Warum unser Gehirn von der Krise profitiert

Future of Work

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Herr Schwabe, worum genau handelt es sich, wenn wir von Routinen sprechen?
Lars Schwabe:
Bei Routinen handelt es sich um Verhaltensweisen, die wir bereits häufig wiederholt haben. Wenn wir eine Handlung das erste Mal vollziehen, denken wir noch darüber nach, warum und wie wir das tun und wie die nächsten Schritte der Handlung aussehen. Je häufiger wir uns dann auf diese Weise verhalten, umso stärker wird unser Verhalten automatisiert und prozeduralisiert. Wir denken also nicht mehr über jeden einzelnen Schritt nach. Dann spricht man von einer Gewohnheit oder Routine.

Wie sehr prägen Routinen unseren Alltag? Der Sozialpsychologe Bas Verplanken sagt, dass die Hälfte unseres täglichen Handelns durch Routinen bestimmt wird.
In unserem Alltag gibt es sehr viele Handlungen, die wir wiederholen, ohne sie zu reflektieren: Zähne putzen, Frühstück zubereiten, zur Arbeit fahren und so weiter. Das ist auch gut so.

Warum?
Die automatisierten Handlungen setzen kognitive Ressourcen frei, die wir für solche Handlungen nutzen können, die von unserer üblichen Routine abweichen. Bei Kindern ist das besonders wichtig: Sie brauchen eine stabile Umgebung, in der die Vorhersagbarkeit der Geschehnisse hoch ist. Das erzeugt das Gefühl der Kontrolle, das für Kinder essenziell ist, weil sie sehr komplexe Handlungen und Ereignisse noch nicht im gleichen Maße wie Erwachsene erfassen können.

Welche Prozesse spielen sich beim Erlernen einer Routine im Gehirn ab?
Wenn ein Mensch zielgerichtet über eine Handlung nachdenken muss, ist der evolutionär betrachtet jüngere Präfrontalkortex aktiv. Wenn sich bestimmte Routinen einschleifen, sind andere Hirnregionen aktiv, die tiefer im Gehirn liegen und wesentlich älter sind. Je öfter wir eine Handlung vollziehen, desto mehr verschiebt sich die Gehirnaktivität vom Präfrontalkortex hin zu den evolutionär älteren Basalganglien.

Was wäre, wenn wir uns im Alltag bei jeder Entscheidung fragen müssten, wie wir uns entscheiden sollen?
Dann wären wir noch mittags mit der Wahl und Zubereitung unseres Frühstücks beschäftigt. Das wäre absolut ineffizient. Wir würden kaum noch etwas Neues lernen. Es gibt bestimmte Routinen in unseren Entscheidungs- und Denkmustern, die mit einer Wiederholung zusammenhängen. Dann gibt es aber auch neue Situationen, in denen wir unser Wissen nicht anwenden können und dennoch versuchen, uns ähnlich zu verhalten wie in der Vergangenheit. Innerhalb einer Situation gibt es sehr viele Informationen, die wir gar nicht alle bewusst wahrnehmen können. Dann gewichtet das Gehirn und nimmt auch mal Abkürzungen.

Sind Innovationen auch oder gerade mit routinierten Arbeitsabläufen möglich? Oder anders gefragt: Wie lernen wir trotz unserer Routinen?
Natürlich ist die Überwindung von Routinen aufwendig, ganz gleich ob es darum geht, eine neue Marketingstrategie zu entwickeln, oder darum, seine Morgenroutine zu verändern. Man muss sich zunächst einmal bewusst werden, was man möchte. Wie sieht das Ziel aus? Was mache ich bisher? Inwieweit sollte ich vielleicht davon abweichen? Wenn man anfängt, sich bewusst diese Fragen zu stellen und sie so konkret es geht zu beantworten, löse ich bestimmte Verhaltensmuster aus der kontrollierten Routine, die sich sonst dem expliziten kognitiven Zugriff entziehen.

Allein durch diese Fragen komme ich zu neuen Ideen?
Sie müssen noch weitere Fragen stellen, aber als erstes Stoppsignal sind diese Fragen sinnvoll. Um Routinen zu unterbrechen, brauchen wir irgendeine Form des Stoppsignals. Ein solches Stoppsignal kann auch mal von außen kommen und durchaus unangenehm sein, zum Beispiel eine negative Rückmeldung über mein Verhalten durch andere. Ich kann mir selbst aber auch diese Signale setzen nach einem Wenn-dann-Schema: Wenn mein Verhalten ein bestimmtes unerwünschtes Ergebnis zur Folge hat, dann unterbreche ich es.

