Meltdown am Main

Mental Break(down)

Ich laufe fröstelnd durch das Frankfurter Bankenviertel. Es ist spät abends, aber hier draußen sind immer noch einzelne Menschen unterwegs, die den Krankenwagen rufen könnten. Es sind nur noch etwa 700 Meter. Tiefe Atemzüge in der kalten Luft, das beruhigt. Das Gefühl in meinem Brustkorb ist nur ein imaginärer Kloß, das weiß ich genau. Weiter, nicht stehen bleiben, weiter – es wird nichts passieren… Ich muss doch morgen diese verdammte Präsentation halten?! Nur noch 400 Meter. „Mein Herz läuft Marathon“ – wie in einer schlechten Coverversion von Helene Fischers Schlagerhit. Mein Herz beginnt zu stechen. Das war’s heute jetzt wirklich! Neben dem Main beginnt endlich die rettende Straße: „Notaufnahme des Frankfurter Uni-Klinikums“ leuchtet mir in grellen Lettern entgegen. Ein Rettungssanitäter steht rauchend vor der Einfahrt und fragt mich, was ich wolle. Ich kann kaum reden, meine Zähne klappern. Aber ich weiß: Ich habe überlebt.

So oder so ähnlich sah der innere Monolog in meinem Kopf bei einer intensiven Panikattacke im Jahr 2015 aus. Nach meiner Dissertation hatte ich in Frankfurt bei einem Finanzdienstleistungsunternehmen eine Stelle als Kommunikationsleiterin angetreten, bis ich irgendwann mit einer Kombination aus Burnout und Panikstörung das Handtuch schmiss. Mental Melt-down und Segen zugleich – sonst hätte ich wohl nie mein eigenes Unternehmen aufgebaut.

In Frankfurt war ich nicht allein: Die Anzahl der Menschen, die aufgrund psychischer Erkrankungen als arbeitsunfähig galten, ist laut der AOK von 2009 bis 2019 um über 30 Prozent gestiegen, die Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage um über 50 Prozent. Das heißt, die Fälle psychischer „Erkrankungen“ – nennen wir es erstmal so – werden mehr und heftiger mit drastischen Auswirkungen für die Betroffenen, aber auch für ihr berufliches Umfeld.

In den letzten Jahren haben zwar immer mehr Menschen & Führungskräfte ihre Diagnosen im Bereich „Psyche“ öffentlich gemacht – ich erinnere Miriam Meckels Burnout, Simone Biles mental issues bei Olympia und neuerdings Carsten Maschmeyers Depressions-Geständnis. Viele andere Spielarten der psychischen Verfassung, die weniger extrem und einschneidend sind, bleiben im Business jedoch brav unter dem Teppich. Auch ich habe mich nicht getraut, über meine Erlebnisse zu sprechen, bis ich 2018 bei einer Fuck-up Night in Mannheim auftrat, einem Event, das Geschichten vom (vermeintlichen) Scheitern eine Bühne gibt.

Die Angst vor dem Image-Verlust

Solche „Coming-outs“ sind jedoch enorm wichtig, denn jedes Jahr sind circa ein Drittel der deutschen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen – und diese machen vor dem Werkstor oder der Kaffeeküche nicht Halt. Zu den häufigsten Vorkommnissen zählen Angststörungen, gefolgt von Alkohol-/Tablettensucht und Depressionen. Nur jede:r dritte Betroffene in Deutschland nutzt dabei den Zugang zu ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung, vor allem aus Angst, das eigene Image zu beschädigen, von anderen abgewertet zu werden oder gar den Arbeitsplatz zu verlieren.

Daraus folgt, dass viele Menschen das Thema nicht beruflich ansprechen und Dinge sich chronifizieren oder gar krisenhaft zuspitzen. Meine Schweißausbrüche im Büro kamen schleichend, dann nahmen die Ibuprofen-Schachteln zu, bis ich fast jeden Abend noch ein Gläschen Wein trinken ging, damit alles leichter zu ertragen war. Natürlich redete ich mit niemandem offen darüber – Tablette rein, Kostüm an!

