzhirsch, sträubt sich dagegen, das Privileg des Einzelbüros aufzugeben, und möchte von seinen Kollegen weiterhin gesiezt werden. Gegenüber jüngeren Kollegen tritt er autoritär auf, lässt sich von ihnen nichts sagen und zeigt sich in der Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen wenig kooperativ.

Seine Kollegen finden den Umgang mit Schneider schwierig, leben aber damit. Denn der Gang zum Chef fällt vielen schwer. Besonders wenn es darum geht, Probleme gegenüber dem Geschäftsführer oder dem Vorstand anzusprechen. Laut dem Gute-Arbeit-Index des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) trauen sich 44 Prozent aller Beschäftigten in deutschen Unternehmen nicht, Probleme im Betrieb gegenüber den Vorgesetzten anzusprechen. Wenn sie mit dem Vorgesetzten selbst Probleme haben, dürfte es für die meisten von ihnen noch schwieriger sein, darüber zu sprechen.

Oft hapert es bei der Selbstwahrnehmung

Flache Hierarchien sind grundsätzlich zeitgemäß und eine gute Sache, weiß Carsten Schermuly. Er ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der SRH Hochschule Berlin und hat mehrere Bücher zum Thema Arbeitsorganisation geschrieben. Gibt es keine bis kaum eine Rangfolge im Unternehmen, seien die Mitarbeiter meist zufriedener und selbstständiger. Schermuly betont aber auch: Flache Hierarchien sind kein Allheilmittel und eignen sich nicht für jedes Unternehmen. Entscheidend im Umstellungsprozess sei, ob die ehemaligen Führungskräfte beim Wandel mitziehen. Hier kommen Personalmanager ins Spiel: „Die Personalabteilung muss die Abteilungsleiter immer wieder daran erinnern, dass sie nun auch Verantwortung abgeben müssen“, sagt Schermuly. „Vielen fällt das schwerer, als selbst Verantwortung zu übernehmen.“

© privat

„Verantwortung abzugeben und das wiederum zu koordinieren, kann mehr Arbeit bedeuten, als alle Entscheidungen selbst zu treffen.“

Carsten Schermuly, Professor für Wirtschaftspsychologie an der SRH Hochschule Berlin

Das beobachtet auch Gernot Barth. Er ist Leiter des Instituts für Kommunikation und Mediation Leipzig (Ikome-Institut) und arbeitet als Konfliktberater in Unternehmen. Barth rät dazu, Platzhirsche wie den fiktiven Karl Schneider extern zu schulen – am besten ganz weit weg vom Firmenstandort. „So ein Training hilftnur, wenn die Führungskraft dort niemanden kennt und dann ganz offen reden kann“, sagt Barth. „Sonst hat der Manager direkt wieder das Gefühl, den Platzhirsch geben zu müssen.“ Und dann ändert auch die Schulung nichts am Verhalten des sturen Mitarbeiters.

Schnelle Entscheidungswege und mehr Selbstverantwortung für Mitarbeiter klingen in den Ohren vieler Vorgesetzten erst einmal gut. Selbst wenn sie sich gar nicht grundsätzlich gegen flache Hierarchien sträuben, machen sie oft trotzdem weiter wie bisher, weiß Barth: „In vielen Unternehmen verlangen Führungskräfte von ihren Mitarbeitern einen Wechsel, ohne parallel auch ihr eigenes Führungsverhalten zu ändern.“ Personaler haben es im Gespräch mit solchen Chefs nicht unbedingt leicht – ein großes Problem: „Manchen Führungskräften ist gar nicht bewusst, dass sie vielleicht ihr Selbstverständnis, aber nicht ihre Arbeitsweise geändert haben“, erklärt Barth. Die Vorgesetzten denken also, sie hätten sich an die neue Unternehmenskultur angepasst – die Wahrheit sieht aber anders aus.

