Zwischen Individualismus und Gruppenzugehörigkeit

Personalmanagement

Wir begreifen uns stets in Abgrenzung zum Anderen. „Ich ist ein Anderer“, raunte der französische Skandal-Lyriker Arthur Rimbaud im 19. Jahrhundert und verwies kurzum auf einen grundlegenden Wesenszug unseres Ichs: auf seinen entgrenzten Charakter, der nur in der Distanz zum Außen gedeihen mag.

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Allerdings hat diese Selbstüberschreitung ihren Preis. Zwar kleidet sie sich in das verspielte Gewand der Befreiung und streift das starre Korsett der Charakterrolle ab. Doch kann es dem derart entfesselten Ich auf Dauer höchst anstrengend werden, sich ständig neu erfinden zu müssen. Die Krux der allfähigen Freiheit drückt aufs Gemüt und lässt den spätmodernen Menschen rast- und ziellos umherstreifen, auf dass er sich ja nicht setzen möge. Andernfalls droht der Stillstand und mit ihm die Gefahr, unverwechselbar geglaubte Merkmale könnten sich als vergleichbar herausstellen.

Individualität wird zur Massenbewegung

Die Kränkung der vermeintlichen Einzigartigkeit säße tief, schließlich schmerzt in der Spätmoderne nichts mehr als die Durchschnittlichkeit. Alles soll originell und originär sein, sich zur Entfaltung bringen können jenseits von Standard und Konformität. Was den „Einzigartigen“ dabei jedoch entgeht: Auch sie schließen sich in ihrem Individualitätsdiktum einer Bewegung und Masse an. Nicht minder sauertöpfisch muss es ihnen ergehen, wenn sie feststellen, dass sie zudem auch nicht die Einzigen sind, denen in diesen Zeiten das Gros der Aufmerksamkeit zuteil wird.

Währenddessen formieren sich die Anderen in ihrer Überzeugung zu einem einheitlichen Pulk, erst heimlich, mittlerweile besessen und ohrenbetäubend. Es sind jene, die sich nach einer Masse, einem Leviathan-ähnlichen „Volkskörper“, sehnen, innerhalb dessen sie sich einfügen und mitschwimmen können, sehenden Auges von ihm einverleibt werden, um als Beweis ihrer unverbrüchlichen Treue mit ihm unterzugehen.

Im Angesicht dieser fundamentalen Spannung wankeln wir mal ermüdet, mal wutgetränkt zwischen den Polen. Jene, die ihre Individualität feilbieten und denen Ähnlichkeiten oder gar Parallelen zu Anderen obszön, beinahe zuwider sind, stehen nun Hut- und Wutbürgern unversöhnlich gegenüber. Demagogen auf der einen wie der anderen Seite haben in dieser Binarität, dem alten zweigliedrigen Ordnungsschema des Abendlandes, ein leichtes Spiel. Behände erreichen sie ihr Publikum, verführen die Massen und locken sie ins Extreme.

Der Mensch ist ein soziales Tier

In ihrer Abgrenzung, in ihrer Hinwendung zu einem Pol und einer Sphäre, sind sich beide Seiten nur allzu ähnlich. Wir müssen es einsehen: Der Mensch ist ein soziales Tier. Er braucht die Zugehörigkeit. Doch das allein mindert ihn nicht in seinem Sein. Es ist die Macht und mit ihr die Gewalt, gleich ob verbal oder physisch, die innerhalb der Gruppenpolarisierung das gefährliche Moment bedeuten.

Die Formierungen werden befeuert durch die Instrumente der Gegenwart. Die derzeitige Aufmerksamkeitsökonomie findet ihre Steigbügelhalter in digitalen Netzwerken, deren zügellose Bilderflut, infantiler Bestätigungswahn und lachhafte Zurschaustellung nur eines zeigt: Der wahrlich besondere Moment geschieht im Stillen. Dort, wo das Ich unbeobachtet seine Ruhe findet. Die dröhnenden Manegen der Gier nach Likes, Hashtags, Duckfaces, Pastell- und Sepia-Filter hingegen eint allesamt eines: Sie sind beliebig.

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(c) Stefan Wieland

Hannah Petersohn

Chefredakteurin
Human Resources Manager
Hannah Petersohn war bis Oktober 2020 Chefredakteurin des Magazins Human Resources Manager. Die gebürtige Berlinerin hat Kulturwissenschaften und Philosophie in Berlin und Paris studiert und ihr Volontariat bei der Tageszeitung Weser Kurier in Bremen absolviert.

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