„Freiheitsgrade sind ganz klare Ressourcen“

Personalmanagement

Das Leistungsprinzip kann Motivation aber auch Belastung sein. Wie schmal der Grat ist, erläutert Psychologe Thomas Rigotti.

Leistungsdruck kennt auch Thomas Rigotti im akademischen Bereich. Besonders unter den Studenten habe sich durch die Bologna-Reform einiges verändert, wie er zu Beginn des Gespräches erzählt. Die Studenten seien viel ergebnis- und konkurrenzorientierter. Inhaltliche Vielfalt bliebe da auch mal auf der Strecke.

Herr Professor Rigotti, wie viel Leistungsdruck verspüren Sie gerade?
Weniger als vielleicht noch vor drei oder vier Jahren, da ich mittlerweile auf einer unbefristeten Stelle verbeamtet bin. Da kann man das eine oder andere auch etwas ruhiger bewerten. (lacht)

In der Wirtschaft gehören Leistungsprinzip und Führen über Ziele vielfach zum Managementalltag. Dahinter steht auch der Gedanke, dem Mitarbeiter Freiraum auf dem Weg zum Ziel zu lassen.
Freiheitsgrade sind ganz klare Ressourcen in der Arbeitstätigkeit und auch generell in unserem Handeln. Und Ziele beinhalten ein motivierendes Potenzial. Jede bewusste Handlung, die wir ausführen, wird überhaupt erst durch Ziele initiiert. Wir brauchen Ziele und ihre Ausgestaltung bestimmt, mit wie viel Aufwand und Energie, kurzum mit wie viel Motivation, wir unsere Handlung angehen. Es gibt seit Jahrzehnten gute Befunde, dass gut gestaltete Ziele motivations- und letztlich auch leistungsfördernd sein können.

Das ist doch positiv zu sehen.
Ja, nur ist es im wirtschaftlichen Kontext häufig so, dass die Zielvereinbarungen zu Zielvorgaben verkommen. Der Vorstand entwickelt jedes Jahr ein neues Ziel, um den Profit des letzten Jahres zu übertreffen. Das wird dann runtergebrochen auf die Produkte, die verkauft werden und auf Zahlen, die eingehalten werden müssen – und die werden dann an die unteren Führungskräfte weitergegeben. Die müssen dann dafür sorgen, dass jeder Einzelne dementsprechend seine Ziele umsetzt. Das ist kein Aushandeln mehr zwischen zwei Parteien, sondern schlichtweg eine Vorgabe von oben. Und dann verlieren diese Ziele ihr motivierendes Potenzial. Ich habe die Freiheit nicht mehr, die Ziele mitzugestalten und meinen Bedürfnissen anzupassen. Genau das ist das Problem.

Entsteht aus dieser Umdeutung der Leistungsdruck oder sind die Ziele einfach zu hoch gesetzt?
Die Ziele werden natürlich auch irgendwann unrealistisch. Eine Bank überlegt sich beispielsweise ein jährliches Zuwachsziel von drei Prozent. Es müssen also mehr Produkte verkauft werden. Eine Bank ist aber meist regional verortet. Wo sollen dann die Menschen herkommen, die diese Produkte kaufen? Also werden sie vielleicht auch an Menschen verkauft, denen sie nicht viel nützen. Die Mitarbeiter aber – das wissen wir auch aus vielen Gesprächen – haben diesen Beruf vielfach auch aus der Motivation heraus ergriffen, Menschen mit guten Finanzierungskonzepten zu helfen. Die Lebensversicherung für die 80-Jährige fällt da nicht rein. Aber die Mitarbeiter werden zunehmend gedrängt, so etwas zu verkaufen. Das ist mehr als nur Leistungsdruck. Das kratzt an den Grundwerten, mit denen man seine berufliche Identität verknüpft.

Welche Folgen hat das?
Zunächst einmal sorgt das bei dem Einzelnen für eine Intensivierung der Arbeit. Man muss subjektiv ständig eine Schippe drauflegen. Zeit- und Leistungsdruck nehmen zu und die Vorgaben werden immer ambitionierter. Vom rein quantitativen Aspekt her erzeugt das ein Gefühl der Überlastung. Aber es impliziert auch mangelnde Wertschätzung der bisherigen Leistung. Und diese Wertschätzungskomponente ist ein wichtiger Aspekt, wenn wir uns soziologische und sozialökonomische Modelle zum Arbeitsstress ansehen.

Inwiefern?
Das Modell der Gratifikationskrisen ist ein gutes Beispiel. Hier wird geschaut, wie viel Energie in ein Arbeitsverhältnis gesteckt wird und was dabei zurückkommt. Wird das, was ich tue wertgeschätzt, bekomme ich dadurch einen besseren Arbeitsplatz oder Karrieremöglichkeiten? Da geht für viele die Schere immer weiter auseinander. Sie kommen in eine Gratifikationskrise. Und solch ein Zustand ist empirisch nachgewiesen ein Risikofaktor für Herzerkrankungen, Depressionen und psychosomatische Beschwerden.