Was passiert auf kognitiver Ebene, wenn eine Routine von außen gestört wird?
Zuerst kommt es zu einem sogenannten Vorhersagefehler, einem Prediction Error. Ich stelle dann fest: Das, was ich erwartet habe, funktioniert nicht. Je stärker dieser Vorhersagefehler empfunden wird, desto besser funktioniert das Lernen. Bei einer massiven Abweichung lernen wir am meisten.

Heißt es deswegen, dass wir besonders durch Krisen lernen?
Richtig, diese Unterbrechungen reißen uns aus dem gewohnten Trott heraus und zwingen uns dazu, neue Perspektiven einzunehmen.

Lange wurde angenommen, dass Menschen mit zunehmendem Alter immer weniger in der Lage seien, Neues zu lernen. Das sieht man heute anders.
Beim Thema Alter muss man zwei Dinge unterscheiden: Einerseits verändert sich die Funktionsweise des Gehirns im Alter. Zum anderen geht mit dem Alter eine andere Ausprägung der Routinen im Gehirn einher, das heißt, die Verankerung von bestimmten Gewohnheiten ist stärker. Auf der neuronalen Ebene ist für die Flexibilität, für das Überwinden von Routinen der Präfrontalkortex wichtig, eine Region, die von altersspezifischen Veränderungen in nicht ganz so hohem Maße betroffen ist wie andere Hirnregionen. Allerdings spielt auch der kognitive Trainingszustand eines Menschen eine Rolle.

Können wir unser Gehirn trainieren wie ein Muskel?
Ja, für bestimmte Aufgaben geht das. Die Frage ist immer: Wie transferierbar ist dieses Training? Inwieweit ist zum Beispiel das Lösen von Sudoku-Aufgaben übertragbar auf andere Bereiche? Ich denke, dass es da schon bestimmte Grenzen gibt.

Wer joggt, trainiert nicht nur die Muskulatur der Beine, sondern auch andere Körperbereiche. Aber ob ein Gehirntraining durch Sudoku auf andere Hirnareale ausstrahlt, ist noch nicht erwiesen?
Genau. Interessant beim Thema Joggen ist, dass die körperliche Bewegung bestimmte kognitive Funktionen beeinflusst. Sie setzt physiologische Prozesse in Gang, die für die kognitive Leistungsfähigkeit förderlich sein können.

Werde ich also flexibler und kann leichter neue Routinen erlernen, wenn ich mich regelmäßig bewege?
In Bezug auf die kognitive Leistungsfähigkeit trifft das zu. Inwieweit sich die kognitive Flexibilität dadurch verbessern lässt, wissen wir noch nicht. Bewegung kann unabhängig davon natürlich helfen, sich von einer Aufgabe zu lösen, um auf andere Gedanken zu kommen. Wer sich sehr lange auf eine bestimmte Fragestellung fokussiert, bekommt nach einer Weile einen gewissen kognitiven Tunnelblick und kann andere Dinge nicht mehr wahrnehmen. Der Abstand erweitert die Perspektive.

Wie gehe ich am besten vor, wenn ich mir eine neue Routine aneignen möchte?
Zunächst ist eine möglichst konkrete Zielstellung hilfreich: Es ist ein Unterschied, ob ich sage: „Ich möchte gesünder leben“ oder: „Ich möchte alle zwei Tage joggen gehen“. Man muss sich das gewünschte Verhalten konkret vornehmen und es dann umsetzen. Die ersten Wochen, in denen man die Routine ausbildet, sind am härtesten. Aber wenn man drei, vier Monate jeden zweiten Abend joggt, denkt man gar nicht mehr darüber nach, ob man es nun übermorgen wieder macht oder nicht. Die ausgetretenen Pfade sind dann auch tatsächlich im Gehirn verankert. Routinen entstehen durch Wiederholung.

Lernen wir nur durch Wiederholung eine neue Routine?
Gewohnheiten lassen sich auch verändern, indem man sich belohnt, wenn man ein gewünschtes neues Verhalten vollzogen hat. Sinnvoll können auch externe Gedankenstützen sein, zum Beispiel ein Zettel, auf dem das Ziel notiert ist und auf dem man jedes Mal ein Häkchen setzt, wenn man es wieder erreicht hat. Je häufiger man das alles macht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man auch dabeibleibt.

