Führung muss man üben

Leadership

Weniger hierarchisch, weniger prozessorientiert, weniger Statusdenken: In der vernetzten Wirtschaftswelt braucht es eine andere Führung als früher. Unternehmen wie die Wittenstein SE machen auch beim Thema Leadership einen Wandel durch. Ein Gespräch mit Manfred Wittenstein und Christian Abegglen über den ganzheitlichen Ansatz und die zunehmende Projektarbeit.

Auch als innovativer Weltmarktführer im Bereich der Antriebstechnik muss man sich mit dem Thema Industrie 4.0 intensiv auseinandersetzen. Doch dabei geht es nicht nur um eine intelligente Vernetzung von Produktentwicklung, Logistik und Kunden. Auch die Führung ist vom Wandel betroffen. Den Aufsichtsratsvorsitzenden Manfred Wittenstein beschäftigt das seit Jahren. Immer wieder diskutiert er auch mit Christian Abegglen darüber, was Führung heute leisten muss. Der Geschäftsführende Direktor der St. Gallener Business School begleitet die Wittenstein SE seit vielen Jahren zum Thema Leadership.

Das Thema Führung lässt uns alle nicht los. Wie nehmen Sie die Situation derzeit wahr? Wie wird Personalführung momentan in den Unternehmen gesehen und praktiziert?
Christian Abegglen: Personalführung wird in vielen Unternehmen immer noch eher als technokratischer Akt betrachtet, der von bestehenden Regeln bestimmt wird, an die man sich zu halten hat. Personalführung ist so etwas wie eine Institution geworden, geprägt von Verwaltung und Hierarchie. Allerdings merken die Führungskräfte langsam selbst, dass es so nicht weitergeht. Ein anderes Führungsverständnis ist notwendig: weniger hierarchisch, weniger prozessorientiert und dafür flexibler und mehr bestimmt von Werten.

Was meinen Sie genau mit technokratisch?
Christian Abegglen: Ich meine damit zum Beispiel, dass man Führungskräften genaue Vorgaben macht, wann sie Feedback-Gespräche führen sollen, dass man Ziele vereinbaren soll, an die man sich zu halten hat oder welches Formular wann auszufüllen ist. Der Eindruck, der dadurch entstehen kann, ist, dass es ausreicht, wenn man an solche Prozessschritte einen Haken macht. Gute Führung ist aber etwas anderes.

Herr Wittenstein, was denken Sie über Personalführung in Deutschland? Was überwiegt?
Manfred Wittenstein: Was immer noch häufig vertreten ist, ist eine Führung von oben nach unten. Und dabei wird der Führende als Wissender betrachtet, der nach „unten“ mitteilt, was zu tun ist und das später kontrolliert. Dieses unidirektionale Verständnis von Führung ist noch sehr stark ausgeprägt hierzulande.

Ist eine Personalführung, die von „oben“ nach „unten“ stattfindet, etwas Negatives?
Manfred Wittenstein: Nein. Doch es ist negativ, wenn Führung nur einseitig betrachtet wird. Führung ist aber eine Interaktion zwischen zwei Menschen, eben eine echte Beziehung. Man muss heute miteinander Ziele definieren und sich zusammen auf den Weg machen. Kein Einzelner ist im Besitz der Weisheit, sondern Lösungen müssen gemeinsam erarbeitet werden.


Manfred Wittenstein, Foto: Wittenstein SE

Und was macht eine gute Führungskraft heute aus?
Manfred Wittenstein: Gute Führung ist im Vergleich zu früher nicht völlig anders. Es sind nur andere Schwerpunkte heute gefragt. Und natürlich ist Führung immer auch situationsabhängig beziehungsweise richtet sich nach der jeweiligen Beziehung. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass jeder, der führen will, einen klaren Führungsanspruch haben sollte. Und er oder sie muss mehr denn je eine stabile, in sich ruhende Person sein. Eine gute Selbstführung ist die erste Voraussetzung. Denn die Führungskraft von heute wird mit vielen Widersprüchen und unterschiedlichen Sichtweisen konfrontiert. Sie muss jemand sein, an dem ich mich als Mitarbeiter halten kann, der gleichzeitig offen und in der Lage ist, sinnstiftende Aussagen zu machen und zu vertreten. Wichtig ist zudem eine gewisse Empathie, sodass man gemeinsam und ganzheitlich Themen vereinbaren und bearbeiten kann.