Überlastung, Entfremdung und Krankheitsängste, so scheint es mir, googlen wir in Deutschland lieber, anstatt sie mit unserer Führungskraft oder bei HR anzusprechen. Unternehmen wie SAP, die eigene Psycholog:innen für ihre Beschäftigen bereitstellen, sind eine Seltenheit. Informelle Beratungsstellen laufen dagegen über. In Frankreich gilt die Psychoanalyse seit Jahren schon als persönlichkeitsbildend, hierzulande berichten mir viele unserer Kundinnen, das Coaching oder die „Psycho-Einheit“ lieber privat zu zahlen, damit der Arbeitgeber bloß nichts mitbekommt. Das ist nicht nur traurig, sondern auch fahrlässig.

Bei genauerer Betrachtung kennt jede:r den Mini-Melt-down nämlich irgendwie. Stressige Tage, Trübsal und Mutlosigkeit sind niemandem fremd, ebenso wenig wie Stimmungsschwankungen oder Ängste um Familie, Geld oder die Zukunft. Wir haben fast alle schon einmal Erscheinungsformen psychischer Extreme bei uns selbst wahrgenommen – nur bleiben wir meist nicht an ihnen haften. Es sind flüchtige Momente im Alltag, die wir im Verborgenen halten. Über die eigenen psychischen Belastungen ehrlich und offen zu reden, fällt dagegen fast allen Menschen abseits des generischen BGM-Bullshit-Bingos schwer – HR-Expert:innen nicht ausgenommen.

Unausgesprochene Fragen und Tabus

Vielleicht wollen wir auch manchmal im Berufsalltag gar nicht so unbedingt wissen, wo der Bereich einer Veränderung beginnt, die pathologische Züge trägt. Die Übergänge sind fließend: Ist der Kollege von nebenan nur ein fanatischer Sportler oder verdeckt er mit seiner Triathlon-Ambition etwas? Ist die Kollegin ernährungsinteressiert oder magersüchtig? Was bedeutet das? Ab wann muss etwas ernst(er) genommen werden, wann gilt es als unbedenklich? Was ist „psychische Krankheit“ und was „psychische Gesundheit“? Zu schnell dienen solche Begriffe der Bewertung und Ausgrenzung des „Andersartigen“, auch wenn natürlich klar ist, dass gerade in ausgeprägten Fällen ein Begriff der „Krankheit“ wichtig ist, um Krankschreibungen und Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen.

Das Thema Psyche und Arbeitswelt ist ein Gebiet mit so vielen Fragezeichen, unausgesprochenen Fragen und Tabus, dass ich mich sogar während des Schreibens selbst fragen muss, was ich dem Human Resources Manager zumuten kann/darf beziehungsweise ab wann ich von Lesenden als nicht mehr „normal“/entrückt/ver-rückt erklärt werde.

Dem werde ich versuchen, in dieser Kolumne künftig auf den Grund zu gehen. Als langjährig Betroffene, Unternehmerin und Beraterin möchte ich über das schreiben, was normalerweise nicht gesagt wird – was aber alle Führungskräfte wissen sollten. Denn: Die mentale Konstitution steuert unser (Mit-)Arbeiten mehr als jede Prozessoptimierung oder Change-Initiative! Daher ist es für erfolgreiches Arbeiten und Führen unabdingbar, mehr über die menschliche Psyche zu wissen, am besten auch über die eigene!

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Simone Burel, Geschäftsführerin der LUB GmbH - Linguistische Unternehmensberatung

Simone Burel

Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB – Linguistische Unternehmensberatung, promovierte Sprachwissenschaftlerin und (Fachbuch-)Autorin. Ihre Arbeiten zu Sprache, Gender Diversity & Unternehmenskommunikation wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit der neuen Marke Diversity Company spezialisieren Burel und ihr Team sich auf einen neuen Schwerpunkt: Diversität in all ihren Dimensionen – neben den sechs klassischen Diversity-Dimensionen beschäftigen sie sich mit den unsichtbaren Faktoren soziale Herkunft und mentale Diversität. Das Thema Mental Health beschäftigt sie intern als Führungskräfte wie auch extern bei Kundinnen und Kunden

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