Sie sagen, das Gehirn lernt durch Belohnung. Nun wird allerdings eher dazu geraten, dass Angestellte nicht mithilfe von Belohnungen dazu gebracht werden sollen, Neues zu lernen, sondern es von sich aus, intrinsisch motiviert, wollen sollen.
Das Thema Motivation wird seit Jahrzehnten diskutiert. Prinzipiell ist eine intrinsische, also innere Motivation natürlich erstrebenswert. Damit Angestellte aus sich heraus motiviert sind, etwas zu tun, muss man eine erwünschte Tätigkeit vorleben – zum Beispiel als Führungskraft – und zeigen, dass sie sinnvoll ist. Man ging lange davon aus, dass eine externe Belohnung die intrinsische Motivation korrumpiert, es also zu einem sogenannten Korrumpierungseffekt kommt. Tatsächlich sind aber einige Studien, die zu diesem Ergebnis gekommen sind, methodisch angreifbar und neuere Studien zeigen ein differenzierteres Bild: Belohnung ist demnach nicht per se schlecht. Sie untergräbt auch nicht automatisch die intrinsische Motivation.

Wann ist eine Belohnung denn sinnvoll?
Es kommt maßgeblich darauf an, wie sie eingesetzt wird: Handelt es sich bei der Belohnung insgeheim um den Versuch einer Kontrolle oder wirklich um ein Leistungsfeedback? Es macht nämlich einen Unterschied, ob jemand sagt: „Wenn du eine bestimmte Anzahl an Artikeln geschafft hast zu schreiben, erhältst du eine Prämie.“ Oder ob jemand sagt: „Diejenigen, die einen sehr guten Artikel geschrieben haben, bekommen den renommierten Verlagspreis.“ Dann geht es nicht darum, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne etwas zu produzieren, sondern generell etwas Außergewöhnliches zu schaffen. Die Wertschätzung ist dann weniger kontrollierend.

Und ein Unternehmenspreis wäre in einen sozialen Zusammenhang eingebettet. Dann geht es nicht mehr nur um die Auszeichnung, sondern auch um die Anerkennung durch alle.
Richtig, weil Belohnung nicht nur auf der monetären Ebene funktioniert, sondern auch auf der sozialen. Dennoch kann auch die soziale Anerkennung, wenn sie als Kontrollfunktion eingesetzt wird, die intrinsische Motivation blockieren.

Sie haben gerade das Stichwort Korrumpierung eingeworfen: Unsere Gewohnheiten sind manipulierbar. Wie genau funktioniert das?
Werbung zum Beispiel zielt darauf ab, Menschen zu einem bestimmten Konsumverhalten zu bringen. Der potenzielle Käufer soll den Vorteil, den ein Kauf für ihn hätte, erkennen und entsprechend handeln. Hat sich ein Mensch dann für ein bestimmtes Produkt entschieden, wird mit der Entscheidungsträgheit des Menschen gespielt. Wenn ein Mensch die Wahl zwischen zwei Optionen hat, wählt er das, was seinem Status quo am nächsten kommt. Also zum Beispiel das Müsli, das er bereits seit Wochen oder Monaten kauft. Oder man hält am bestehenden Handyvertrag fest, obwohl es bereits bessere auf dem Markt gibt. Aber wir werden nicht nur durch die herkömmliche Werbung beeinflusst.

Wer oder was lenkt unsere Entscheidungen noch?
Wir manipulieren uns ständig gegenseitig. Wenn ich eine Person sehe, die auf eine bestimmte Art handelt, habe ich als Beobachter verschiedene Reaktionsmöglichkeiten: Ich kann lächeln, Beifall klatschen, Geld geben, mich abwenden oder verächtlich gucken. Egal wie ich mich verhalte: Jede dieser Reaktionen wird bei der Person, die die Handlung vollzieht, zu einer Reaktion führen. Sie kann als Verstärkung oder als bestrafender Impuls empfunden werden. Menschen können nicht nicht reagieren. Und so lernen wir auch miteinander. Die Frage ist nur, ob jemand dadurch explizit versucht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, oder ob es sich einfach um ein routiniertes Verhalten handelt, eher zu lächeln oder grummelig zu gucken.

