Probleme des Wachstums

Recruiting

Kreatives Chaos erwünscht, professionelle Strukturen zweitrangig: So starten viele Gründer ihr Unternehmen. Entwickelt sich aus der Idee aber ein Erfolgsmodell, stehen sie vor einer Herausforderung – dem Wandel.

Ob Unternehmensgründer oder Mitarbeiter – sie alle schätzen ihn, den Spirit in einem Startup. Das Gefühl etwas bewegen zu können, gemeinsam. Teil von einem großen Ganzen zu sein. Gründer bei ihrer Vision zu begleiten. Sich mit Geist und Seele für eine Idee einzubringen. Das Unternehmen auf dem Weg an die Spitze zu begleiten. Sich kreativ auszuleben anstatt sich in Standardprozessen zu verlieren.

Das wirklich Spannende an der Arbeit in einem jungen Unternehmen ist, dass es wenig festgefahrene Strukturen gibt und ein agiles Handeln möglich ist, findet Paula Müller, Senior Human Resources Managerin bei der Affinitas GmbH. Das Unternehmen betreibt seit 2008 die Partnerbörse eDarling und ist kontinuierlich gewachsen. Im Gründungsjahr zählten zum Team rund 20 Mitarbeiter. Aktuell sind es ungefähr 300 Mitarbeiter aus über 30 Nationen, die für 26 Märkte arbeiten. Den größten Mitarbeiterzuwachs hatte die Affinitas im Jahr 2010. Der Grund: die schnelle Internationalisierung des Geschäftsmodells. Heute ist das Unternehmen, was die Mitarbeiterzahl angeht, auf einem relativ stabilen Niveau.

Personalbedarfe bewältigen

Die Arbeit im Unternehmen hat sich auf dem Weg vom Startup zu einer erfolgreichen Partnerbörse durchaus verändert. „Wir entdecken ständig neue Herausforderungen, mit denen wir schnell wachsen und lernen können. Zu Beginn unserer Tätigkeit hatte vor allem die Administration sowie das Recruiting Priorität. Das ist zwar heute auch noch wichtig, aber wir können jetzt zusätzlich die HR-Arbeit strategischer planen und feste Prozesse einführen“, sagt Müller. In der Vergangenheit sei die größte Schwierigkeit im Bereich Recruiting gewesen, sehr schnell sehr gutes Personal zu finden. Das betreffe insbesondere Mitarbeiter für den Bereich IT, aber beispielsweise auch Muttersprachler aus den Ländern Australien und Neuseeland. „Hier müssen wir immer wieder andere Wege suchen, um gute Mitarbeiter zu finden und an unsere Firma zu binden.“

Im Januar 2015 hat die Affinitas einen standardisierten Interview-Prozess eingeführt. Es gibt jetzt einen festen Ablauf und vorgegebene Fragen an die Bewerber hinsichtlich der Unternehmenswerte. Und: Jeder Interviewer füllt einen Bewertungsbogen aus, der helfen soll, Bewerber richtig einzuschätzen. Auch Bewerber haben die Möglichkeit, ihre Meinung zum Prozess mitzuteilen. „Darüber hinaus nähern wir uns gerade dem Thema Zielvereinbarungen. Wichtig ist uns, dass Mitarbeiter die Abläufe und Regeln zum Beispiel für Gehaltserhöhungen kennen. Dies erleichtert uns zum einen die HR-Arbeit und wird zum anderen von Mitarbeitern als gerechter wahrgenommen“, sagt Müller. Darüber hinaus befindet sich gerade die elektronische Personalakte sowie ein automatischer Feedbackprozess in der Entwicklung.