Kommunikation ist alles

Damit der Wandel im eigenen Unternehmen Erfolg hat, müssen Personalabteilungen sich in Geduld üben, sagt Konfliktberater Barth: „Menschen sind Gewohnheitstiere. Bis sie ihr Verhalten ändern, können Jahre vergehen.“ Der Umbau von einer strengen zu einer flachen Hierarchie kann seiner Erfahrung nach zwischen zwei und fünf Jahren dauern. Wenn sich in dieser Zeit interne Konflikte anbahnen, sollten Personaler direkt eingreifen und nicht warten, bis diese aus dem Ruder laufen, mahnt Barth. „Führungskräfte melden sich nur selten, wenn sie ein Problem haben, weil sie keine Schwäche zeigen wollen.“ Der Tipp des Konfliktberaters: Personaler müssen die Ohren spitzen. Denn wie Kollegen mit- und übereinander reden, verrate viel über interne Rangordnungen. „Wenn Kollegen sich gegenseitig herabsetzen und nur die eigene Arbeit würdigen, ist der Konflikt bereits entstanden“, sagt Barth. In solchen Fällen gilt: früh eingreifen! Ist der Streit noch nicht eskaliert, reicht oft ein klärendes Gespräch mit einem unbeteiligten Dritten, weiß der Konfliktberater aus seiner Arbeit in Unternehmen. Personalmanager sollten deshalb allen Mitarbeitern signalisieren, dass sie im Konfliktfall oder bei Problemen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen – und gegebenenfalls auch zwischen den Hierarchieebenen, sofern es sie noch gibt, vermitteln.

© privat

„Manchen Führungskräften ist gar nicht bewusst, dass sie vielleicht ihr Selbstverständnis, aber nicht ihre Arbeitsweise geändert haben.“

Gernot Barth, Leiter Ikome-Institut

Ein weiterer Streitpunkt auf dem Weg zu flachen Hierarchien können Bonuszahlungen und Gehälter sein: Karl Schneider aus dem Beispiel hat sich seine Position als Abteilungsleiter über Jahre hinweg erarbeitet und sein Gehalt in vielen Runden mit der Geschäftsleitung verhandelt. Nun sollen Führungskräfte wie er und Büroangestellte auf einer Stufe
stehen. Die Gehälter unterscheiden sich aber weiterhin um Hunderte oder Tausende Euro. Kommt es zum Streit, können Personaler so argumentieren: „Verantwortung an verschiedene Mitarbeiter abzugeben und das wiederum zu koordinieren, kann mehr Arbeit bedeuten, als alle Entscheidungen selbst zu treffen“, sagt Wirtschaftspsychologe Schermuly.

Überzeugungsarbeit mit guten Gründen

Gerade in großen Unternehmen mit mehreren Standorten kann es bei der Umstellung auf flache Hierarchien schwierig werden, hat Schermuly herausgefunden. Der Berliner Professor arbeitet derzeit gemeinsam mit dem Ölgiganten BP am Standort in Lingen daran, die Mitarbeiter stärker bei Abläufen und Entscheidungen einzubinden. Den Anstoß zur neuen Personalorganisation haben die Mitarbeiter selbst gegeben, wenn auch unbeabsichtigt: Alle fünf Jahre schließt BP die Raffinerie für eine Generalüberholung der Maschinen. In dieser Pause zeigten die Raffinerie-Mit-
arbeiter mehr Engagement im Betrieb als sonst. Der Konzern hat sich darum an Schermuly gewandt und gefragt, wie der Betrieb diese Dynamik aufrechterhalten und in den Alltag integrieren kann.

Damit hat sich BP ein eindeutiges Ziel gesetzt: flachere Hierarchien und mehr Mitbestimmung für eine bessere Dynamik. Wichtig ist es laut Wirtschaftspsychologe Schermuly, dieses Ziel auch zu kommunizieren. Denn Platzhirsche, die auf ihre Position im Unternehmen pochen, reagieren besonders empfindlich darauf, wenn die interne Rangordnung scheinbar ohne Plan aufgelöst wird: „Viele Personalabteilungen und Geschäftsführer wollen einfach nur flache Hierarchien etablieren, ohne zu wissen warum“, sagt Schermuly. Haben die Unternehmer kein festes Ziel vor Augen, machen sie sich den Wandel selbst unnötig schwer: „Wie soll ich denn die Mitarbeiter von der Umstellung überzeugen, wenn ich ihnen gar nicht sagen kann, wofür sie sich umstellen sollen?“, lautet Schermulys rhetorische Frage. Eines ist darum in jedem Fall klar, wenn ein Platzhirsch für Unruhe im Unternehmen sorgt: Reden hilft.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Angst. Das Heft können Sie hier bestellen.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Jennifer Garić ist Redakteurin bei wortwert

Jennifer Garić

Jennifer Garić ist Redakteurin bei wortwert, für Finanzthemen wie Magazinprojekte. Sie hat Sozial- und Politikwissenschaften studiert und ist Absolventin der Kölner Journalistenschule.

Weitere Artikel