Studien zeigen, dass viele Menschen zur Arbeit gehen, obwohl sie krank sind. Der Mitarbeiter könnte doch auch sagen: „Stopp, ich kann nicht mehr.“
Das Phänomen Präsentismus hat verschiedene Ursachen. Einerseits ist da der Gedanke, dass die Arbeit nur noch mehr wird, wenn man nicht hingeht. Aber da ist auch die Angst, dass man in einer flexiblen Arbeitswelt, in der es weniger unbefristete Stellen gibt und Arbeitsplätze abgebaut werden, vielleicht der nächste ist, wenn man wegen einer Grippe nicht zur Arbeit kommt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Und natürlich gibt es auch in bestimmten Bereichen eine Leistungskultur, in der man keine Schwächen zeigt. Da ist eine Mikrokultur entstanden, aus der man als Einzelner nur schwer ausbrechen kann.

Ist das eine Form der Selbstausbeutung?
Ja. Aber das hat auch immer eine individuelle Komponente. Die gleichen Umstände wirken nicht für jeden auch gleich belastend. Das ist abhängig von den Bewältigungsmöglichkeiten und den Attributionsstilen und davon, welchen Anspruch man an seine eigene Arbeitsqualität stellt. Aber die Richtung wird durch einen kulturell-gesellschaftlichen Überbau vorgegeben. Es ist aber nicht so, dass gar keiner die Reißleine zieht und bewusst Abstriche macht.

Wie groß ist das Problem?
Es ist sehr umfassend. In der BAuA-Studie „Stressreport 2012“ beispielsweise zählte der Zeit- und Leistungsdruck zu den an erster Stelle genannten Belastungsfaktoren. Die Leute nehmen die Situation als bedrückend wahr und wir können auch in den verschiedensten Studien klare Zusammenhänge zwischen dem Zeit- und Leistungsdruck und den gesundheitlichen Auswirkungen aufzeigen. Wenn sich dann 60, 70 Prozent der Arbeitnehmer davon betroffen sehen, dann ist das kein Partikularphänomen, sondern betrifft die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung.

Wenn Mitarbeiter krank zur Arbeit kommen und unrealistische Ziele akzeptierten, wie können Unternehmen überhaupt wahrnehmen, dass in der Belegschaft etwas schiefläuft?
Die Alarmglocken gehen häufig viel zu spät an – meist erst, wenn der Krankenstand im Branchenvergleich plötzlich besonders hoch ist. Das wird dann für Unternehmen besonders virulent, weil das eine ökonomische Zahl ist, die man in Euro ausdrücken kann. Leider ist das häufig erst der Auslöser, um mal einen Blick darauf zu werfen. Es ist immer nachhaltiger, präventiv zu agieren und das Leiden gar nicht erst auftreten zu lassen.

Lässt sich ein Organisationsprinzip, das auf Leistung setzt, so gestalten, dass es die Mitarbeiter vor der Selbstausbeutung oder der Ausbeutung seitens der Unternehmen schützt?
Das ist schon kombinierbar. Aber es ist wichtig, dass der Prozess der Zielgestaltung partizipativ ist, er also wirklich eine Aushandlung und auch eine Berücksichtigung der individuellen Qualifikationen und Bedürfnisse des Einzelnen ist. Das wird auch dem Gesamtziel zuträglich sein. Natürlich muss ein Wirtschaftsunternehmen Geld verdienen. Was wir aber vielleicht generell benötigen, ist die Definition anderer Erfolgskriterien. Unternehmen, denen es gelingt, langfristig sichere Arbeitsplätze zu schaffen, oder eine besonders geringe Krankenquote zu haben, tragen gesamtgesellschaftlich einen Mehrwert bei. Hier könnte man politisch Anreize schaffen. Aber wir werden uns nicht so schnell lösen können von dem dogmatischen ökonomischen Verständnis, es müsse immer alles wachsen.

Und in Sachen Leistung?
Gemeinsame Ziele und Leistung, auf die man stolz sein kann, haben ja positive Komponenten. Die gilt es in den Vordergrund zu stellen und parallel dazu eine gesunde Unternehmenskultur aufzubauen. Alle Vorschriften nützen nichts, wenn es nicht zu einer gemeinsamen Kultur wird, dass Gesundheit ein wichtiges Gut ist und dass das dem Erfolg des Unternehmens langfristig zugutekommt.

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Sven Pauleweit

Sven Pauleweit

Ehemaliger Redakteur Human Resources Manager

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