Bei einem rasanten Unternehmenswachstum immer geeignete Mitarbeiter zu finden, das sieht auch Matthias Mittelsten Scheid, Head of Human Resources Central and Eastern Europe bei Groupon, als eine der großen Herausforderungen an. Das US-amerikanische Unternehmen bietet Rabatt-Angebote im Internet an. Seit der Übernahme von CityDeals im Jahr 2010 rollte Groupon sein Geschäftsmodell auch in Europa aus. Alleine im Headquarter in Berlin, zuständig für die DACH-Region, hat sich die Mitarbeiterzahl in den Jahren 2011 auf 2012 mehr als verdoppelt – von 450 auf über 1.000. Für Mittelsten Scheid keine leichte Aufgabe: „Zum Zeitpunkt unseres starken Wachstums war unsere Arbeitgebermarke noch nicht sehr bekannt. Deshalb mussten wir damals für gutes Personal sehr kämpfen.“

Prozesse einführen

Mittlerweile hat Groupon seinen Recruiting-Prozess professionalisiert. Früher übernahm, wie in jedem Startup, der Geschäftsführer die Einstellungen. Oftmals verhalfen Vitamin B sowie ein paar Gespräche zwischen Tür und Angel zu einem Arbeitsvertrag, sagt Mittelsten Scheid. „Die Personalauswahl erfolgt heute meistens standardisiert. Es gibt die klassische Bewerbung des Kandidaten, darauf folgt ein Telefoninterview und ein persönliches Interview mit einem Recruiter. Im Bereich Vertrieb veranstalten wir zudem einen Interviewtag mit drei verschiedenen Gesprächspartnern, beispielsweise Abteilungsleiter, Recruiter und Teamlead. Bei Bedarf erfolgt noch ein drittes, letztes Gespräch.“ Darüber hinaus setzt Groupon „Bar Raiser“ als HR-Instrument ein. Hierbei handelt es sich um Mitarbeiter, in der Regel Recruiting-Spezialisten, die ein Vetorecht bei jeder Einstellung haben. So möchte das Unternehmen verhindern, nicht passende Kandidaten an Bord zu holen.

„Nach dem Aufbau unserer HR-Abteilung im Jahr 2011 haben wir, neben dem Recruiting, auch weitere Prozesse optimiert – beispielsweise die Schulung von Mitarbeitern und Führungskräften. Seit 2013 verfügen wir über ein Performance-Management-System, das sowohl Selbst- als auch Vorgesetztenevaluation sowie Zielvereinbarungen beinhaltet“, so Mittelsten Scheid. Doch der Wandel im Unternehmen bleibt: Das „agile Management“ gewinne besonders in der E-Commerce-Branche substanziell an Bedeutung, wodurch ein Anpassungsbedarf auch im HR entstehe. Durch die Umstellung vom klassischen Linienmanagement zur Projektarbeit in Form von beispielsweise Scrum-Teams, wisse der Projektleiter über den Mitarbeiter oftmals mehr als die eigentliche Führungskraft. Dies erfordere nicht nur eine Umstellung der HR-Prozesse und der Kommunikation, sondern teilweise auch der räumlichen Organisation.

Strukturen einführen, aber ohne großes Regelwerk, um die Frische eines Startups nicht zu verlieren, das ist Frauke von Polier, Vice President People & Organisation bei Zalando, besonders wichtig. „Auch wenn sich Zalando mit über 7.000 Mitarbeitern mittlerweile zu einem Grownup entwickelt hat, möchten wir weiterhin an Freiheit gewinnen und eine frische Denke bei den Mitarbeitern fördern. Was Strukturen und Prozesse angeht, stellen wir uns daher oft die Frage: Wo professionalisiert man, wo lässt man das Chaos zu?“

An manchen Stellen habe Zalando jedoch einmal zu oft versucht, zu strukturieren und wieder umzuorganisieren, räumt von Polier ein. Dies gebe dem Mitarbeiter wenig Stabilität und führe unter Umständen dazu, dass der eine oder andere das Unternehmen verlassen hat. „Daraus haben wir gelernt und überprüfen derzeit, wo wir Strukturen wieder lösen oder lockern können“, so von Polier weiter.