Christian Abegglen: Die Frage, ob Führung von „oben nach unten“ schlecht ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es kommt darauf an. Wenn eine Situation extrem strukturiert ist, könnte man nach dem alten Militär-Prinzip führen. Je unklarer und unstrukturierter jedoch eine Situation ist, desto schlechter funktioniert diese „Führung auf Befehl“. Dann geht es darum, Sinn zu vermitteln. Es wird ein Gesamtauftrag vergeben, der Sinn macht, und der Mitarbeiter entscheidet, wie er ihn erfüllt. Je besser also die Mitarbeiter und je unstrukturierter die Situation, desto weniger funktioniert „Führung von oben“.

Führungskräfte sollten heute empathisch sein und Sinn vermitteln, wie Sie sagen. Gleichzeitig sollen sie in Märkten erfolgreich sein, die immer komplexer und dynamischer werden. Wo und wie lernen Führungskräfte solche enormen Ansprüche zu erfüllen und sich mit Erfolg zu behaupten? In einem normalen BWL-Studium lernt man das nicht, oder?
Manfred Wittenstein: In den klassischen Studiengängen der Betriebswirtschaft können Sie das vergessen. Da lernen Sie Methoden, aber sicherlich nicht Führung. Das geht vor allem über Learning by Doing. Denn das Wissen und das notwendige Verhalten müssen verinnerlicht werden und dürfen nicht aufgesetzt wirken. Es muss glaubwürdig und authentisch rüberkommen. Ich würde jungen Menschen raten, frühzeitig anzufangen, Führung zu übernehmen. Sich im Gemeinderat engagieren, in Jugend- oder Sportgruppen, in sozialen Einrichtungen – überall dort kann man die ersten Führungserfahrungen sammeln. Das Üben ist wesentlich. Und wenn jemand das Potenzial für eine anspruchsvolle Führungsaufgabe hat, dann sollte er oder sie auch zusätzlich den Mut mitbringen, diese zu meistern – und wir begleiten dabei.

Herr Abegglen, an der St. Galler Business School verfolgen Sie einen ganzheitlichen Ansatz. Der Schwerpunkt liegt auf der Unternehmensführung sozialer Systeme. Warum sollte man Unternehmen als soziale Systeme sehen? Und was bedeutet das für die Führungskraft?
Christian Abegglen: Ein Unternehmen ist kein technisches Konstrukt, es ist ein soziales System. Und soziale Systeme leben immer von der Erwartungshaltung. Denn es sind Netzwerke, in denen Menschen miteinander interagieren, in denen ein bestimmtes Kommunikationsmuster besteht. Sie müssen sich als Führungskraft in einem solchen System bewegen können, es beobachten und verstehen. Sie können nur erfolgreich sein, wenn Sie die Kollegen mitnehmen. Sie müssen dafür auch bereit sein, Feedback anzunehmen und sich selbst zu reflektieren. Führung ist eine Interaktion. Und das bedeutet, die Führungskraft wird „zurück geführt“. Man will gemeinsam etwas erreichen. Und „dieses Gemeinsam“ ist auch für die Führungskraft sinnstiftend. Das ist das systemische Gedankengut.

Der Berater Reinhard Sprenger hat mal gesagt: „Führung muss in homöopathischen Dosen Störungen in die Organisation einführen. Sie muss das Unternehmen in optimistischer Absicht beunruhigen, weil nur die permanente Austragung von Krisen fit hält.“ Muss ein Vorgesetzter seine Leute also auch nerven und dafür sorgen, dass es nach dem Erfolg sofort weitergeht?
Manfred Wittenstein: Ich denke, ja. Wenn man innovativ sein will, muss man immer aufbrechen. Es geht darum, ständig zu hinterfragen und Dinge nicht einfach hinzunehmen. Allerdings – und das ist wichtig – darf man ein Unternehmen auch nicht permanent in Unruhe versetzen. Mitarbeiter brauchen ab und an Beständigkeit. Die Balance zwischen diesen beiden Polen zu finden, ist wichtig. Ich würde deshalb von einem Zustand der Wachheit und der Sensibilisierung sprechen, den vor allem Führungskräfte einnehmen sollten – und so viele Mitarbeiter wie möglich.

Christian Abegglen: Die Frage, die sich einem Unternehmer immer wieder stellt, ist: Habe ich einen echten Leidensdruck oder muss ich künstlichen Leidensdruck erzeugen? Es gilt, nicht in einer Komfortzone zu verharren. Die Aussage von Reinhard Sprenger ist sicherlich etwas polarisierend. Ich würde nicht von Krisen reden, sondern von Störungen. Die sind heute bis zu einem gewissen Grad der Normalzustand. Störungen kennt auch die Systemtheorie, sie bedeuten nichts anderes, als dass sich Einflussfaktoren verändert haben und auf dem Weg zur Zielerreichung Korrekturen vorgenommen werden müssen.

