Mythen verklären die Führung

Leadership

Viele Führungskräfte haben faktisch ein Problem. Sie verschenken Chancen, weil sie unbewusst beständig propagierten Führungsmythen folgen. Aus dieser Sackgasse kommen sie nur heraus, wenn sie mutig und authentisch eigene Wege gehen und hier und da Experimente wagen.

Bei Prozessen und Produkten sollen Führungskräfte unternehmerisch, also mit Joseph Schumpeter gesprochen, schöpferisch zerstörend denken. Warum ist es in der Führung eigentlich so schwierig, von populären Überzeugungen und Empfehlungen und in deren Folge dann von eingefahrenen Handlungsmustern abzuweichen? Angesichts der Zahlen und Beispiele, die Kündigungen, Unzufriedenheiten, ausbleibendes Engagement und verpasste Chancen beständig mit einer missglückten oder defizitären Führung in Verbindung bringen, müsste sich eigentlich jede Führungskraft fragen, ob sie oder er noch auf dem richtigen Weg ist oder je war.

Doch dieses Nachdenken benötigt Kraft, weil es sich vom Gewohnten wegbewegt. Das Gewohnte ist das Vertraute und vertraut ist es, weil es einem immer wieder gepredigt wird: „Auf die Führungsperson kommt es an!“ „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand!“ „Wer vorne steht, führt!“ „Wer rational an die Führung herangeht, hat auch in turbulenten Zeiten Erfolg!“ Leider sind dies alles bestenfalls Halbwahrheiten, schlimmstenfalls teure Denkfehler. Aber sie kommen nicht zufällig daher. In ihrer vollen Ausgestaltung sind es Führungsmythen. Als Führungsmythen begreife ich solche geformten Vorstellungen über Führung, die tief in uns verankert sind, gleichwohl höchst fragwürdig hinsichtlich ihres absoluten Wahrheitsanspruchs bleiben. Sie beziehen sich darauf, was Führung ist, warum es sie gibt, wie sie funktioniert und welche Folgen sie zeitigen. Es ist ja geradezu ein Kennzeichen von Mythen, dass sie auf uns eine wie selbstverständliche Wirkkraft ausüben und uns gar nicht als fragwürdige Verklärung, sondern als tatsachennahe Beschreibung in den Sinn kommen. Eine klare Antwort, warum wir sie besitzen und pflegen, gibt der Philosoph Hans Blumenberg. Er sieht den Ursprung von Mythen in der Bewältigung einer psychischen Gefahrenlage. Und Führung ist latent immer gefährlich, für sich und meistens noch mehr für andere.

Reduzieren von Komplexität

Führungsmythen reduzieren durch ihre Fokussierung die Komplexität der Wirklichkeit und vereinfachen den Berufsalltag durch Unterscheidung, Einteilung und Ordnung von Werten, Verhalten oder Ereignissen. Sie bilden so eine Hintergrundfolie, an welcher sich der Einzelne orientieren kann. Er gewinnt an ihnen Halt. Sie verbinden die, die gemeinsam an sie glauben. Führungsmythen versprechen – durch ihren Glauben daran – Gewissheit in einer nicht vermessbaren Welt. Sie umrahmen die Führungspraxis und komprimieren das dort unhinterfragt für wahr Gehaltene in Sachen Führung.

Selbst einzelne wissenschaftliche Führungstheorien folgen ihren Spuren. Führungsmythen haben kein Etikett, auf dem sie ausgewiesen sind – ansonsten wären sie wertlos. Um sie zu enttarnen und über sie zu sprechen muss ihnen erst einmal ein Name gegeben werden.

Der bekannteste unter ihnen ist der Heldenmythos. Er ist in der westlichen Kultur besonders ausgeprägt. Dazu gehört unweigerlich auch die Herausstellung der Person, so wie wir es am medialen Heldenkult der Neuzeit und im unternehmerischen Umfeld sehr schön am Beispiel Steve Jobs studieren dürfen. Mission, Wahnsinn, Sieg, Niederlage, dann die eine Karte, die stechen muss, wieder Sieg, und immer wieder der Apfel, der nun sogar mythisch rehabilitiert worden ist – und am Ende die ganz persönliche Tragik. Die in den Medien kursierenden Geschichten über die (angeblichen) Individualleistungen von gerade in der Wirtschaft gepflegten CEO-Legenden müssen auch in diesem Licht verstanden werden: sich selbst in Szene zu setzen oder von außen in Szene gesetzt zu werden, um diesen Mythos zu bedienen. Wer dem Helden gewogen ist, hat am Erfolg teil, allerdings auch an seinem Scheitern.

Bert Brecht fragte jedoch in seinem berühmten Gedicht des lesenden Arbeiters bereits 1928 ketzerisch: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein?“ Und natürlich erschafft dieser Mythos gleich einen anderen mit, nämlich dass der, der eine Führungsposition hat, auch tatsächlich führt. Dieser Objektivitätsmythos übersieht, dass Führung immer von denjenigen, die geführt werden sollen, zugeschrieben werden muss. Führung an sich gibt es nämlich gar nicht; wo kein Geführter, da kein Führender. Besteht keine freiwillig zuerkannte Akzeptanz, findet lediglich Leitung statt. Das ist der Grund dafür, dass Selbstbild und Fremdbild von formal als Führungskräfte eingestuften Vorgesetzten nicht selten so drastisch auseinanderklaffen.

Ein letzter in der hier unvollständigen Auflistung ist der Geschlechtermythos, der Führung einseitig mit Männlichkeit assoziiert. Er bewirkt, dass identische Leistung unterschiedlich beurteilt wird und bringt weibliche Führungskräfte – empirisch klar belegt – vielfältig ins Hintertreffen, trotz zahlloser Erfolge weiblicher Führungskräfte.

Dynamische Beziehung

Aber ist nicht alles gut, wie es ist? Gut ist dies nur, wenn alles so bleiben soll wie bisher: Wenn 50 Prozent der Führungspotenziale für wichtige Führungspositionen kaum eine Rolle spielen sollen, wenn Führungskräfte meinen, allein kraft Amt oder Position und nicht aus fortwährend errungener Akzeptanz führen zu können und wenn Einzelne auf das Schild gehoben werden, obwohl die, die das Schild halten, im Dunkeln stehen – wehe, wenn sie loslassen. Führung anders denken heißt im Kern zunächst, Führung als einen dynamischen Beziehungsprozess zu verstehen, der mündigen Individuen das beidseitige Recht zur Entwicklung und Ausgestaltung dieser Beziehung zuerkennt. Anderenfalls bleibt es bei einer schlichten Leitungsbeziehung.

Eine fruchtbare Führungsbeziehung ist immer ein gemeinsames Werden und nie ein fertiges Sein. Wenn das so gesehen wird, bleiben alle gedanklich in Bewegung – nicht nur eine Person geht voran. Eventuell besteht am Ende gar die Chance auf das unteilbare „Wir“ und den Willen, gemeinsam weiterzugehen, anders und womöglich besser als bisher, weil ansonsten beispielsweise eine elitäre Abkopplung Varietät in Wissen und von Perspektiven verschenkt, dabei moralisch fragwürdig bleibt. Schöne Worte? Dabei muss es nicht bleiben, wenn Sie für den Unterschied bereit sind. Wagen Sie eine aufgeklärte Führung jenseits ihrer mythischen Verschleierung.

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Jürgen Weibler

Professor für Betriebswirtschaftslehre

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