Erwartet wird ein offener Dialog

Im Gründungsjahr 2008 beschäftigte Zalando rund 40 Mitarbeiter. In den darauf folgenden Jahren erfolgten zahlreiche Neueinstellungen – in Spitzenzeiten bis zu 500 Mitarbeiter monatlich. Die klassischen HR-Prozesse wie Recruiting und Personalauswahl hat das Unternehmen währenddessen professionalisiert. Seit Ende 2011 verfügt die Abteilung People & Organisation beispielsweise über ein Team von sieben Mitarbeitern, die aktiv in Netzwerken nach geeigneten Kandidaten suchen – und das mit großem Erfolg. Darüber hinaus gibt es inzwischen einen Budget- und Personalplanungsprozess. Die Idee dabei: mehr Freiraum für die Führungskraft. „Budgetplanung muss Entscheidungsspielraum beinhalten und Flexibilität geben. Die Tools haben wir pro Bereich angepasst, um dem gerecht zu werden“, sagt von Polier. So viele Prozesse Zalando bei dem schnellen Wachstum auch optimiert hat: Die Kernbereiche Logistik, Marketing und Einkauf funktionierten vom ersten Tag an. „Es musste immer sichergestellt sein, dass der Kunde sein Paket bekommt.“

Eine weitere große Hürde des schnellen Wachstums: Die Nähe zwischen Unternehmensführung und Mitarbeiter beizubehalten. Was in Startups selbstverständlich ist, kann bei einem 7.000 Mitarbeiter starken Unternehmen schnell verloren gehen. Um die Nahbarkeit zu den Vorständen weiterhin zu ermöglichen, bietet Zalando verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten an. Anstelle von persönlicher Nähe, wie zu Gründungszeiten, gibt es regelmäßige Webcasts, die Möglichkeit, über ein Tool direkt Fragen an den Vorstand zu stellen, ein interaktives Intranet und Aufrufe zu Workshops. „Das Schöne daran: Niemand scheut sich, etwas zu fragen oder zu sagen. Das Durchschnittsalter unserer Belegschaft liegt bei 29 Jahren. Sie erwartet einen offenen Dialog. Mitreden können, das leben wir und möchten es,“ sagt von Polier. Darüber hinaus hole das Unternehmen regelmäßig Feedback bei Mitarbeitern ein – teils persönlich, teils per Umfrage. „Die Meinung der Mitarbeiter ist uns sehr wichtig, auch wenn es um Systeme, Prozesse und Organisationsstrukturen geht.“ Nur so könne Zalando Abläufe testen und optimieren.

Personalarbeit frühzeitig aufbauen

Wichtig auf dem Weg vom Startup zum Großbetrieb: rechtzeitig in eine Personalsoftware investieren. „Das erspart den HR-Verantwortlichen viel Zeit, die stattdessen in Personalentwicklung, Direct Search, strategische Personalplanung und Organisation von Prozessen investiert werden kann“, sagt HR-Managerin Müller. Das sieht auch Mittelsten Scheid ähnlich: „Junge Unternehmen sollten gleich mit passender Software starten. Der Grund: Eine strukturierte Administration ist von Anfang an sehr wichtig.“ Er rät ebenfalls dazu, Prozesse parallel und kontrolliert zum Unternehmenswachstum aufzubauen. Und: „Mitarbeiter dürfen nicht erst eine Relevanz bekommen, wenn es über 100 sind. Schon ab dem ersten Mitarbeiter müssen die Grundbedürfnisse wie Respekt, Motivation sowie ein faires und regelmäßiges Feedback von Beginn an erfüllt sein.“

Nach Meinung von Müller sollten Startups auch anfangs auf eine gute Besetzung in der HR-Abteilung achten. Sie ist sich sicher: „Nur so kann ein optimaler Start gelingen. Verantwortliche können sich sofort Gedanken über Strukturen und Unternehmenswerte machen. Diese im Nachhinein einzuführen, kostet Kraft und wirkt aufgesetzter, als wenn sie von Beginn an existieren.“ Personalverantwortliche von Polier hält den rechtzeitigen Aufbau einer Unternehmenskultur ebenfalls für wichtig. Dafür müsse man schon ab etwa 20 bis 30 Mitarbeitern einen guten Personaler holen, nicht erst, wenn das Unternehmen groß ist.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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