Aber nun sind doch die Zeiten turbulenter geworden. Die Frequenz der Anpassungen hat zugenommen aufgrund von Phänomenen wie Globalisierung und Digitalisierung. Würden Sie dem zustimmen?
Manfred Wittenstein: Das kann man sagen, ja. Durch die Digitalisierung haben sich Beschleunigungen ergeben – und das in vielen Bereichen. Damit umzugehen, ist eine besondere Herausforderung. Umso wichtiger ist es, die Mitarbeiter nicht alleine zu lassen und mit ihnen zu diskutieren: Was machen wir als nächstes? Wie können wir das angehen? Allein ein solcher Prozess schafft eine gewisse Beruhigung. Nur mit Hektik kommt man nicht weiter, es braucht auch Phasen der Besinnung und Reflexion. Wenn Sie nur kopflos nach vorne rennen, verlieren Sie das Gespür für die wirklichen Risiken.

Dennoch ist die Digitalisierung ein wesentlicher Grund, warum sich viele Unternehmen um neue Strukturen bemühen. Sie wollen sich netzwerkartiger aufstellen, um schneller agieren zu können. Findet ein solcher Wandel auch in Ihrem Unternehmen statt, Herr Wittenstein?
Manfred Wittenstein: Bei uns findet dieser Prozess schon seit längerem statt und läuft unter dem Begriff der Dezentralisierung. Es ist sicherlich kein einfacher Weg.

Aber Sie sind davon überzeugt?
Manfred Wittenstein: Absolut. Bei Projektarbeiten oder Neuentwicklungen beispielsweise halte ich es für wirklich wichtig, dass die Mitarbeiter disziplinübergreifend und agil zusammenarbeiten und weniger sequenziell. In unserer Innovationsfabrik haben wir dafür die notwendigen Bedingungen geschaffen: Es gibt dort keine räumlichen Trennungen der Funktionen und die Wege sind kurz. Jeder bringt Ideen aus seinem Bereich ein und dann wird gemeinsam entwickelt. Silos gehören der Vergangenheit an. Wir wollen solche vernetzten Prozesse noch stärker leben. Und die Führungskräfte müssen das natürlich unterstützen. Das ist – ehrlich gesagt – das größte Problem, das wir derzeit haben. Denn in den neuen Strukturen haben die Führungskräfte in der Linie nicht mehr wie früher den Zugriff auf den einzelnen Mitarbeiter. Ein gewisser Einfluss geht ihnen zugunsten der jeweiligen Gruppe verloren.

Wer führt in der Regel eine solche Projektgruppe?
Manfred Wittenstein: Ein Team- beziehungsweise Projektleiter.

Ohne disziplinarische Verantwortung?
Manfred Wittenstein: Ja. Wir haben viele gute Projektleiter. Aber nur wenige sind in der Lage wirklich ganzheitlich und mit Empathie zu führen. Nicht wenige sind sehr technokratisch unterwegs.

Und kommt es zu Konflikten mit der Führungskraft in der Linie?
Manfred Wittenstein: Ja, natürlich. Bei so einem Prozess sind gewisse Spannungen unvermeidlich. Es sind Veränderungen, die Zeit brauchen. Umso wichtiger ist es, dass das Top-Management, also der Vorstand, standhaft bleibt und konsequent den Prozess der Dezentralisierung verfolgt: Es sollen mehr Entscheidungen da getroffen werden, wo die Nähe zum Markt und den Kunden besteht.

Was können Sie denjenigen Führungskräften, die Macht einbüßen, als Gegenleistung anbieten?
Manfred Wittenstein: Was wir als Gegenleistung anbieten, ist der gemeinsame Erfolg. Es ist auch so, dass Führungskräfte in den neuen Strukturen wiederum stärker von der nächsthöheren Führungskraft eingebunden werden, wenn es um Strategiefragen geht. Das wirkt sinnstiftend und es wertet sie auf. Aber unsere Überlegungen dazu sind noch nicht am Ende. Wir sind auf dem Weg. Vieles wird neu bewertet und es entstehen neue Einbindungen. Das braucht Zeit. Wir reden hier von einem Prozess von vielleicht zehn Jahren.