Wie sieht es denn beim Tragen eines Nasen-Mund-Schutzes aus? Es gibt immer noch Menschen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Maske tragen oder aber nur den Mund bedecken. Was wäre besser: eine Geldbuße bei Nichttragen oder Aufklärungsplakate, die in den Bussen und Bahnen hängen?
Der Mensch kann durch beides lernen, sowohl durch Belohnung als auch durch Bestrafung. Es geht um den Unterschied zwischen Freiwilligkeit und Zwang. Natürlich passen Menschen ihr Verhalten an, wenn ihnen eine unerwünschte Konsequenz droht. Welchen Weg ein Land geht, in dem eine Maskenpflicht eingeführt werden soll, hängt davon ab, wie dringlich das Thema ist.

Reagieren Menschen eher auf eine Freiwilligkeit oder auf einen Zwang?
Das lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. Das ist wieder die Frage nach dem inneren oder äußeren Anreiz. Generell wollen sich Menschen mit etwas beschäftigen und die intrinsische Motivation ist dabei der etwas angenehmere Weg. Wir lernen auch durch Bestrafung. Nur was wir dann lernen und ob das dann auch auf andere Bereiche angewendet wird, ist fraglich. Beim Plastiktütenverbot war es so, dass man mehr Geld für einen Stoffbeutel ausgeben musste, wenn man seinen eigenen Beutel vergessen hatte. Plastiktüten waren einfach günstiger und deswegen wurden sie auch eher gekauft. Als die Wahl zwischen Plastiktüte und Stoffbeutel wegfiel, mussten die Kunden ihr Verhalten ändern. Die Abweichung hatte gefühlt so starke Konsequenzen, dass sie zu einer Verhaltensänderung führte.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Gewohnheiten und Süchten? Wir verknüpfen schließlich bestimmte Situationen mit Handlungen, wie die Situation eines geselligen Beisammenseins mit dem Konsum von Alkohol.
Je häufiger ein bestimmtes Verhalten angewendet wird, desto mehr löst es sich von der damit verbundenen Konsequenz. Das Suchtverhalten ist dabei ein extremer Pol. Es ist eine Weiterentwicklung dieses Gewohnheitsverhaltens, das zwanghaft geworden ist. Es gibt auch neuronal betrachtet Überschneidungen in der Hirnaktivität zwischen Routinen und Suchtverhalten. Trotz dieser Nähe zur Sucht sind Gewohnheiten jedoch nicht per se schlecht, sie haben einen janusköpfigen Charakter: Sie sind einerseits effizient und grundlegend, um den Alltag zu meistern. Engen sie aber den Alltag rigide ein, sind sie andererseits ein Nachteil. Es ist von Vorteil, wenn man zwischen Flexibilität und gewohnheitsmäßigem Verhalten hin und her wechseln kann.

Welchen Effekt hat Stress auf unsere Verhaltensmuster?
Bei Stress wird diese genannte Flexibilität eingeschränkt. Wir konnten in verschiedenen Studien zeigen, dass Stress gewohnheitsbasiertes Verhalten fördert, zulasten des flexiblen und zielgerichteten Verhaltens. Stress ist mit einer Reduktion der Aktivität im präfrontalen Kortex verbunden. Das zielgerichtete System wird geschwächt, wodurch gewohnheitsbasierte Reaktionsmuster die Kontrolle über unser Verhalten übernehmen.

Wie schaffen Sie es als Wissenschaftler, der Neues erforschen möchte, Ihre eigenen Routinen zu überwinden, um komplexe Denkprozesse in Gang zu bringen?
Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder. Auf Konferenzen oder beim Lesen der Fachliteratur stolpere ich manchmal über bestimmte Befunde, die ich interessant oder bahnbrechend finde und die mein eigenes Denken anstoßen. Das, was ich nicht erwartet hätte, führt dann bei mir zu einem Vorhersagefehler, durch den ich etwas lerne und der mich zu etwas Neuem aufbrechen lässt. Mitunter hilft mir auch der Austausch mit Laien, durch die ich auf bestimmte Fragestellungen stoße, auf die ich nicht gekommen wäre.

© UHH

Zum Gesprächspartner:

Lars Schwabe ist Professor für Kognitionspsychologie an der Universität Hamburg. Er forscht unter anderem zum Einfluss von Stress auf kognitive Prozesse, zum instrumentellen Lernen, zu Erinnerungsprozessen sowie zum Entscheiden und Handeln.

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(c) Stefan Wieland

Hannah Petersohn

Chefredakteurin
Human Resources Manager
Hannah Petersohn war bis Oktober 2020 Chefredakteurin des Magazins Human Resources Manager. Die gebürtige Berlinerin hat Kulturwissenschaften und Philosophie in Berlin und Paris studiert und ihr Volontariat bei der Tageszeitung Weser Kurier in Bremen absolviert.

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