Christian Abegglen: Was einen früher erfolgreich gemacht hat, nämlich Arbeit zu teilen, sie sequenziell abzuarbeiten und von einem Leiter kontrollieren zu lassen, funktioniert immer weniger. An den Themen muss zunehmend übergreifend gearbeitet werden und Chefs müssen lernen, Einfluss abzugeben. Was es für den Wandel braucht, sind ein paar Regeln im Sinne von Grund sätzen zur Zusammenarbeit. Aber vor allem geht es um ein verändertes Mindset. Die Sinnstiftung und das Selbstverständnis von Führungskräften sollten in der neuen Welt weniger über die Anzahl der geführten Mitarbeiter und ein Gefühl der Unentbehrlichkeit erfolgen. Stattdessen werden mehr Entscheidungen in der Gruppe getroffen. Sie gilt es, stark zu machen und zu befähigen. Dennoch bleiben einige Fragen, die jedes Unternehmen für sich individuell beantworten muss. Dazu gehört zum Beispiel, inwieweit man einzelne Mitarbeiter für besondere Leistungen besonders belohnen sollte.


Christian Abegglen, Foto: Wittenstein SE

Herr Wittenstein, was schätzen Sie, welchen Anteil die Projektarbeit in Ihrem Unternehmen hat?
Manfred Wittenstein: In den verschiedenen Entwicklungsabteilungen würde ich sie auf 50 Prozent schätzen.

Welche Aufgabe hat das HR-Management in Bezug auf die zunehmende Projektarbeit? Geht es um Kompetenzentwicklung?
Manfred Wittenstein: Ja. Wir haben schon seit 20 Jahren unsere eigene Akademie, die vom Personalwesen geleitet wird. Sie hat in der Transformation eine wichtige Aufgabe. Die Akademie und HR haben den Fokus darauf, ob die notwendigen Kompetenzen noch vorhanden sind beziehungsweise welche in Zukunft gebraucht werden. Aber auch hier spielen die Führungskräfte wieder eine wichtige Rolle. Sie müssen bereit sein, auch in das Lernen der Mitarbeiter zu investieren. Wichtig ist doch, dass wir alle neugierig bleiben. Wir alle müssen in dieser schnelllebigen Zeit auch mal etwas versuchen, experimentieren. Unter anderem haben wir bereits separate Firmen gegründet, damit sie sich besser entfalten können – mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich.

Christian Abegglen: Wenn bei einer Schulung ein Controller, ein Produktionsmitarbeiter und ein Logistiker zusammensitzen, lernen sie auch gemeinsam über Themen und Probleme nachzudenken. So beginnt sich das Mindset zu ändern.

Sie haben vorhin Ihre Innovationsfabrik erwähnt. Was ist das Besondere daran?
Manfred Wittenstein: In unserer Innovationsfabrik bearbeiten wir Themen interdisziplinär in einem kommunikativen Umfeld – sowohl in Bezug auf Projektarbeit als auch in Bezug auf die traditionelle Auftragsabwicklung. Der komplette Wertschöpfungsprozess findet dort in einem Radius von 30 Metern statt – von der Idee bis zum fertigen Produkt. Wir haben dort schnelle Entscheidungsprozesse und das ganz ohne E-Mail. Ich bin davon überzeugt, dass die Face-to-Face-Kommunikation wichtiger ist denn je. Sie ist die Voraussetzung, um kreative Lösungen zu finden.

Finden sich in der Innovationsfabrik auch Externe, also Mitarbeiter von Kunden oder Lieferanten?
Manfred Wittenstein: Partiell, ja. Sie gehören zur Projektarbeit dazu. Insbesondere, wenn Neues entwickelt wird, muss man mit den Kunden intensiv zusammenarbeiten. Vieles ergibt sich erst im gemeinsamen Austausch. Auch das ist Teil des vernetzten Arbeitens.

Wenn Sie nun ein paare Jahre in die nähere Zukunft schauen: Was sollten Führungskräfte Ihrer Ansicht nach in der näheren Zukunft besonders können? Müssen sich bald alle Führungskräfte aufs Coaching verstehen?
Christian Abegglen: Es werden mehr diejenigen gefragt sein, die das nicht-sequentielle Arbeiten in einer Gruppe beherrschen und die das Prinzip der Vernetzung annehmen. Die, die sich ihrer Wirkung bewusst sind, die unterschiedliche Geschwindigkeiten gehen können und wissen, wann sie selbstreflektiert sein müssen. So betreiben die guten Führungskräfte Selbstcoaching und werden mit der Zeit automatisch zum Coach für andere.

Manfred Wittenstein: Ich kann nur sagen: Wir stehen wirklich vor wichtigen Herausforderungen in Deutschland. Egal ob das die Digitalisierung, der demografische Wandel oder die Globalisierung ist – wenn wir nicht die geeigneten Führungsqualitäten entwickeln, werden wir im Wettbewerb zurückfallen. Es können noch so viele tolle Ideen im Umlauf sein, ob die Transformation gelingt, hängt von der Führung ab.

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